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Kein Elch in Sicht
„Du, kann ich die Jacke?“ In Kerstins Alter reißt man die Fragen nur an, besonders dann, wenn die Frage im Grunde eine Bitte ist. „Kann ich mal den Zucker“, „Kann ich heute Abend länger“. Diese ewigen verblosen Sätze, denkt Frauke gereizt. Als ob sie die Syntax möglichst lang in der Schwebe halten wollte, um ein „Nein“ im Keim zu ersticken. Seufzend schaut sie ihre Tochter an, die, mit einer abgeschabten und viel zu großen Lederjoppe bekleidet, in der Tür steht. „Du hast nichts zu suchen an meinem Kleiderschrank!“, sagt sie lahm. Wo hatte Kerstin das Ding nur rausgekramt?
Die Jacke!
Plötzlich ist alles wieder da. „Zieh das sofort aus! Und geh in dein Zimmer!“ Sie erschrickt über die Härte in ihrer Stimme. Kerstin reagiert prompt und wie immer auf das Signal: Sie schreit „Ich hasse dich!“, knallt ihr erst die Jacke vor die Füße und dann die Tür hinter sich zu. Frauke setzt sich. Sie spürt die Anspannung ihres Körpers und unterm Rippenbogen den vertrauten heißen Schreck.
Eine einzige Nacht, nur eine einzige. Unwillkürlich fröstelt Frauke und zieht die Ärmel ihres Pullovers über die Handgelenke. Hatte sie das damals auch getan? Bestimmt. Jener Spätsommer war träge und voller Sonne gewesen, doch die Nächte rochen bereits nach Frost. Die Kälte in jener Nacht. Sie hatte ihn geliebt, mit all der wuchtigen Sehnsucht, zu der nur ein Teenager fähig war. Die Nachmittage, in denen sie seine Nähe gesucht hatte. Immer hingen sie zusammen, sie, er, ihre Freundin Karo und Sammy, Fred und wiehießerdochgleich Paul oder Max. Was aus Karo wohl geworden ist?
Von oben dröhnt laute Musik. „Ich sollte es ihr sagen“. So lange hatte Frauke nicht mehr daran gedacht. Und jetzt Kerstin, unsicher und bis an den Rand gefüllt mit ungezielter Wut. Genau wie sie damals. Sie gießt sich ein Glas Wein ein und lehnt sich im Sessel zurück. Schließt die Augen, macht einige tiefe Atemzüge zur Beruhigung, so wie sie es im Yoga gelernt hat. Diese kalte Nacht. Der halbe Mond über dem dunklen Waldrand. Und der Geruch von Schießpulver.
Der Elch.
Alle redeten von dem Elch, seit Onkel Bernie das Tier fast erwischt hätte. Bernie schoss auf alles, was ihm vor die Büchse kam. Er war im Jagdverein und durfte ein Gewehr besitzen. Wahrscheinlich hatte man es ihm nur deshalb nicht weggenommen, weil er nie etwas traf. Und weil sein Schwager bei der Polizei war. Onkel Bernie mit der Büchse, die Andy ihm geklaut hatte in jener Nacht. Armer Bernie. Hat sich zu Tode gesoffen, danach.
Andy. Andreas. Bernies Sohn. DER Andy. Er sah so cool aus in seiner abgewetzten Lederjacke, die halblangen Haare hingen ihm über die Augen, die er meist zusammenkniff wie ein Indianer. Er redete nicht viel. „Meine Güte“, denkt Frauke, „war ich verknallt“. Man kann so viel hören, wenn einer nichts sagt. Zwischen den Zeilen ist Platz für die Nöte einer ganzen Seele - all das Unerfüllte, Bittere, Zarte und Beängstigende, was einen in diesem Alter bewegt und doch vage bleibt. Die Phantome, die zurückweichen, je näher man ihnen kommt im Leben und die nur greifbar werden, wenn man sie nicht sucht. „Der schöne Andy“, denkt Frauke. Wann in ihrer Erinnerung war aus Andy, DEM Andy, der „schöne“ Andy geworden?
Frauke steht auf, nimmt ihr Glas, greift auch die Flasche noch. „Ich werde es ihr erzählen“, denkt sie. Hält kurz inne, öffnet dann entschlossen die Tür.
+++
Nacht. Wald. Ein Hochstand. Darin ein Junge und ein Mädchen. Und ein Gewehr. „Kein Elch in Sicht“, sagt der Junge und schnieft. Das Mädchen neben ihm zieht die Arme ihres Pullovers herunter. Sie fröstelt.
Vielleicht hatte er sogar angeboten, sie nach Hause zu bringen. Frauke weiß es nicht mehr. Wenn ja, hat sie sicher erschrocken abgelehnt. Er jedenfalls hatte lange geschwiegen, dachte wohl an anderes. Zog an seiner Zigarette und spähte in die Nacht. Sie erinnert sich an sein Profil. Wie eng sie auf der schmalen Holzbank nebeneinander gesessen hatten. Und doch so weit entfernt. Fünf Zentimeter vielleicht oder drei, ihre Beine berührten sich fast. Ein Abgrund aus Holz dazwischen. Eine ganze Welt.
