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Keim der Erkenntnis
Grün! Endlich Frühling! In meinem Bauch kribbelt es und mein Geruchsinn nimmt frisches Gras wahr. Die Winterzeit mit klirrender Kälte und nebelgrauer Nässe ist überstanden. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Glücksgefühle umtosen mich. Ich wünschte, dieser Zustand würde ewig andauern.
Kann es überhaupt unendliches Glück geben? Nein! Für Menschen nicht und für Frauen erst recht nicht. Ich sehe an mir herab und da ist es auch schon, das, was meinen Rausch brutal beendet, das Unsägliche. Meine Stirn wirft sich in Falten. Ich versuche, das Glücksgefühl Frühling nochmals zu erhaschen. Doch es ist vorbei. Ich kenne mein Problem genau, es ist sogar noch größer geworden in letzter Zeit. Unaussprechliche Not kriecht in mir hoch, als ich genauer hinsehe. Da ist es: mein Hüftgold!
All jene Leckereien, die sich zwischen Weihnachten und Neujahr angesammelt haben, tummeln sich an Hüfte, Bauch und Po. Gänsekeule, Marzipan und Honigmandeln. Frauenfeindliches Zeug. Die Hose kneift, als wollte sie mich an etwas erinnern. Nun gut, ich möchte nicht die gemütlichen Fernsehabende im Januar unter der Kuscheldecke mit Knabberteller und einem Gläschen Wein vergessen. Und das warme Brot mit Griebenschmalz, das meinen Gaumen kitzelte. Während mein Mann all diese Sünden straflos genießen kann und kein Gramm zunimmt, bin ich bald das Dickerchen an seiner Seite. „Guck mal“, werden die Nachbarn sich zuraunen, „siehst du den dünnen Mann mit der dicken Frau? Vermutlich seine Mutter.“
Jetzt ist es passiert: Ich fühle mich schlecht, die Frühlingsgefühle sind vollends verpufft. Ein anderes, gesünderes Leben muss her. Eines ohne Schlemmereien und ohne Kaskadenwülste an meinem Körper. Schluss mit nächtlichen Kühlschrankraubzügen und Gummibärchen kurz nach dem Aufstehen! Ich muss meine Lebenseinstellung ändern, meine Essgewohnheiten langfristig verbessern und schon werde ich wieder die schlanke Gattin am Arm des nicht minder schlanken Herrn mit grauen Schläfen sein. Essgewohnheiten langfristig verbessern? Langfristig. Welch ein Unwort. Ich will doch schnell wieder schlank sein, am liebsten schon gestern.
Meinen Mann Andreas quäle ich schon seit Tagen mit diesem selbstzerstörerischen Gedankengut. Kohlsuppendiät, Pulverdrinks, Reistage zur Entwässerung und Essen nach Punkten. Klare Ansage von ihm: Er tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und brummt so etwas wie „Weiber“. Andreas ist nämlich Hobbykoch. Seine leckeren Speisen gegen Kohlsuppe aus der Tüte zu tauschen wäre für ihn eine glatte Ohrfeige. Soll ich etwa die mehrfach reduzierte Sauce zum Rinderfilet in Punkte einsortieren und nach zwei Tröpfchen dieses köstlichen dunkelbraunen Nasses dankend abwinken? Kaum drei Stunden stünde er in der Küche, um das sensationelle Essen zu präsentieren. Nähme ich nur homöopathische Dosen zu mir, wäre der Ehekrach vorprogrammiert. Aus mit Punktezählerei. Aus mit Ehemann.
Dagegen die Pulverdrinks: Staubige Mahlzeiten anrühren. Eine schleimig-sämige Masse würde in meinem Bauch größer und größer werden, sich zu einem Brei mit dem Magensaft verbinden und mich ein für alle Mal sättigen. Allein der Gedanke daran macht mich schon satt.
Ich glaube, es ist sicher das Gesündeste, langsam abzunehmen, mit Verstand. Hier einen Salat, dort ein Mineralwasser. Langfristig Salat und Wasser, das klingt so verlockend wie bei Wasser und trockenem Brot zu bereuen. Aber ich will schließlich attraktiv für meinen Mann sein und bin gern bereit, dafür Opfer zu bringen. Schon heute werde ich energisch gegen meine Essorgien vorgehen.
