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Kein Tag wie jeder andere

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21.11.2008
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Kein Tag wie jeder andere

Der Wecker klingelt wie jeden Tag in der Woche um 6.30 Uhr und reißt ihn aus dem Schlaf. Durch die geschlossenen Jalousien fällt nur wenig Licht ins Zimmer. Mühsam öffnet er die Augen, seine Hände tasten auf dem Nachttisch umher. Wo ist der Ausstellknopf? Da, endlich Ruhe! Neben ihm schnauft Gladys und dreht sich auf schwerfällig auf die andere Seite. Seitdem die Kinder auf dem College sind und nur noch selten nach Hause kommen, verlässt sie erst am späten Vormittag das Bett.

Langsam und ächzend erhebt er sich, schlurft ins Badezimmer, betrachtet sich im Spiegel. Ein graues, missmutiges Gesicht blickt ihm entgegen. Gestern Abend saß er – wie so oft – viel zu lange vor dem Fernseher, trank ein oder zwei Bier zuviel. Gladys war wie immer schon vor ihm ins Bett gegangen. Seit 26 Jahren sind sie verheiratet, leben nur noch nebeneinander her; Gesprächsstoff gibt es kaum noch, seitdem die Kinder ausgezogen sind. Wann hatten sie das letzte Mal Sex? Er kann sich nicht erinnern.

Er zieht seine Boxershorts aus, stellt sich unter die Dusche und dreht den Wasserhahn auf. Erst heiß, dann kalt – wie jeden Morgen. Das kalte Wasser tut ihm gut, die Müdigkeit weicht. Meine Ehe ist in eine Sackgasse geraten und beruflich geht es auch nicht mehr voran, denkt er, während er mit dem Handtuch seinen Körper malträtiert. Was gäbe ich dafür, wenn ich noch einmal ganz von vorn anfangen könnte!

Das grelle Morgenlicht ist unbarmherzig. Er betrachtet Bauch und Beine. Früher auf dem College war er der Schwarm aller Mädchen, gut aussehend und sportlich, Auszeichnungen und Medaillen pflasterten seine Zimmerwand. Aber jetzt? Das ewige Sitzen im Auto, im Büro und vor dem Fernseher, das viele Bier...... Selbst zum Rasenmähen benutzt er den kleinen Traktor; um die restliche Gartenarbeit kümmert sich Gladys. Ich muss wieder Sport treiben, überlegt er, joggen oder Rad fahren und vielleicht mal eine Tennisstunde. Bestimmt fühle ich mich dann besser und ausgeglichener. Aber wie oft hat er sich das schon vorgenommen und nicht in die Tat umgesetzt; der innere Schweinehund war immer stärker.

Er geht zum Spiegel, putzt sich die Zähne, streicht das kurze, graumelierte Haar in Form. Eigentlich sehe ich noch ganz gut aus mit meinen 50 Jahren, denkt er. Die grauen Strähnen im Haar geben Männern doch das gewisse Etwas, darauf stehen die Frauen. Er greift zum Rasierer, bearbeitet sein Gesicht, reibt etwas After-shave an Kinn, Wangen und Hals. Danach geht er in das Umkleidezimmer am Ende des Flurs und zieht sich an. Sorgfältig wählt er die passende Krawatte zum hellblauen Hemd aus, steigt in die dunkelblaue Anzughose, schlüpft in schwarze teure Lederschuhe. Heute Nachmittag um 2 Uhr hat er einen Termin mit seinem Boss, das lässt nichts Gutes ahnen. Seit 15 Jahren ist er Angestellter der Bank, hat sich immer in seine Arbeit gekniet und ist die Erfolgsleiter nach oben geklettert. Doch seit einigen Jahren hat er nicht mehr den richtigen Biss, ist an einen Punkt angelangt, wo es nicht mehr weiter geht. Stagnation – und das bis zur Rente, schöne Aussichten, seufzt er leise. Man müsste noch einmal etwas Neues beginnen, seinem Leben einen Sinn geben.

