Kerzen für
Reinecke saß neben den brennenden Kerzen. Die Flammen spiegelten sich in den Glasaugen des Plüschhasen wider.
Georg fingerte ein weiteres Streichholz aus der Schachtel. Ratsch! Das war nichts.
Die dünnen Holzstäbchen waren für einen Sechsjährigen nicht leicht zu benutzen. Trotzdem war es Georg schon gelungen, sieben lange, dünne Kerzen in den Schlitzen des Heizkörpers festzuklemmen und die Dochte zu entzünden. Unschlüssig drehte der Junge den Karton mit den restlichen Kerzen in der Hand hin und her. Er überlegte, ob sieben Kerzen genügen würden. Georg hatte nicht daran gedacht, seine Oma zu fragen, wieviele Kerzen nötig waren, um einen Wunsch zu erfüllen.
Sieben schien ihm eine passende Zahl zu sein. Immerhin kam sie in vielen Geschichten vor: Sieben Zwerge, sieben Raben, sieben Fliegen auf einen Streich. Ja, Sieben war wahrscheinlich eine gute Zahl. Sicher gab es wissenschaftliche Gründe dafür. Der Junge nahm sich vor, beim nächsten Besuch in der Bücherei diesbezüglich Nachforschungen anzustellen.
Georg legte die Packung beiseite und machte es sich vor seinen Kerzen gemütlich. Er legte sich auf den Bauch und stützte den Kopf auf die Hände, sah zu den Lichtern hoch. Ein wenig ärgerte ihn, dass er Oma einige wichtige Fragen nicht gestellt hatte. Wieviele Kerzen brauchte er für einen Wunsch, und wie lange mussten sie brennen? Etwa, bis sie von allein erloschen? Georg schätzte, dass das die ganze Nacht dauern würde. Na gut. Dann musste er eben so lange wach bleiben.
Er betrachtete die warmen, ruhigen Lichter der Kerzen und fühlte sich wohl. Für einige Momente trat die Angst, bei dem verbotenen Spielen mit Feuer erwischt zu werden, in den Hintergrund und machte einer tiefen Zufriedenheit Platz.
Zufriedenheit wurde zu Trägheit, Trägheit zu Schlaf.
Nicht alle Kerzen waren fest genug im Blech der Heizkörper-Abdeckung verankert. Eine neigte sich, kippte und fiel. Sie landete auf dem Plüschhasen.
Reinecke begann zu brennen.
Georg hatte keine Lust, in die große Kirche zu gehen. In Kirchen durfte man nicht spielen, sie waren kalt und meist aus schmutzigen, grauen Steinen gebaut.
»Ich will nicht da rein«, quengelte Georg.
Seine Oma seufzte und hielt seine Hand fester. »Wir besichtigen jetzt den Dom«, sagte sie und klang dabei ein bisschen wie die Schwiegermutter auf einer von Georgs Märchen-CDs.
»Ich will in das Spielzeuggeschäft, einen Fußball kaufen«, verlangte Georg.
»Oh Gott«, entfuhr es seiner Oma. Georg vermutete, dass es am Alter lag, dass Jungs Kirchen furchtbar fanden und Spielzeuggeschäfte liebten und Omas umgekehrt. »Außerdem«, fuhr die Spielzeuggeschäfthasserin fort, »spielt Mama nicht so gerne Fußball.«
»Papa aber«, beharrte Georg.
»Gut, dass der weg ist«, brummte seine Oma leise.
»Wer?«, fragte Georg und sah sich um, aber da war niemand. Die Oma schwieg, zog ihn an der Hand in den Dom hinein.
Georg ließ sich zwischen den Bänken entlang führen und schaute sich die komplizierten Malereien unter der Decke an. Dort waren zahlreiche geflügelte Kinder abgebildet, die im Himmel von einer Wolke zur anderen flogen. Manchmal versuchte Georg, sich Geschichten dazu auszudenken, aber das war schwierig, weil er sich mit dem Himmel nicht besonders gut auskannte.
Sie näherten sich einem seitlichen Altar.
