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Kein Weg zurück
Das Geflacker der Lampen verstärkte seine Nervosität; Christoph lief auf dem Bahnsteig umher - fünf Schritte nach links, fünf Schritte nach rechts - und schaute ständig auf die Uhr. Wie sollte er es sagen? Am liebsten wäre er davongelaufen, aber das ging nicht. Er hatte Frau und Kind in der Stadt, und die anderen wussten das.
Zum wohl hundertsten Mal griff er sich an das schweißnasse Nackenhaar.
Wie konntest du das nur tun? Was hast du dir dabei gedacht, dich auf so etwas einzulassen? Es gibt doch so viele Menschen, die ähnliche Probleme haben, warum musstest du so tief sinken?
Aber er wusste, dass er keine Wahl hatte. Andere Väter ließen vielleicht zu, dass ihre Töchter in einem Viertel aufwuchsen, in dem an jeder Straßenecke Jugendliche mit Messern herumfuchtelten und wegen nichts und wieder nichts aufeinander einprügelten oder Junkies sich öffentlich den Schuss setzten, wo ihre Frauen von Perversen begrapscht wurden und die Wohnungsflure nach Pisse stanken.
Wo du an jeder Ecke an irgend so einem Irren mit nem Klappmesser vorbeimusst, der dich anstiert.
Ein Schatten schritt die Treppe zum Bahnsteig herauf und kam näher. Um diese Zeit fuhren keine Züge mehr, und für einen Penner hatte er einen zu aufrechten, selbstbewussten Gang. Es musste sein Mittelsmann sein. Christoph fröstelte, obwohl der Wind etwas nachließ.
Die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes schälte sich aus dem Schatten, der Blick kalt und stechend. Christoph unterdrückte den Impuls, vor ihm zurückzuweichen.
Diesen Fehler darf ich niemals begehen, rief er sich ins Gedächtnis. Wer Angst hat, ist sofort verdächtig.
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„Ziemlich ungerecht, oder?“
Christoph blinzelte. Dass sein eigener Chef ihn so ansprechen würde, damit hatte er am allerwenigsten gerechnet.
„Na ja, Ein-Euro-Job halt. Man tut alles, um wieder wo unterzukommen.“ Was wollte der Kerl? Ihn demütigen? Dann konnte er gleich sehen, wie ein Putzlappen in der Fresse schmeckt!
„Auf diese Weise hast du schlechte Aussichten. Ich mein, ich seh zwar, dass du wie ein Irrer die Graffitis runterschrubbst, aber das heißt nicht, dass du am Ende einen festen Job kriegst. Ne Putze wollte ich mir sowieso nicht leisten. Eher gucken dich alle komisch an, weil du deinen eigenen Lohn drückst, indem du zu schnell fertig wirst.“
„Soll das heißen, ich soll den Kopf in den Sand stecken und zu Hause rumsitzen?“
„Nein. Ich meine, wenn du Geld brauchst – wirklich ordentliches Geld – dann habe ich was anderes für dich.“
Christoph ließ den Lappen sinken. Er spürte, wie ein Adrenalinstoß durch seine Adern ging. Gab ihm das Leben endlich wieder eine Chance? Konnte das sein, so zufällig, aus heiterem Himmel? Er musste sich zusammennehmen, um sich aus seiner plötzlichen Starre zu lösen. „Und was muss ich da machen?“
Der Mann beugte sich nach vorne, Christoph konnte seine Nikotinfahne riechen.
„Es ist was Inoffizielles.“
Die Euphorie verebbte augenblicklich. Das wäre ja auch zu schön gewesen.
Der Mann, zu dem ihn das Arbeitsamt geschickt hatte, war ein untersetzter, unrasierter Kettenraucher in Lederjacke. Ein wandelndes Klischee vom zwielichtigen Burschen. Christoph hatte sich ohnehin die ganze Zeit gefragt, wieso jemand seinen neuen Firmensitz in einem derart unscheinbaren Hinterhof einrichten wollte. Noch dazu in diesem Drecksviertel.