In der Küche macht er sich ein schnelles Frühstück im Stehen. Ohne Appetit kaut er an der Toastbrotscheibe, die er dick mit Erdnussbutter bestrichen hat. Der starke Kaffee weckt seine Lebensgeister.

Plötzlich steht Gladys in der Tür. Sie trägt ihr Lieblinsnachthemd, ein riesiges, rosafarbenes Ungetüm, ihre Haare hängen in fettigen Strähnen um ihr fahles, verschlafenes Gesicht. „Vergiss nicht, dass wir heute Abend um 7 Uhr bei Maureen und John zum Abendessen eingelanden sind“, raunzt sie unfreundlich. Auch das noch, denkt er verzweifelt, Maureen und John sind die größten Langweiler der ganzen Nachbarschaft und gerade zu ihnen muss Gladys freundschaftliche Kontakte pflegen. „Ist o.k., Schatz, ich komme pünktlich, mach’s gut“, entgegnet er mit gepresster Stimme und drückt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Dann nimmt er sein Jackett vom Haken neben der Tür, greift seine Aktentasche, die auf dem Küchenstuhl steht. Er öffnet die Haustür, hebt die Zeitung von der Veranda auf, steckt sie in die Aktentasche und fingert in den Taschen seines Jacketts nach dem Autoschlüssel. Der Himmel ist wolkenlos und strahlend blau, doch dafür hat er keinen Blick.

20 Minuten Autofahrt liegen vor ihm, dann wird er seinen Pkw abstellen, die Fähre besteigen und an der Anlegestelle im Battery Park in die überfüllte Subway eintauchen. Vielleicht sollte ich heute mal vom Fähranleger zu Fuß ins Büro gehen, überlegt er, während er den Schlüssel in das Zündschloss gleiten lässt. Laute Radiomusik erklingt, als er mit dem Wagen vom Grundstück fährt und in die Straße einbiegt.

Es ist ein warmer, sonniger Morgen an diesem Dienstag, dem 11. September 2001, als er sich auf den Weg in sein Büro im 80. Stock des World Trade Centers macht. Wie immer.

 

Hi goldblond,
ich bin ein Leser, kein Literat und fuer Leser ist sie wohl auch geschrieben. Uns als Leser finde ich die Geschichte gut.
Gruesse///Onivido

 

Hallo goldblond,

eine alltägliche Geschichte, unterhaltsam geschrieben...
man überlegt, wie es wohl ausgehen mag.
Dann Dein Schlußsatz, (mit dem man nicht rechnet)
und bei mir eine Gänsehaut hinterlassen hat.

Liebe Grüße
Darkeyes

 

Hallo goldblond,

eine wirklich nette Geschichte, hat mir gut gefallen. Man kann sich die Figuren plastisch vorstellen.
Das Ende finde ich echt krass, mich würde bloß intersessieren, ob er es lebend geschafft hat. Gibt es eine Fortsetzung?

Die Bilder von 9/11 schocken mich jedes Mal wieder auf's Neue. Ich sah Menschen live aus dem 80. Stock springen. Das Ende Deiner Geschichte lässt diese Bilder wieder hochkommen.

LG
Giraffe.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Goldblond,

na, da hat er ja 'Glück' gehabt, dass sich sein Leben nun doch noch geändert hat- ohne sein Zutun!
Deine Geschichte liest sich so eben weg, sprachlich habe ich nichts auszusetzen. Überrascht war ich, als ich las, dass der Mann erst 50 Jahre alt ist und dabei schon so 'tot', so ohne Energie, so passiv. Die Frau konnte natürlich auch nur so daherkommen, ungepflegt, sich gehen lassend.
Ich hätte mir gewünscht, dass wenigstens eine Sache die Beiden verbindet, irgendetwas müssen sie doch gemeinsam haben außer den erwachsenen Kindern.
Ich weiß nicht, es hört sich sicher böse an, aber am Ende deiner Geschichte war mein Gedanke: Glück gehabt, Junge, nun brauchst du gar nichts mehr machen!

