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Kein Tag wie jeder andere
Der Wecker klingelt wie jeden Tag in der Woche um 6.30 Uhr und reißt ihn aus dem Schlaf. Durch die geschlossenen Jalousien fällt nur wenig Licht ins Zimmer. Mühsam öffnet er die Augen, seine Hände tasten auf dem Nachttisch umher. Wo ist der Ausstellknopf? Da, endlich Ruhe! Neben ihm schnauft Gladys und dreht sich auf schwerfällig auf die andere Seite. Seitdem die Kinder auf dem College sind und nur noch selten nach Hause kommen, verlässt sie erst am späten Vormittag das Bett.
Langsam und ächzend erhebt er sich, schlurft ins Badezimmer, betrachtet sich im Spiegel. Ein graues, missmutiges Gesicht blickt ihm entgegen. Gestern Abend saß er – wie so oft – viel zu lange vor dem Fernseher, trank ein oder zwei Bier zuviel. Gladys war wie immer schon vor ihm ins Bett gegangen. Seit 26 Jahren sind sie verheiratet, leben nur noch nebeneinander her; Gesprächsstoff gibt es kaum noch, seitdem die Kinder ausgezogen sind. Wann hatten sie das letzte Mal Sex? Er kann sich nicht erinnern.
Er zieht seine Boxershorts aus, stellt sich unter die Dusche und dreht den Wasserhahn auf. Erst heiß, dann kalt – wie jeden Morgen. Das kalte Wasser tut ihm gut, die Müdigkeit weicht. Meine Ehe ist in eine Sackgasse geraten und beruflich geht es auch nicht mehr voran, denkt er, während er mit dem Handtuch seinen Körper malträtiert. Was gäbe ich dafür, wenn ich noch einmal ganz von vorn anfangen könnte!
Das grelle Morgenlicht ist unbarmherzig. Er betrachtet Bauch und Beine. Früher auf dem College war er der Schwarm aller Mädchen, gut aussehend und sportlich, Auszeichnungen und Medaillen pflasterten seine Zimmerwand. Aber jetzt? Das ewige Sitzen im Auto, im Büro und vor dem Fernseher, das viele Bier...... Selbst zum Rasenmähen benutzt er den kleinen Traktor; um die restliche Gartenarbeit kümmert sich Gladys. Ich muss wieder Sport treiben, überlegt er, joggen oder Rad fahren und vielleicht mal eine Tennisstunde. Bestimmt fühle ich mich dann besser und ausgeglichener. Aber wie oft hat er sich das schon vorgenommen und nicht in die Tat umgesetzt; der innere Schweinehund war immer stärker.
Er geht zum Spiegel, putzt sich die Zähne, streicht das kurze, graumelierte Haar in Form. Eigentlich sehe ich noch ganz gut aus mit meinen 50 Jahren, denkt er. Die grauen Strähnen im Haar geben Männern doch das gewisse Etwas, darauf stehen die Frauen. Er greift zum Rasierer, bearbeitet sein Gesicht, reibt etwas After-shave an Kinn, Wangen und Hals. Danach geht er in das Umkleidezimmer am Ende des Flurs und zieht sich an. Sorgfältig wählt er die passende Krawatte zum hellblauen Hemd aus, steigt in die dunkelblaue Anzughose, schlüpft in schwarze teure Lederschuhe. Heute Nachmittag um 2 Uhr hat er einen Termin mit seinem Boss, das lässt nichts Gutes ahnen. Seit 15 Jahren ist er Angestellter der Bank, hat sich immer in seine Arbeit gekniet und ist die Erfolgsleiter nach oben geklettert. Doch seit einigen Jahren hat er nicht mehr den richtigen Biss, ist an einen Punkt angelangt, wo es nicht mehr weiter geht. Stagnation – und das bis zur Rente, schöne Aussichten, seufzt er leise. Man müsste noch einmal etwas Neues beginnen, seinem Leben einen Sinn geben.
In der Küche macht er sich ein schnelles Frühstück im Stehen. Ohne Appetit kaut er an der Toastbrotscheibe, die er dick mit Erdnussbutter bestrichen hat. Der starke Kaffee weckt seine Lebensgeister.
Plötzlich steht Gladys in der Tür. Sie trägt ihr Lieblinsnachthemd, ein riesiges, rosafarbenes Ungetüm, ihre Haare hängen in fettigen Strähnen um ihr fahles, verschlafenes Gesicht. „Vergiss nicht, dass wir heute Abend um 7 Uhr bei Maureen und John zum Abendessen eingelanden sind“, raunzt sie unfreundlich. Auch das noch, denkt er verzweifelt, Maureen und John sind die größten Langweiler der ganzen Nachbarschaft und gerade zu ihnen muss Gladys freundschaftliche Kontakte pflegen. „Ist o.k., Schatz, ich komme pünktlich, mach’s gut“, entgegnet er mit gepresster Stimme und drückt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Dann nimmt er sein Jackett vom Haken neben der Tür, greift seine Aktentasche, die auf dem Küchenstuhl steht. Er öffnet die Haustür, hebt die Zeitung von der Veranda auf, steckt sie in die Aktentasche und fingert in den Taschen seines Jacketts nach dem Autoschlüssel. Der Himmel ist wolkenlos und strahlend blau, doch dafür hat er keinen Blick.
20 Minuten Autofahrt liegen vor ihm, dann wird er seinen Pkw abstellen, die Fähre besteigen und an der Anlegestelle im Battery Park in die überfüllte Subway eintauchen. Vielleicht sollte ich heute mal vom Fähranleger zu Fuß ins Büro gehen, überlegt er, während er den Schlüssel in das Zündschloss gleiten lässt. Laute Radiomusik erklingt, als er mit dem Wagen vom Grundstück fährt und in die Straße einbiegt.
Es ist ein warmer, sonniger Morgen an diesem Dienstag, dem 11. September 2001, als er sich auf den Weg in sein Büro im 80. Stock des World Trade Centers macht. Wie immer.