„Hören Sie, wenn das was Illegales sein sollte, damit möchte ich wirklich nichts zu tun haben …“
„Hey, warum so ängstlich? Okay, dann eben nicht. Dann schrubbst du weiter, und ich empfehl dich beim Arbeitsamt als Putze, wenn du so scharf drauf bist.“ Der Mann sog achselzuckend an seiner Zigarette und kehrte Christoph den Rücken zu.
Er konnte später nicht mehr sagen, was ihn getrieben hatte, aber in diesem Moment hatte er ein Gefühl, als ob sich das Leben von ihm abwandte. So lange hatte er versucht, Arbeit zu finden, und je länger er suchte, desto weniger Rückmeldungen bekam er. Es war, als wäre das Angebot eben ein Zeichen gewesen, und er hätte es nicht gesehen.
„Warten Sie.“ Er klatschte den Lappen in den Eimer und lief hinterher. „Was für ein Job ist das?“
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„Die Nacht hat viele Gesichter.“ Die dunkle Stimme des anderen klang fest und routiniert.
„Erst der Morgen bringt wieder das Licht“, ergänzte Christoph die Losung. Seine Stimme bebte.
„Bist das erste Mal dabei, was?“ Der Mann verzog die Mundwinkel zu einem Paviangrinsen. „Hast du den Stoff?“
„Ich ...“ Christophs Stimme versagte. Das kumpelhafte Grinsen, aus dem er einen Augenblick lang Mut geschöpft hatte, erlosch, und auf dem Gesicht des anderen spiegelte sich nur noch wachsende Ungeduld.
„Ich ... bin vorhin überfallen worden.“ Seine Worte klangen so dumpf, als würden sie zwischen ihm und dem anderen zu Boden fallen.
Für einen schrecklichen langen Moment schien die Zeit stillzustehen. Der Mittelsmann stand wie ein Felsen da und starrte ihn an. Christophs Beine waren wie festgenagelt. Plötzlich wurde der Blick noch stechender, die Miene des Pavians erstarrte zu einer brutalen Maske.
„Was faselst du da? Heißt das, du hast dir das Koks klauen lassen?“ Der Mann kam ihm jetzt so nahe, dass ihre Gesichter sich fast berührten. Christoph fiel plötzlich auf, dass der andere Handschuhe trug.
„Ich kann nichts dafür.“ Seine Stimme zitterte. „Da kamen zwei Typen aus dem Hinterhalt. Sie haben mir die Tasche weggerissen. Einer verpasste mir einen Kinnhaken. Es müsste hier ganz blau sein.“ Er wies auf die Stelle.
Der Mittelsmann rührte sich nicht. Er starrte ihn nur weiter aus kalt blitzenden Augen an.
„Könntest dir auch selbst eine gezockt haben. Oder der Kumpel, mit dem du Halbe-Halbe machst.“
„Aber es ist die Wahrheit!“ Christophs Stimme wurde schrill, überschlug sich in Panik. „Sie haben mir die Tasche weggenommen. Warum sollte ich lügen? Ich weiß doch, wie das bei euch läuft. Wer euch bescheißt, ist so gut wie tot.“
„Vielleicht bist du ja einfach nicht der Hellste. Denkst nicht so weit voraus. Warum wärst du wohl sonst so blöd gewesen, das Zeug in einer Tragetasche rumzuschleppen, statt am Körper, wie das für Kuriere Vorschrift ist?“
Christoph starrte den Mann an.
Natürlich, ich bin in jedem Fall schuld, weil ich den Verlust hätte vermeiden können.
Ein eisiger Klumpen bildete sich in seiner Magengrube.
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„Du hast einen Job als Nachtwächter?“
„Ja.“ Christoph blickte an Britta vorbei.