Ciao,
jurewa

 

Vielen Dank für eure Kommentare. Ich war erst kürzlich in NY und auch an der Stelle, wo die Twin-Towers gestanden haben, da kam mir die Idee. Ich denke, viele Menschen sind immer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens oder dem wahren Glück und vergessen wirklich zu leben. Dabei kann es jeden Moment vorbei sein....
@Jurewa: Es gibt auch Menschen, die sind mit 30 schon "tot" und ohne Energie. Und ich denke auch, dass es Leute gibt, die ewig verheiratet sind und die rein gar nichts mehr verbindet und nur aus Bequemlichkeit zusammenbleiben.
Viele Grüße von
goldblond

 

Hallo goldblond,

der letzte Satz rettet natuerlich deine Geschichte. Denn ansonsten ist sie weder gut noch schlecht geschrieben, eigentlich nichts Besonderes. Und wenn ich ganz ehrlich bin, hinterlaesst daher der letzte Satz einen leichten Nachgeschmack bei mir: 9/11 ist ja so eine Art Freibrief. Da kann man eigentlich schreiben, was man will, niemand wird es wagen, daran herum zu kritisieren, das waere ja ein Verhoehnen der Opfer ... Insofern finde ich schon, dass du eine eher lasche Geschichte damit aufgepeppt hast.
Ich bin mir sicher, du hast es nur gut gemeint, aber so kommt es bei mir an.

Im Uebrigen hat der Text ganz schoen viele Klischees - er ist natuerlich 50, graumeliert und unsportlich, biertrinkend, sie laeuft im Schlabberlook und mit fettigen Haaren herum und schnauzt ihn nur an, Sex haben sie selbstverstaendlich auch nicht.
Warum nicht mal jemanden abseits der Klischees nehmen? Auch Mittzwanziger mit Lockenpracht koennen ein sinnloses Dasein fuehren, auch attraktive Leute koennen sexlos leben und im Uebrigen sind die meisten amerikanischen Ehefrauen von gutverdienenden Bankern alles andere als fahl und fettig .... Das nur nebenbei.


gruss,
sammamish

 

Hallo sammamish,

vielen Dank für deine aufmunternden Worte.
Ich bin absolut nicht der Meinung, dass ein Mittzwanziger mit Lockenpracht in einer derartigen Sinnkrise stecken kann. In diesem Alter bastelt man doch noch am Zukunftskonzept und hat ganz sicher auch nicht derartige Probleme und vielleicht auch Gewissensbisse, sich aus einer langjährigen Beziehung zu lösen.Schön, dass du so viele amerikanische Ehefrauen von gutverdienenden Bankern kennst, aber ich denke, dass diese, wenn sie morgens aus dem Bett aufstehen, noch nicht komplett geschminkt und frisiert sind und durchaus einen fahlen Teint und fettige Haare haben können.
Dies ebenfalls nur nebenbei.
Gruß
goldblond

 

Hallo goldblond!

Deine Geschichte habe ich gerne gelesen. Für mich ist ihr Thema Lebensüberdruss.

Da ist jemand 50 geworden, spätestens dann bricht die Krise der Lebensmitte aus, spätestens dann lässt sich nicht mehr verdrängen, dass der Höhepunkt des Leben überschritten ist, dass es abwärts geht - die Kinder sind flügge, man wird als Erzieher nicht mehr gebraucht, auch im Beruf geht es abwärts, kein Wunder dass sich Lebensüberdruss breit macht.

Solch ein Lebensüberdruss, verbunden mit Todessehnsucht, wird gerne verdrängt, wirkt aber vom Unterbewusstsein aus weiter. Das gilt meiner Meinung nach auch für deinen Prot.

Die Sehnsucht nach Erlösung von einem unbefriedigend gewordenen Leben zeigt sich in seinem scheinbar belanglosen Gedanken, nachdem er den klingelnden Wecker ausgestellt hat:

Da, endlich Ruhe!

Er will nicht aus dem Schlaf gerissen werden. Der Schlaf aber ist der Bruder des Todes, der ihn am Schluss zuteil werden wird.

Grüße gerthans

 

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