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Kellertür
Sie schloss auf und ließ die schwarze, prall gefüllte Sporttasche zu Boden sinken. Sie ging zwei Schritte vor und sank auf das breite Motelbett. Rollte sich auf den Rücken, breitete die Arme aus und bewegte sie auf dem angenehm rauen Leinentuch auf und ab wie Flügel.
»Es ist herrlich!«, rief sie und setzte sich auf. Sah ihn an. Er stand noch immer in der Tür, ging jetzt in das Motelzimmer und schloss leise hinter sich zu.
»Wir werden nicht lange bleiben können«, meinte er, stellte seine Sporttasche neben ihre und schob beide mit dem Fuß unsanft in eine Ecke.
»He! Sei vorsichtig mit den beiden!« Er hob entschuldigend die Hände und ging zum Fenster. Er zog die Vorhänge komplett auf und öffnete es.
»Sie werden in ein oder zwei Tagen hier sein«, sagte er und betrachtete den Sonnenuntergang. Eine leichte Brise zog durch das kühle Zimmer.
»Selbst wenn«, erwiderte sie. »Wir leben nicht mehr für das Morgen« Lächelnd wandte er sich zu ihr um. Die letzten Sonnenstrahlen erleuchteten ihr Gesicht. Er stieß sich vom Fensterbrett ab und setzte sich zu ihr aufs Bett.
»Sobald wir auf der Fähre sind ist alles egal. Dann können sie uns nichts mehr anhaben« Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie auf die Wange. Sie ließ sich zurückfallen und streckte die rechte Hand zur Decke aus. »Sie ist zum Greifen nahe«, murmelte sie. Ihre Augen waren halb geschlossen, als sähe sie eine andere Landschaft auf der Innenseite ihrer Lider.
»Was?«
»Freiheit. Kannst du es spüren? Wie der Druck auf unseren Schultern nachlässt. Wie Schuld in erlerntem Unwissen ertränkt wird? Alles, was mich – uns – hielt, ist vergangen. Wir können nun über uns selbst bestimmen«
Sie sprang auf und ging ins Badezimmer, um es zu inspizieren. Außer einer Toilette, einem Waschbecken und einer verkalkten Duschbrause hatte es nicht viel zu bieten. Sie schaute nicht in den Spiegel.
»Wir brauchen ein neues Auto«, meinte sie. Ihre Stimme hallte von den Kacheln wider.
Er ging zu der Sporttasche und kramte einen zerkratzten Funkwecker heraus. Das Hauptfach ließ er geschlossen.
»Ich werde mich darum kümmern«, versicherte er.
»Diesmal eines mit vollem Tank«
»Es hat gereicht«
Im Türrahmen stehend nahm sie die braune Perücke ab und schüttelte ihre langen schwarzen Haare aus. Sie kam zurück und setzte sich neben ihn auf den Teppichboden. »Schon gut«, sagte sie entschuldigend und schmiegte sich an ihn. »Ich freue mich. Jede Sekunde. Wir werden den Eiffelturm sehen, ja? Nach Paris, in die Stadt der Liebe«
»Wohin immer wir wollen. Niemand wird uns kennen. Keiner weiß, wer wir sind, woher wir kommen« Er nahm sie in den Arm. »Nur wir zwei«
»Wie lange wird es dauern, bis wir am Hafen sind?« fragte sie.
»Drei Tage. Höchstens fünf. Wir brechen morgen früh auf. In der nächsten Stadt holen wir das Geld ab. Dann geht’s über die Autobahnen Richtung Meer. Ein Fuß auf die Fähre. Sobald sie abgelegt hat, brauchen wir uns um nichts mehr Sorgen zu machen« Er lächelte.
Sie lauschte seinen Erzählungen, seiner tiefen Stimme.
»Freiheit«, murmelte sie erneut. Auf ihre dünnen Arme legte sich eine feine Gänsehaut und sie schloss das Fenster.
Das schreckliche, sirenenartige Heulen des Weckers schreckte ihn aus einem traumlosen Schlaf. Er griff blind danach und schaltete ihn aus.
»Steh auf«, sagte er und küsste sie auf die Stirn. Er sprang aus dem Bett und verstaute ihre wenigen Habseligkeiten in den Nebenfächern der Sporttasche, während sie sich anzog an und mit den Fingern durch die Haare kämmte.
Er reichte ihr den Zimmerschlüssel. »Gib den bei der Rezeption ab. Komm dann auf den Parkplatz«, sagte er, packte seine Tasche und verließ das Zimmer. Sie gähnte und stand ebenfalls auf.
Jeden Quadratmeter langsam abgehend, durchsuchte sie das Zimmer sorgsam. Schwarze Haare sammelte sie ein und vertauschte sie mit braunen aus einer kleinen Tüte. Mit einem weißen Tuch wischte sie über alle Objekte, die sie berührt hatten. Anschließend zog sie die Perücke auf und ging noch einmal ins Bad, stellte sich vor den Spiegel und sah sich selbst in die Augen.
»Kennst du die Geschichte von dem Mädchen, dass die Kellertür nicht öffnen durfte? Ihre Eltern verboten es ihr, aber sie tat es doch. Was sah sie?«
Einen Augenblick später streckte sie dem verfremdeten Spiegelbild die Zunge heraus, ergriff ihre Tasche und verließ das Zimmer, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen. Sie ging zur Rezeption, gab den Schlüssel zusammen mit einem kleinen Trinkgeld ab.
Zum Vordereingang hinaus und lief auf den Parkplatz. Er erwartete sie bereits, etwas abseits.
Sie folgte ihm zu einem blauen Lincoln und stieg ein. Er legte zwei Drähte aneinander – der Motor heulte auf – wickelte sie umeinander und fuhr los.
»Wo hast du das alte entsorgt?«
»Zwei Kilometer von hier. Auf einem überfüllten Parkplatz. Außerdem habe ich die Nummernschilder mit einem verlassenen Auto ausgetauscht«
»Kaum zu glauben, dass sie uns trotzdem so dicht auf den Fersen sind«, meinte sie und streckte sich. Sie waren wieder unterwegs. Sie öffnete das Fenster und kühler Morgenwind blies ihr durch die Haare.
»Sind sie aber«, erwiderte er düster und fuhr auf die Hauptstraße.
Eine Streife fuhr an ihnen vorbei. Ihre Herzen schlugen schneller, aber der Polizist beachtete ihren Wagen nicht.
Sie klappte den Sonnenschutz herunter und betrachtete erneut ihr Spiegelbild.
»Das Mädchen verstieß gegen das Gebot und öffnete die Tür. Und es sah die Außenwelt«, sagte sie leise.
»Was hast du gesagt?«, fragte er, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. Die Tasche auf ihrem Schoß wurde klamm vom kühlen Wind.
»Nichts. Ich musste nur an Mutter und Vater denken«