„Und warum siehst du mich nicht an? Du hattest doch schon miesere Jobs.“
„Ja, stimmt, diesmal bin ich noch gut dran.“
„Und warum machst du ein Gesicht, als hättest du eine Flasche Essig geschluckt?“
„Ach, das ist nur … der Chef. Ist ein ziemliches Ekel.“ Er zuckte hilflos die Schultern und hängte umständlich seine Jacke auf. Draußen brüllte jemand wüste Beschimpfungen, und ein stumpfer Gegenstand wurde gegen eine Tür geschlagen.
„Und der arbeitet auch nachts?“ Ihr Blick verhärtete sich.
„Britta, ich bin müde. Kannst du mich nicht morgen damit löchern?“
„Ich will nur wissen, was mit dir los ist. Seit Wochen läufst du total gehetzt durch die Gegend und jammerst, wie schuldig du dich fühlst, weil du die Familie nicht durchbringen kannst, und dann hast du einen Job und kriegst nicht das kleinste Lächeln zustande. Was ist los?“
„Ich bin wirklich nur müde. Britta …“
„Du hast mir versprochen, dass du dich nicht in irgendwas reinziehen lassen würdest …“
„Ich lass mich auch nicht in was reinziehen. Es ist wirklich, wie ich gesagt habe.“
Britta antwortete nicht. In ihrem Blick mischten sich Angst und Sorge, aber auch Ärger. Hätte Anja in ihrem Laufstall nicht plötzlich zu wimmern angefangen und Brittas Aufmerksamkeit beansprucht, er hätte nicht gewusst, wie er es ihr noch länger verschweigen sollte.
Irgendwann würde er es ihr sowieso erzählen. Wenn sie aus diesem Drecksloch raus waren.
„Hör zu, Junge.“ Der Mittelsmann entspannte sich etwas und trat einen Schritt zurück. Seine drohende Haltung verschwand, und Christoph sah nur noch den Ärger eines Mannes, dem im Arbeitsalltag etwas dazwischen gekommen war. Er sprach jetzt ernst und eindringlich. „Ob du die Wahrheit sagst oder nicht, ist bei uns unwichtig. Der Stoff ist weg, und wir sind sauer. Basta. Ob du ihn verschlampt oder geklaut hast, ist uns scheißegal. Wir wollen die Kohle wiederhaben, und zwar den Verkaufspreis. Du kommst jetzt mit mir. Wenn du Glück hast und der Chef knallt dich nicht sofort ab, kriegst du vielleicht ne Chance. Aber die Fristen sind bei ihm ziemlich kurz. Scheiße, ich möchte echt nicht in deiner Haut stecken.“
Christoph schluckte. „Wie viel ...?“ Seine Stimme versagte.
Der Mann musterte ihn mit einem bedauernden Blick, der ihm fast so viel Angst machte wie die drohende Gestik zuvor. „Das sollte jetzt wohl deine geringste Sorge sein, Junge. Ich kann dir noch nicht einmal garantieren, dass du so lange am Leben bleibst. Und wenn, wird das kein Zuckerschlecken für dich. Kann sein, dass du 'ne Bank überfallen musst, um die Kohle rechtzeitig reinzukriegen. Wenn du ganz großes Glück hast, musst du vielleicht nur ein paar Monate umsonst für uns arbeiten.“
Christoph nickte langsam. Er ballte die Hände zu Fäusten, damit der andere nicht merkte, wie sie zitterten.
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Eigentlich war es ein ganz gemütlicher Job. Alles, was er tun musste, war, mit ein wenig Koks durch die Straßen zu spazieren und es am Bahnhof abzuliefern. Er hatte das ganze Zeug in einer Tragetasche verstaut, weil er befürchtete, es könnte ihm etwas unten aus der Jacke herausfallen. In den Filmen hatten sie immer große Plastiktüten, aber diese hier waren kaum so lang und so dick wie sein Zeigefinger. Wie sollte er die alle behalten ohne Tasche? Sollte dieser Gorilla doch reden, was er wollte. Wenn er sich dem Treffpunkt näherte, würde er den Stoff eben wieder unter die Jacke stopfen, ganz „nach Vorschrift“.
