- Anmerkungen zum Text
Ich bin mir noch nicht im Klaren darüber, ob dies wohl als eine Serie geeignet wäre. Das Ende ist doch etwas abrupt und als Cliffhanger besser geeignet, als für ein Solo-Stück.
Kinderseelen
"Nun beginnt der Ernst des Lebens" und "Das Spielen ist jetzt vorbei." - hat man mir gesagt, mit sieben Jahren. Viele meiner Freunde sind mir, als sie sechs waren oder wurden, bereits vorausgegangen. Für sie begann der Ernst früher als für mich und ich habe sie darum nicht beneidet. Ich war gerne im Kindergarten. Da waren alle meine Freunde, Mädchen und Jungen und die Erwachsenen dort waren auch nicht übel. Ich konnte den ganzen Tag spielen, alleine oder mit den anderen. Es gab Essen, ein Dach über uns und ein wenig Natur und Spielplätze draußen. Es fehlte mir also an nichts. Zuhause gab es auch keinen Stress. Nun, jedenfalls nicht mit mir. Meine Mama war alleine und ständig am Arbeiten, auf der Suche nach Arbeit oder hat Seminare besucht um sich auf dem Markt behaupten zu können. Geld war das einzige was wir nicht genug hatten und was meiner Mama oft Sorgenfalten ins Gesicht zauberte. Ich verstand diese Sorgen damals nicht. Wir hatten doch alles, was wir brauchten?
Nun war es soweit, ich würde eine mir unbekannte Frau treffen, die mich zunächst körperlich untersucht. Sie hört meinen Herzschlag und meinen Atem mit ihrem Stethoskop ab. Ich muss kichern, da es noch ganz kalt ist und es mich auf der Haut kitzelt. Sie misst meinen Blutdruck und Puls. Sie will, dass ich auf einem Bein stehe oder mich verbiege. Sie tastet mich ab. Dann stellt sie mir Fragen, die ich alle richtig beantworten konnte: Wie viele Beine hat ein Hund? Vier. Ist ein Apfel Obst oder Gemüse? Obst. Alles richtig! Und am Ende doch: Sie sagte zu meiner Mama, ich seie noch nicht reif genug. Ich sei albern, kindisch, ich lache zu viel, wenn mich andere anfassen. Meine Mama widerspricht ihr. Sie will, dass ich eingeschult werde! Ich bin ja bereits ein Jahr zurückgestellt worden. Es wird Zeit für den Ernst des Lebens.
So war dies mein letztes Jahr im Kindergarten. Ich hatte Angst. Die meisten meiner Freunde würden ebenfalls eingeschult werden. Bei meinem ersten Gespräch mit meiner zukünftigen Schulleiterin - mir wurde die nächstgelegene Schule zugewiesen, wie auch meinen Freunden - wurde ich gefragt, mit wem ich gerne in einer Klasse wäre. Ich nannte meine Freunde aus dem Kindergarten, daher hatte ich keine Angst meine Freunde zu verlieren.
Ich habe versucht, mit groβen Augen und gespitzten Ohren, nochmal alle Eindrücke aus dem Kindergarten mitzunehmen. Ich saβ drauβen und beobachtete die Marienkäfer, wie sie flogen und sich setzten, auf Blätter, auf Stöcke, auf meine Hand und mein Hemd. Wie viele Punkte sie hatten, welche Farbe ihr meist roter Panzer hatte. Ich trat Bälle in die Luft zu meinen Freunden, die sie annahmen und zurücktraten. Ich fuhr Dreirad und Roller und buddelte im Sandkasten. Ich habe mit allen Farben gemalt, gemalt und noch mehr gemalt. Nicht für andere, aber für mich. Wir sangen Lieder mit den Erwachsenen, wir aβen und tranken zusammen, auch wenn ich den Tee niemals trinken konnte. Er schmeckte einfach eklig.
Zuhause wurde ich langsam auf die Schule vorbereitet. Mir wurden einige Zahlen gezeigt. Das ist eine 1, das ist eine 2. Und Buchstaben: A, B, C,...
Als wir bei meiner Tante waren, haben mir meine Cousinen, die alle schon viel länger in der Schule waren, ebenfalls ihre Schulsachen gezeigt. Ich verstand es leicht, doch wusste ich nicht, wofür ich dies jetzt gerade brauchen würde.
Alle meine Verwandten kamen, man hat mir eine spitze Tüte in die Hände gelegt, ich stand auf der Treppe meiner Schule, wo die Lehrer und alle anderen Fotos von mir und meinen Mitschülern machten. Ich erkannte einige meiner Freunde in den Reihen, aber viele kannte ich gar nicht. Ich wollte da nicht rein! Ich wollte weiter spielen. Habe ich denn nicht schon viel gelernt, auch ohne Schule? Alles was man mir zeigte, Buchstaben und Zahlen und die ersten Plus-Aufgaben, habe ich doch ohne Schule verstanden, obwohl ich sie vorher nie gebraucht hatte. Es gingen alle, auch meine zukünftige Klassenleiterin, zusammen in das Schulgebäude. Sie zeigte uns den Weg zu unserem Klassenzimmer. Wir betraten einen Raum: hell, mit vielen Bänken aus Holz und Metall und Stühlen aus demselben Material. Es gab ein paar Schränke und einen gröβeren Tisch mit gepolstertem Stuhl für unsere Lehrerin. Wenn die Eindrücke nicht so viel gewesen wären, hätte ich wohl jetzt schon erkannt, dass dieser Raum langweilig war. Ich will hier nicht sein!