„Ich war enttäuscht. Verstehst du. Ich hatte darauf gewartet, dass er sich zu mir beugt und mich küsst. Deshalb war ich überhaupt nur mitgekommen.“ Fraukes Blicke suchen die ihrer Tochter. Doch Kerstin hat sich zusammengekrümmt, die Knie angezogen, das Gesicht lauschend darauf gelegt.
„Da!“ Der Junge wirft entschlossen seine Kippe auf den Boden und beugt sich nach vorn. Packt das Gewehr, legt an und zielt in die Dunkelheit. Ein Knacken ertönt, als er den Sicherheitshebel umlegt. Doch dann lässt er die Waffe wieder sinken und stellt sie vorsichtig ab. „Scheiße. Bloß so ‘n blödes Reh.“ Unsicher erhebt er sich, steigt über die Bank. Das Mädchen tritt unauffällig die Kippe aus, die noch in der Dunkelheit glüht. Dreht sich um, ob er sie beobachtet, und sieht ihn im Eingang stehen, breitbeinig mit dem Rücken zu ihr. Erst als sie das Geräusch hört, begreift sie, dass er pinkelt.
Onkel Bernie und Andy. „Der große Knaller und der große Schweiger“. Frauke lacht verächtlich. „In diesem Augenblick zerriss die Verklärung, mit der ich die ihn umkleidet hatte.“ Sie nimmt einen Schluck Wein. „Denn eigentlich war er nur grob und unsicher.“ Kerstin wendet den Kopf: „Da bist du gegangen“, stellt sie fest. Mit Verwunderung registriert Frauke ihre ruhige Selbstverständlichkeit. „Nein“, erwidert sie.
Sie war geblieben. Die letzte Gelegenheit, den Lauf der Dinge zu ändern. Sie hatte sie verpasst. Da war die Kälte, der weite Weg nach Hause, die Nacht. Da war die Enttäuschung, die sie nicht wahrhaben wollte. Da waren die anderen, die gepfiffen und gejohlt hatten und Karo, die so neidisch geguckt hatte. Da waren ihr Stolz und die Genugtuung. „Nein, ich bin einfach sitzen geblieben.“
Neben ihr klettert er über die schmale Holzbank zurück. „Na, hasten Elch gesehen?“ und dann: „Frierst du?“ Als sie nickt, legt er ihr seine Jacke um. Seine kalte Hand in der nackten Beuge zwischen Hals und Schulter. Sie erschauert: „Lass das!“ Doch die Hand kriecht tiefer, bis in ihren Ausschnitt. „Komm schon Baby“
Er rutscht näher. Fünf Zentimeter. Sechs. Sein Mund dicht an ihrem Ohr, versucht er ungeschickt, sie zu küssen. Der Geruch nach Zigarettenrauch ekelt sie an. „Hör auf!“ Er fasst ihr hart an die Brust. „Was mach ich nur“, denkt sie. Und: „Wie komm ich hier wieder raus?“
Und steht plötzlich. „Hey!“, schreit sie laut. Dann streckt sie den Arm Richtung Wald: „Der Elch! Da ist er!“ „Scheiße!“ - auch er fährt hoch, greift nach der Waffe. Etwas kracht: die Bank! Sie spürt, wie er das Gleichgewicht verliert. Er schnappt Halt suchend nach ihr, erwischt die Jacke, die auf den Boden fällt. Ein Knall. Fast taub. Instinktiv streckt sie den Arm aus, will ihn halten. Spürt Warmes. Ahnt seine Silhouette im Eingang. Gepolter. Qualm. Beißender Gestank.
Dann ist es still. Weit weg bellt ein Hund.
Benommen dreht sie den Kopf. Wo ist er? „Liegt vermutlich in seiner Pisse“, sie unterdrückt ein Kichern. Dann nimmt sie die Jacke und schlüpft hinein. Gutes festes Leder, noch warm.
Kerstin schweigt lange. Sie fragt nicht nach Andy, der am Fuß des Baumes in seltsam verrenkter Haltung gelegen hatte. Sie fragt nicht, wie Frauke die zerstörte Leiter heruntergekommen, wie sie gerannt war, gehetzt wie von tausend Wölfen. Nicht nach dem Krankenwagen, der helles Licht und Geschäftigkeit in den nächtlichen Wald gebracht hatte, nicht nach dem Gesicht von Onkel Bernie. Kerstin fragt nur: „War da wirklich ein Elch?“ Und dann, etwas unsicher: „Und, kann ich trotzdem die Jacke?“ Frauke lächelt. „Ich weiß nicht“, sagt sie. „Vielleicht.“