Keine Zeit
Langsam trotte ich barfuß über die kühlen Fließen die allmorgendlichen fünf Schritte durch das Bad. Eins, Zwei, Drei, Vier und Fünf; dieser Morgen, den ich bis jetzt nur durch halb geschlossene Augen verschwommen und unwirklich gesehen habe, wird vor dem Spiegel plötzlich zur Gegenwart; 6.20 Uhr, laut der digitalen Baduhr. Wer ist diese Frau dort im Spiegel? Ich beobachte sie ,ihre Augenringe, während sie ihre Zähne putzt, sich auszieht, erst das Nachthemd über den ohnehin zerzausten Kopf, dann den Slip.
Wer ist diese Frau? –der einzige klare Gedanke, den ich fassen kann. Um ihn schwirren tausend andere. Die Uni, bald ist die Hausarbeit fällig und ich muss noch arbeiten, nächstes Semester gibt es kein BAföG mehr, dann erst der Stress auf den Ämtern. Wann gibt es Erholung? Meine Freunde! Zu wenig Schlaf und die Angst zu versagen, Uni, Hausarbeit, Arbeit... Immer im Kreis. Keine Zeit darüber nachzudenken!
Unbewusst fische ich aus den Reihen Cremes, Kosmetik Düften, ein altes Deo, es riecht seltsam vertraut, nach alter Liebe, leicht süßlich und nach einer schwermütigen Weite, wie am Meer, wie Cuba im Sommer. Erinnerungen durchzucken mich. Woher kam das? Wie lange ist es her? Aber keine Zeit darüber nachzudenken!
Schon ist es wieder jetzt, wieder diese Frau vor mir! Sie hat sich wieder angezogen und geschminkt, nicht zu dick, unauffällig, man sieht ihr nicht mehr an, wie müde sie ist. Ihre Unscheinbarkeit ihre Angepasstheit erschreckt mich und ich flüchte aus dem Bad. 6.40 Uhr höchste Zeit fertig zu werden. Welches Seminar habe ich heute eigentlich oder arbeite ich? Gestern war es Arbeit, dann ist heute wohl Uni!
Am Frühstückstisch stehen schon Kaffee und Brötchen während im Radio Weltbummler Lieder singen. Mit zunehmender Hektik streiche ich mir die Brötchen –es ist schon 6.55 Uhr, fast verschlucke ich mich an den großen mit Genießerkonfitüre bestrichenen Bissen. Klick –das Radio ist aus und die Küche aufgeräumt; alles fertig, wie geplant.
7 Uhr, geschafft! Blindlings erwische ich den richtigen Schlüssel und schließe ab. Unten wartet die Zeitung mir von der täglich neuen Welt zu berichten. Ich sehe die Tram einfahren und sprinte auf sie zu, zwänge mich durch die schließenden Türen. Bin ich nur noch Sklavin meines eigenen Ehrgeizes, mit dem einzigen Ziel zu funktionieren? Keine Zeit darüber nachzudenken!
Welches Seminar habe ich nun? Wahrscheinlich angewandte kritische Mediengeschichte. Wow, ziemlich leer heute -in der rasselnden Tram ist sogar ein Sitzplatz frei. Auf den gepolsterten Sitz geplumpst schlage ich die Zeitung auf:
Es ist Samstag!