Andreas sagt oft, er liebe jedes Gramm an mir. Und ich hasse diese Floskel. Ich hasse sie einfach. Sieht er denn nicht die mitleidig-gehässigen Blicke der Nachbarn?
„Grüßen sie ihre Mutter recht herzlich von uns.“ Ich weiß, was sie, versteckt hinter ihren weißen Spitzengardinen, über mich denken.
„Dicke,“ ruft Andreas von unten hoch, „Essen ist fertig!“
Dicke. Auch das noch. Seufzend trotte ich die Treppe hinunter. Würziger Duft dringt mir tief in die Nase. Er hat mein Lieblingsgericht gekocht. Oh Gott, wie gemein!
Gulasch mit Knödeln. In meinem Mund bilden sich Flüssigkeiten, ich schlucke.
„Gulasch mit Knödeln“, raunt mir eine innere Stimme zu, „ist ein Verbrechen an der weiblichen Menschheit.“
Ich setze mich an den liebevoll eingedeckten Tisch. Es ist eigentlich eine unendliche Gnade, einen Hobbykoch zum Ehemann zu haben. Warm umströmen mich betörende Essensgerüche. Ich schließe die Augen. Eine schmackhafte Mahlzeit ist wie Frühling auf dem Teller. Vielleicht sollte ich noch nicht heute mit dem Kasteien anfangen. Man darf so ein köstliches Essen doch nicht umkommen lassen.
Andreas dreht sich zu mir um, strahlt und hat einen Teller mit zwei prallen Semmelknödeln, saftigen Gulaschstückchen und einer angemessenen Menge dunkler Sauce in der Hand. Erwartungsvoll steigt meine Stimmung. Was genau ist eigentlich eine Kohlsuppendiät? Pulverdrink, wie schreibt man das?
Meine Augen werden größer. Doch mein lächelnder Mann stellt den Teller auf seiner Seite ab. Er will mich auf die Folter spannen, der Schlingel. Jetzt befüllt er den zweiten Teller, meinen! Aber viel zu schnell und zu freudig dreht er sich um. Verwirrt starre ich auf den Teller.
Mit einem ‚klack’ stellt Andreas ihn ab. Ich fokussiere das Mittagsmahl. Das darf doch nicht wahr sein! Ich schaue meinen Mann an, der grinst zurück.
„Wollest du doch, oder?“
Meine Ader an der Schläfe pulsiert. Ich kann das nicht glauben. Es überwiegt die Farbe grün. Welch eine Unfarbe. Salat! Ich hasse Salat mit Keimen und Sprossen! Nach nichts schmeckende Botanik. Im Garten, an Bäumen, im Frühling lasse ich mir die Farbe gefallen, kann sie sogar genießen. Aber nicht auf dem Teller, wenn die Welt nach Gulasch duftet.
„Ich will dir doch nur helfen, mein Schatz,“ entgleitet es Andreas niederträchtig. Ich hoffe, dass mir das Messer nicht gleich entgleitet. Meine Laune sinkt schlagartig auf den Tiefstpunkt. Nun, eigentlich wollte ich doch fasten mit Salat. Mein Magen sabotiert den Vorsatz und röhrt. Er hat das Gulasch im Blick. Ich starre erst auf den Knödelteller, dann auf mein Grün. Wäge ab. Kämpfe mit dem Stolz.
Andreas schaut hoch, schwingt das Messer. Ganz kurz sehe ich auf des Messers Klinge eine dicke Frau, die Mann und Messer angiert.
Er zerteilt vorsichtig einen Kloß und führt das in die Sauce getunkte Stückchen langsam zum Mund. Ich falle gleich um. Nein, zur Heldin bin ich nicht geboren und schiebe den Stolz beiseite. Den Teller ebenfalls.
„Ist für mich auch noch ein bisschen Gulasch da?“ Ich schaue meinen Mann mit Dackelblick an.
Er lächelt und streichelt meine Wange.
„Sieh mal, Schatz: Wer nicht zufrieden ist mit dem, was er hat, der wäre auch nicht zufrieden mit dem, was er haben möchte.“
Ich mag es, wenn der Mann mit den grauen Schläfen weise Dinge erzählt und mich dabei streichelt. Und ich lasse es mir schmecken, das Gulasch. Genusssüchtig schließe ich beim ersten Bissen die Augen. Unendliche Zufriedenheit kann so lecker schmecken ...