Die Route, die der muskelbepackte Eintreibertyp ihm gegeben hatte, führte ihn durch Straßen, die selbst für die Verhältnisse seines Viertels einen ziemlich üblen Ruf hatten. Er fragte sich, warum er einen so komplizierten Umweg nehmen musste. Es war ja nicht so, dass es in der Gegend von Bullen wimmelte. Allerdings lungerten dort auch mehr Gestalten rum, von denen er im Dunkeln lieber nicht angequatscht wurde.
Das Dumme war nur, dass er jetzt zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Seltsam, er hatte sich zwar immer wieder ausgemalt, wie er sich fühlen würde, wenn man ihn erwischte, aber an die Teenager, die sich mit dem Zeug zugrunde richteten, nicht einen Gedanken verschwendet. Es hatte in letzter Zeit eine ziemliche Crackepidemie im Viertel gegeben. Warum hatte er daran nicht gedacht?
Er bog in eine Seitengasse ein, die selbst das Licht zu verschlucken schien. Es war nur ein Durchgang zwischen zwei Gebäuden, auf dessen Boden seine Füße fast ins Rutschen gerieten.
Am anderen Ende der Gasse konnte er erkennen, dass der Boden der Straße dahinter ebenfalls vollkommen verdreckt war. Auf der anderen Seite stand eine übervolle, rostige Mülltonne.
Als er herauskam, wurde er plötzlich unsanft am Kragen gepackt.
„Na wen haben wir denn da. Ist uns doch glatt ein kleiner Fisch ins Netz gegangen. Durchsuch ihn.“
Christoph hatte gelernt, dass er in solchen Situationen schnell reagieren musste. Er trat dem Fremden in den Bauch und wollte losrennen, als ihm plötzlich von hinten ein Bein gestellt wurde. Er fiel aufs Gesicht, rappelte sich hoch und empfing einen Tritt gegen den Oberschenkel, der ihn fast gefällt hätte. Er humpelte drei Schritte, hörte, wie sich jemand von hinten näherte, drehte sich um und bekam einen Kinnhaken, der ihn hintenüber fallen ließ.
Der Schläger nagelte ihn am Boden fest, indem er seinen Unterschenkel so fest auf Christophs Bauch drückte, dass ihm übel wurde. Der Komplize, wahrscheinlich der, den er in den Bauch getreten hatte, riss und tastete an seiner Jacke. Durch das Rauschen in seinen Ohren konnte Christoph hören, wie sie aufgeregt einander zuraunten. Plötzlich griff einer nach Christophs Tragetasche, und beide brachen in überraschtes Gelächter aus. Die Tasche wurde von seiner Schulter gerissen, und der Druck auf seinem Bauch verschwand.
Nachdem die beiden Schläger gegangen waren, kam er langsam wieder zu sich. Ein Teil von ihm weigerte sich zu begreifen, was soeben passiert war. Er wünschte sich, die Zeit würde für immer stehen bleiben und er könne bis in alle Ewigkeit in diesem Dreck liegen, für immer in diesem Dämmerzustand. Bloß kein Denken, nur kein Begreifen, dass sein Leben endgültig vorbei war.
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Der Pavian winkte ungeduldig. „Komm' mit. Hab' schließlich nicht ewig Zeit."
Wie in Trance registrierte Christoph, wie sich der Mann umdrehte.
Jetzt haben sie mich also endgültig reingezogen. Wie konnte ich nur so dämlich sein zu glauben, ich mache das einmal mit und dann Schluss?
Der andere stakste vor ihm die Treppe zur Unterführung hinab. Die Beleuchtung war teilweise ausgefallen, die verbliebenen Lampen warfen ein schummriges Licht. Christoph begriff, dass dieses Licht ihn von nun an nie wieder freigeben würde.