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Keller
Thomas hatte alle nötigen Vorbereitungen getroffen. Er hatte seine wenigen Freunde und Verwandte angerufen und ihnen gesagt, dass er nach Österreich fahren und erst zwei Wochen später zurück kommen würde. Auf seinem Anrufbeantworter hat er eine Nachricht mit dem gleichen Inhalt hinterlassen.
Nun stand er neben den gepackten Koffern und fragte sich, ob er nichts vergessen hatte. Nach einem kurzen Überlegen entschied er sich dafür, noch einen Rundgang durch das Haus zu machen. Er legte seine Jacke auf die Koffer und machte sich auf den Weg. Alle Fenster waren verschlossen, alle elektrischen Geräte ausgeschaltet.
Als er an der Tür zum Keller vorbei ging, hörte er ein seltsames Geräusch. Er öffnete die Tür, machte das Licht an und warf einen Blick rein. Alles war genauso wie immer, ihm fiel nichts Besonderes auf. Er wollte die Tür schon schließen, als er etwas zwischen dem alten Sofa und den Getränkekisten vorbeihuschen sah. Etwas, das sehr verdächtig nach einer Ratte aussah.
„Das hat mir noch gefehlt“, murmelte Thomas. Er war sich nicht ganz sicher, ob er wirklich etwas gesehen hat. Vielleicht haben ihm seine Sinne und die Schatten einen Streich gespielt. Um sicher zu gehen, musste er die Treppe runtergehen und nachschauen. Die Stufen waren sehr alt und knirschten bei jedem Schritt. Er wollte die Treppe schon vor zwei Jahren erneuern lassen, verschob das aber immer wieder auf später.
Thomas hatte die Hälfte der Treppe hinter sich, als es passierte. Eine der Stufen hielt seinem Gewicht nicht stand und krachte ein. Sein Fuss blieb in der entstandenen Öffnung stecken, er konnte seinen Körper jedoch nicht zum Stehen bringen und fiel nach unten. Dabei hörte er ein lautes Knacken, als sein Knochen brach. Er setzte zu einem Schrei an, prallte aber im gleichen Moment auf die Treppe auf. Durch den Aufprall wurde die Luft aus seiner Lunge rausgepresst, sodass nur ein Keuchen herauskam. Das Letzte was er sah, bevor er ohnmächtig wurde, war der Fußboden, der wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war.
Als er aufwachte, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war. Aber er wusste, was ihn wach werden ließ – es war der Schmerz in seinem rechten Bein. Er brauchte nur Bruchteile einer Sekunde, um sich daran zu erinnern, was passiert war.
Thomas schaute zu seinem eingeklemmten Bein und musste die Zähne zusammenbeissen, um nicht wieder in Ohnmacht zu fallen. Es sah noch schlimmer aus, als er es befürchtet hatte. Sein Unterschenkel war in einem unnatürlichen Winkel verkrümmt, als hätte er sein Knie verkehrt herum. Sein Fuss steckte immer noch zwischen den Stufen.
Als er versuchte, sein Bein zu befreien, konnte er den Schrei nicht unterdrücken. Es tat höllisch weh und weckte in ihm Erinnerungen daran, wie er sich als Kind das linke Bein gebrochen hatte. Das war bei einer Klassenfahrt in die Alpen passiert, wo er einen Ski-Unfall gehabt hatte. Der Schmerz, den er damals empfunden hatte, war nicht annähernd so schlimm wie derjenige, den er diesmal empfand. Aber vielleicht war das nur eine Einbildung von ihm.
Er musste unbedingt etwas unternehmen. Er konnte niemanden anrufen, da sein Handy in seiner Jackentasche lag. Um aus eigener Kraft aus dem Keller rauszukommen, müsste er sein gebrochenes Bein befreien, sich auf der engen Treppe um hundertachtzig Grad drehen und die Treppe hoch kriechen. Dazu war er nicht in der lage.
Ihm wurde der Ernst der Lage klar: er lag hier auf der Kellertreppe, sein Kopf unten, sein Fuss eingeklemmt, sein Bein gebrochen, sein Handy so nah und doch so unerreichbar. Doch das Schlimmste war: Niemand würde ihn vermissen und nach ihm suchen. Alle dachten, er wäre auf dem Weg in die Alpen. Und sein Auto stand in der geschlossenen Garage und würde deshalb niemanden auf die Idee bringen, dass er immer noch zuhause war. Er würde seinen Urlaub hier im Keller verbringen, er würde hier unten vermodern.
Aus seiner Verzweiflung wurde Panik. Er zog mit aller Kraft an seinem Bein, bis er wieder in den dunklen Abgrund der Bewusstlosigkeit fiel.
Da der Kellerraum kein Fenster hatte, konnte er, nachdem er wieder zu sich kam, nicht feststellen, ob es draußen dunkel oder hell war. Und genauso wenig konnten die Passanten das Licht im Keller sehen. Diese Ausweglosigkeit versetzte ihn in einen apathischen Zustand. Im Hintergrund hörte er das Telefon klingeln, dann den Anrufbeantworter. Der Anrufer hörte sich die hinterlassene Nachricht an, legte nach dem Piepton jedoch auf.