Die Lehrerin setzte uns an unsere Plätze, die bereits mit einem kleinen Namensschild versehen waren. Neben mir saβ ein Mädchen, welches ich noch nicht kannte. Meine Freunde waren überall im Raum verteilt und saβen neben Kindern, die ich aus meiner Kindergartenzeit nicht kannte und sie wohl auch nicht. Wir begannen unsere allererste Schulstunde. Ich erinnere mich nicht mehr, an deren Inhalt. Ich war noch mit der Beobachtung meiner Klassenkameraden, des Zimmers, meines harten Stuhls und kalten Tisches beschäftigt. Als es überstanden war, dachte ich mir nur, ob das die nächsten Jahre weiter so bleibt oder noch besser wird. Meine Familie und ich gingen mit meiner Schultüte nach Hause, wir aβen Kuchen, die Erwachsenen tranken Kaffee, die Kinder tranken gesüβte Getränke. Sie fragten immer wieder grinsend, wie es gewesen sei, so als ob sie an meine Antwort eine Erwartung geknüpft hatten. “Nun beginnt der Ernst des Lebens und das Spielen ist vorbei.” Da war sie wieder. Was bedeutete diese Aussage? Es würde doch wohl nicht die nächsten Jahre ohne jedes Spielen und so langweilig wie heute weitergehen?
Meine Mama brachte mich früh am morgen auf einem denkbar kurzen Weg zur Schule. Ich sollte mir den Weg merken, da ich ihn in ein paar Tagen alleine gehen müsse. Ich trug auf meinem Rücken einen schweren Ranzen, indem sich allerhand Hefte und Bücher, sowie meine Federtasche befanden. In mir drinnen trug ich lediglich den Wunsch, wieder in den Kindergarten zu gehen. Es war noch dunkel, doch sah ich - ganz typisch für diese Art Städte - keine Sterne. Es ging vorbei an den Plattenbauten unterschiedlicher Höhe. Das eine fünf, das andere zwölf Stockwerke hoch. Kurz durch ein kleines Wäldchen, was noch das erfreulichste an meinem Weg war. Eigentlich war es kein Wald, lediglich eine kleine Oase inmitten des Beton, wo sich, trotz der frühen Stunde, einige Männer trafen, Zigaretten rauchten die mir in der Nase brannten und Biere tranken bis die ganze Oase danach stank.
Und als wir aus diesem kleinen Baumgarten traten, sah ich zuerst Zäune, wie ich sie schon von meinem Kindergarten kannte. Gelb, wo der Lack noch nicht abgeplatzt war, ansonsten Rost-Braun. Das Geschrei der anderen Kinder war Ohrenbetäubend. Meine Mama verabschiedete sich von mir mit einem Kuss und wünschte mir viel Erfolg. Ich versuchte mich an den Weg zu erinnern, den wir bei unserer Einschulung gingen, doch so früh am morgen, unter all dem Geschrei und dem überall gleich grauen Beton gelang es mir nicht. Ich suchte daher meine Freunde und fand sie bald. Wir versuchten gemeinsam, jeder einen Teil des Weges sich erinnernd, unser Klassenzimmer zu finden.
Wir hatten es geschafft und jeder ging zu seinem Platz, mit seinem Schildchen. Es plapperten alle durcheinander. Wer hatte die gröβere Tüte gehabt, wer die meisten Süβigkeiten? Hatte einer die Lieblingssorte des andern und könne tauschen? Die Schulglocke ertönte über den Lautsprecher über der Tür des Zimmers. Unsere Klassenleiterin begrüβte uns und wir grüβten im Chor zurück. Auch sie erzählte uns von dem, mir unbekannten, Ernst des Lebens der nun begönne und das sie uns die nächsten vier Jahre begleiten werde, ehe wir in der fünften Klasse auf eine andere Schule wechseln. Ihr Lächeln lieβ sie mir sympathisch erscheinen, doch machten mir ihre nach unten, zur Nase gerichteten Augenbrauen und die tiefen Falten dazwischen Angst.
