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Kickrollerfahrt
Jiggle holte Schwung und bretterte mit seinem Kickroller über den Asphalt: Er drehte den Lenker nach links, bog in die St.-Marien-Straße ein, folgte der Kurve, vorbei an der Poststation, genoss den Fahrtwind, überquerte den Zebrastreifen und lehnte seinen gesamten Körper bei vollem Tempo nach vorne, was dafür sorgte, dass er den Kimmriemen seines Helmes spürte. Dann bremste er an der roten Ampel ab. Heute würde er es durchziehen, er hatte den Winter in der Halle trainiert und war bereit. Wie wohl seine Jungs reagieren würden? Die Ampel sprang von gelb auf grün. Jiggle fuhr in den Schleichweg und sah vor sich den Skaterpark: Mehrere Curbs und Rails waren nebeneinander platziert, doch seine Augen fixierten sich auf die Rampe, die hoch aufragte und ihn an eine langgezogene Welle erinnerte. Es war an der Zeit. Seine Kumpels waren schon da. Er begrüßte sie mit entschlossener Stimme. „Hey Joel, wie lange trainiert ihr schon?“
Joel saß mit zwei Freunden auf der Bank und schaute hoch. „Sind eben erst gekommen. Wir haben noch Ott geholt.“
Jiggle nickte und sagte: „Ich hab einen neuen Trick geübt. Bin gespannt, was ihr sagt.“
„Was für einen?“, fragte Joel.
„Backflip."
Jiggle lenkte seinen Kickroller auf die Rampe. Er liebte das Gefühl der Ruhe, kurz bevor er sich hinabstürzte und die notwendige Geschwindigkeit für seinen Trick aufbaute. Er würde am ersten Hochpunkt der Rampe mit dem Backflip beginnen, landen und den verbleibenden Schwung nutzen, um in Richtung des zweiten Hochpunkts zu fahren, dort eine 180 Grad Drehung zum Ausrollen machen und lässig in die Gesichter seiner Freunde schauen. Durchatmen. Fokus. Er gab sich einen Ruck, neigte seinen Roller, verlagerte das Gewicht und die Reifen knatterten über die Oberfläche, schneller und schneller flitzte er in Richtung des höchsten Punkts, drehte sein Gesicht nach hinten und vollführte den Salto. Mit einem polternden Geräusch kamen die Reifen auf. Doch Jiggle konnte das Gleichgewicht nicht halten und sein Roller rutschte unter ihm weg.
„Heftig! Du hast es fast geschafft!“
Er wusste, dass er es besser konnte. Gut war schon einmal, dass er sich auch draußen getraut hatte. Die Bewegung war wie in der Halle. „Fast ist nicht genug. Ich probiere es noch mal“, sagte Jiggle, rappelte sich hoch und begab sich wieder auf die Rampe. Ob er es diesmal schaffen würde? Was, wenn er wieder die Balance verlor? Beim nächsten Versuch würde er sich einfach ein wenig früher drehen und den Schwung besser abfangen, wenn er aufkam. Das müsste klappen. In seinem Augenwinkel sah er ein Graffiti, auf dem der Schriftzug Fearless gesprüht war. Jiggle lächelte und raste hinab. Früher drehen, dachte er. Früher drehen.
Im nächsten Moment durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz am Kopf. Er ließ seinen Roller los und schlitterte über die Rampe.
„Jiggle! Alles okay?“
Jiggle schloss die Augen und fasste sich an den Helm. Er wusste nicht genau, ob der Schmerz oder die Enttäuschung schlimmer war. Reichte sein Talent nicht aus? War er nicht gut genug?
Joel rannte zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hast du dich verletzt?“
„Was ist passiert?“
„Du hast dir voll den Kopf angestoßen, hast dich zu früh gedreht, glaube ich.“
Jiggle hob seinen Roller auf und warf ihn von sich. „Ich kann das nicht glauben.“
„Du brauchst `ne Pause“, sagte Joel. „Komm.“
Jiggle ging zur Bank, währenddessen Joel eine Bong aus seinem Rucksack zog. Erwartungsvoll schaute er Jiggle an und sagte, dass er sie von seinem Bruder ausgeborgt habe. „Soll richtig knallen, Jungs seid ihr dabei?“
Die anderen nickten, doch Jiggle sagte: „Nein, ich bin raus.“
„Traust du dich nicht?“, fragte Joel.
Jiggle antwortete nicht, er dachte an den Rückwärtssalto.
„Sei kein Spaßverderber. Ist für uns alle neu, du hast doch sonst auch immer alles mitgemacht. Macht doch Spaß.“
Jiggle spürte die bohrenden Blicke seiner Freunde. Er merkte, dass sie von ihm erwarteten, auch zu rauchen.
„Nein, ich mach das nicht.“
„Wie du meinst. Kommt Jungs, wir gehen zum Engländer. Falls du doch noch Bock hast, weißt du, wo wir sind“, sagte Joel und drehte sich von Jiggle weg, der noch immer seinen Helm aufhatte.
Als sie gegangen waren, saß Jiggle auf der Bank und blickte auf den Boden. Sollte er nach Hause fahren und sich geschlagen geben? Das würde er sich nie nachsehen. Es gab nur eine Option. Er klatschte in die Hände, schnellte hoch, eilte zu seinem Roller und fuhr auf die Rampe. Oben angekommen zitterten seine Unterarme. Sein Kopf pochte. Jiggle zögerte. Diesmal war niemand da. Falls er sich ernsthaft verletzte, wäre keine Hilfe zu erwarten. Ob das wirklich eine gute Idee war? Sollte er nicht einfach zum Engländer rennen und sich dem Gras hingeben, seine Niederlage betäuben? Sie würden den neuen Song von Lance Butters hören, zusammen essen und sich entspannen. Nein, er musste es wenigstens versuchen. Er würde nicht darüber hinwegkommen, wenn er jetzt aufgab. Dann war es das mit seinem Trick. Ich mach das jetzt, dachte er und verlagerte das Gewicht. Gesicht nach hinten. Salto. Momentum mitnehmen. Landen. Er rollte aus, vollführte die Wende und reckte seine Faust in die Luft, spürte die Wärme seiner Fingerkuppen auf dem Handballen und schrie so laut er konnte. In seiner Vorstellung sah er sich an der Seite von Ryan Williams auf dem Nitro Circus. Er würde weiter trainieren und seinem Traum nachjagen. Sollten die anderen doch kiffen.