Thomas wurde aus seiner Teilnahmslosigkeit rausgerissen, als die Glühbirne zu flackern anfing. Er fragte sich, wann er sie zum letzten mal ausgewechselt hatte. Wenn jetzt auch noch das Licht ausfallen würde, dann würde er das nicht verkraften. Deshalb tat er das Einzige, was er in dieser Situation tun konnte – er betete zu Gott. Er versprach ihm, ab jetzt jeden Sonntag in die Kirche zu gehen und weniger zu trinken.
Vielleicht war Gott sauer auf ihn, weil er nur in größter Not zu ihm betete. Vielleicht hatte ihn Gott noch nie gemocht. Diese Gedanken gingen durch seinen Kopf, nachdem das Licht ausging und der Keller in völliger Dunkelheit versank. Doch seltsamerweise überkam ihn keine Panik und keine Verzweiflung mehr. Er hat die Hoffnung aufgegeben und empfand ein Gefühl der Losgelöstheit. Alles kam ihm unbedeutend und sinnlos vor. Als würde er einen Film sehen, bei dem das Ende offensichtlich war. Und er selbst war die Hauptfigur in diesem Film.
So muss sich ein Mensch fühlen, der mitten im Ozean treibt und, nachdem er eine Zeit lang gegen die Wellen angekämpft und seine ausweglose Situation erkannt hatte, plötzlich aufgibt, um im Wasser zu versinken.
Thomas erinnerte sich daran, wie er sich als Kind immer vor dem Keller gefürchtet hatte. Er glaubte, dass dort etwas hauste, was in den dunklen Winkeln auf ihn lauerte und ihn zu sich in das Reich der Schrecken mitnehmen wollte. Er hatte eine sehr ausgeprägte Fantasie.
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es schien aus der Küche zu kommen und klang so, als würde ein Hund an der Tür kratzen. Die Hintertür. Jemand versuchte, die Hintertür zu öffnen. Im ersten Moment war Thomas erleichtert, dass er scheinbar doch noch frühzeitig entdeckt würde. Doch dann fragte er sich, wer das sein könnte. Der Einzige, der außer ihm einen Schlüssel besaß, war sein Vater, und er würde die Vordertür benutzen.
Thomas hörte, wie die Tür sich öffnete und bemerkte am schwachen Schatten, dass eine Taschenlampe eingeschaltet wurde. Nun wusste er, dass es ein Einbrecher war. Was sollte er nur machen? Den Mann ansprechen und ihn um Hilfe bitten? Noch bevor er zu einer Entscheidung kam, sah er an seinem Schatten, dass die Taschenlampe direkt auf ihn gerichtet war.
„Was zur Hölle...“ Der Einbrecher hatte ihn entdeckt.
„Hilfe!“ Thomas bemerkte, wie schwach seine Stimme war. Die Kehle war ausgetrocknet. „Rufen Sie bitte einen Krankenwagen“, sagte er.
„Ich dachte schon, du wärst tot“, erwiderte der Mann. „Warum sollte ich jemanden anrufen? Damit ich geschnappt werde? Nein, vielen Dank.“
„Nehmen Sie was Sie wollen und rufen Sie einen Notarzt, ich werde keine Anzeige erstatten. Bitte.“ Thomas spürte, wie die Verzweiflung zurück kam.
„Wie lange liegst du da schon?“ Fragte der Einbrecher.
„Keine Ahnung. Zu lange.“
„Und wo finde ich das Geld?“
„Neben der Eingangstür stehen zwei Koffer, oben drauf liegt meine Jacke. In der linken Jackentasche finden Sie eine Menge Geld. Ich wollte es in den Urlaub mitnehmen.“ Thomas hörte die sich entfernenden Schritte. „Werden Sie einen Krankenwagen rufen?“ Er wartete vergeblich auf eine Antwort.
Kurze Zeit später hörte er, wie die Schritte sich wieder der Hintertür näherten.
„Hey! Warten Sie!“ Doch er hörte nur, wie die Tür zuerst geöffnet, dann geschlossen wurde.
Thomas wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er durch grelles Licht, das in seine Augen schien, geweckt wurde. Er muss eingenickt sein.
„Sind Sie in Ordnung?“ Fragte eine Stimme.
„Können Sie uns hören?“ Fragte eine andere.
„Ich habe Ihnen ein starkes Schmerzmittel verabreicht“, sagte die erste Stimme.
Hände packten ihn von beiden Seiten und hoben ihn hoch.
Wahrscheinlich schlafe ich noch, ging Thomas durch den Kopf.
Der Rettungsassistent sagte ihm später, dass sie einen Anruf bekommen hatten. Ein Mann hatte ihnen die Adresse genannt und gesagt, dass sie einen schwer verletzten Mann im Keller vorfinden würden. Als man ihn nach seinem Namen fragte, legte er auf.
Thomas lag in einem Krankenbett und dachte nach. In letzter Zeit dachte er sehr viel nach. Darüber, dass es nie passiert wäre, wenn er verheiratet wäre und Kinder hätte. Wenn er kein Einzelgänger gewesen wäre. Wenn er die Treppe rechtzeitig erneuert hätte.
Und er fragte sich, ob es Gott war, der ihm geholfen und diesen Einbrecher geschickt hatte. Er fragte sich, ob er nun sein Versprechen halten und jeden Sonntag in die Kirche gehen sollte.