»Oma?«
»Pssst!«
Georg zögerte. Nur der Pfarrer durfte in der Kirche normal sprechen, alle anderen Leute mussten flüstern. Also auch er: »Oma, warum zünden die Leute Kerzen an?«
Die Lichter erinnerten an überhelle Sterne in der ansonsten düsteren Kirche und waren die einzigen warmen Stellen in dem kalten Gemäuer. Wenn Georg so recht darüber nachdachte, war der Tisch mit den Kerzen der einzige Ort in der Kirche, an dem er sich wohlfühlte.
»Sie wünschen sich was«, sagte Georgs Oma und blieb stehen.
Der Junge beobachtete einen Mann, der Anzug und Krawatte trug, während er Kerzen anzündete. Georg überlegte, was der Mann sich wohl wünschte.
Er dachte immer noch darüber nach, als sie dem Dom längst verlassen hatten.
»Georg!«
Der Schrei seiner Mutter weckte ihn. Blinzelnd nahm er einen beißenden Geruch wahr. Unfähig, sich zu bewegen, starrte Georg den brennenden Plüschhasen an. Reineckes Bauch war schwarz, seine Beine zwei glimmende Häufchen Asche.
Georg spürte, wie er hochgehoben wurde. Kurz darauf fand er sich auf dem Sofa im Wohnzimmer wieder. Er hörte nicht, was seine Mutter sagte, sah nur, wie sie zur Gießkanne griff, die neben der großen Palme stand, und in sein Zimmer lief.
Das Knistern eines großen Feuers ertönte. Georgs Kopf zuckte zum Fernseher, der das Geräusch gemacht hatte. Das Bild zeigte einen brennenden Mann, der mit den Armen ruderte und vor einer Kirche umher stolperte. Ein anderer Mann stand daneben und hantierte mit einem großen Holzkreuz.
Georgs Mutter lief am Wohnzimmer vorbei Richtung Badezimmer. Als der Wasserhahn zu hören war, fiel der brennende Mann um und bewegte sich nicht mehr.
»Auch das noch«, stöhnte Georgs Mutter, als sie zurückkam und den Jungen vor dem Fernseher sah.
»Mama, was machen die Männer da?«
»Man nennt das Horror, und das ist nichts für sechsjährige Jungs. Und es ist genau das, was du in deinem Zimmer veranstaltet hast«, schimpfte Georgs Mutter. Sie sprang zur Fernbedienung, drückte den Aus-Knopf, ließ das graue Kästchen fallen, überlegte es sich anders und ließ es in der Hosentasche verschwinden. »Beweg dich nicht vom Fleck, du Schuft«, sagte sie und lief mit der gefüllten Gießkanne und einem großen Handtuch wieder in Georgs Zimmer.
Als sie zurück kam und neben Georg aufs Sofa sank, sah sie ihren Sohn müde an. »Warum hast du das gemacht?«
Georgs Linke klammerte sich an das herzförmige Kissen, das neben ihm lag. »Oma hat gesagt, dass die Leute Lichter anzünden, wenn sie sich was wünschen.«
»Andere Jungs schreiben vor ihrem Geburtstag einen Wunschzettel.«
»Der ist nur für Spielzeug«, entgegnete Georg entschieden. »Die Lichter sind für die anderen Sachen.«
»Für welche anderen Sachen?«
»Für die schwierigen. Die schwieriger sind, als Spielzeug zu beschaffen.«
Georgs Mutter schloss kurz die Augen, dann nickte sie. »Ich werde Mutti, ich meine, Oma, morgen anrufen und mich mit ihr darüber unterhalten.«
Mit kleinen Augen fragte der Junge: »Ist Reinecke jetzt im Himmel?«
»Tut mir Leid, mein Schatz«, schüttelte seine Mutter den Kopf. »Das weiß ich wirklich nicht.«
»Ist nicht schlimm, Mama. Du kannst ja auch nicht alles wissen.« Georg reichte ihr das Kissen. »Eigentlich wollte ich ja sowieso einen Fuchs, keinen Hasen. Hasen sind was für Mädchen.«
Seine Mutter lachte. »So, meinst du?«
Georg nickte eifrig. Dann zeigte er auf den Tisch, wo eine angefangene Tafel Schokolade lag. »Kann ich?«
Seine Mutter nickte nur, dann nahm sie sich auch ein Stück.