Wir begannen zunächst mit dem Alphabet. Sie fragte, ob jemand den ersten Buchstaben schon kenne und schrieb ihn gleich an die Tafel. Sie fragte, ob jemand den nachfolgenden Buchstaben kannte und lobte den Schüler. Und so ging sie noch einige Buchstaben durch, bis ich sie nicht mehr kannte, aber alle anderen scheinbar schon. Nie zuvor hatte ich gefragt, ob jemand besser Marienkäfer beobachten könne als ich oder schneller mit dem Dreirad fahren konnte oder den Ball viel höher schoss als ich. Doch hier bemerkte ich: Alle kannten mehr Buchstaben als ich. Manche taten gar ganz gelangweilt, als ob sie ihr ganzes Leben nie keinen unserer Buchstaben kannten! Mein Magen verkrampfte sich, was bei der nachfolgenden Stunde noch schlimmer wurde: Mathematik. Wie viele Zahlen kannten wir schon? Sie kannten alle die Zahlen bis Zehn und manch einer hat demonstrativ zwei große Zahlen miteinander addiert, woraufhin unsere Lehrerin ihn stark lobte. Es trieb mir die Schamesröte ins Gesicht obwohl niemand bemerkt zu haben schien, dass ich keine Antworten gab. So konzentrierte ich mich, zum ersten mal bewusst, ganz und gar auf die grüne Tafel, die weiβen Buchstaben und Zahlen aus Kreide, lauschte den Worten der Lehrerin und versuchte eifrig zu lernen. Es gelang mir zunächst leicht den Stoff zu verstehen. Doch schon bald wanderte meine Aufmerksamkeit durchs Fenster nach drauβen. Da ein Baum der sich sanft im Wind wog, die Blätter lustig tanzend. Ein Rabe, schwarz wie der nächtliche Himmel, krächzte seine Lieder. Eine Mutter fuhr ihr kleines Kind im Kinderwagen den Gehweg entlang: Oh wie ich dieses Kind beneidete! Die Luft im Klassenzimmer schien jeden Tag weniger zu werden. Dieses Kind im Wagen aber darf drauβen sein, darf atmen und wohl auch schlafen. Wäre ich eingeschlafen am Tisch, ich wäre wohl zum Arzt geschickt worden. Das ist jedenfalls mal jemandem so ergangen, so sagte man in den Pausen, welche mir manchmal kein Trost waren. Am Anfang war es schön einfach mit seinen alten Freunden weiter zu spielen. Doch irgendwann kamen Schüler der fünften Klassen und älter, die uns üble DInge zu riefen oder auch Schüler derselben Klassenstufe, die ihr trauriges Leben von Zuhause an uns auslebten (man vermutete bei einigen ja, dass der Vater wohl zu viel trinkt und die Hand eher locker sitzt).
Zuhause war ich nun noch weniger als zu meiner KiTa-Zeit. Ich ging zur Schule, dann zum Hort - meine Mama hat ja wieder gearbeitet - dann musste Zuhause noch für die Schule gelernt werden. Es gab öfter Streit mit meiner Mama, weil ich nicht mehr lernen wollte. Ich warf Stifte durch die Küche, weil ich dieses eine Wort nochmal richtig schreiben sollte, obwohl meine Gedanken schon lange nur noch als Nebel wahrnehmbar waren und meine Augen es partout nicht zustande brachten auf diesen Zettel zu fokussieren. Und meine Mama begann mein Verhalten, welches ich schon immer so wahrnahm, zu kritisieren. Ich wäre faul, ein Träumer, ich könne das doch alles und sie verstünde nicht, warum ich es nicht abrufen kann. Sie bezog sich dabei wohl auf meine ersten Zeugnisse, in denen meine Klassenlehrerin grundsätzlich zu schreiben schien, dass ich mehr könne, wenn ich mich nur anstrengen würde. Ich will mich gar nicht anstrengen! Ich will wieder spielen und sei es alleine.
So war der Hort meine letzte Zuflucht. Hier war alles wie im Kindergarten, nur dass wir Hausaufgaben machen mussten und die einen Erwachsenen uns halfen wo sie nur konnten und die anderen uns nur beobachteten und wollten, dass wir leise sind. Ansonsten waren wir, war ich frei. Ich spielte wieder wie zuvor mit meinen Freunden und mit neuen Freunden. Ich beobachtete Schmetterlinge und Grashüpfer, kletterte auf Gerüsten und buddelte in Sandkästen. Doch meine gröβte Freude war es, meine eigenen Welten zu erschaffen. Ich fragte meine engsten Freunde ob wir etwas spielen wollen, doch uns ist nichts eingefallen. Dann begann ich von einer anderen Welt zu erzählen aus der ich kam und wo mein böser Zwillingsbruder noch wohnte. Er versuchte mich zu fassen, weil er nur mit mir seine volle Kraft entfalten könne. Meine Freunde begannen sogleich sich mit Stöcken zu bewaffnen um diesem Ziel einhalt zu gebieten. Über Monate, wenn nicht gar ein ganzes Schuljahr tauchten wir in meine Fantasie ein. Ich entwarf Zuhause Karten und Hinweise, die wohl aus dieser anderen Welt stammten, um zu belegen, dass sie wirklich existiert. Es wurden immer mehr Mitstreiter, bis sich einige wohl vom Sog meiner Welt befreien mussten: Sie sagten mit lauter, angespannter Stimme, dass das nicht echt sei! Fortan hatte ich nur noch wenige Freunde und verstand nicht recht woran es lag. Früher haben wir doch immer so gespielt? Haben uns immer ausschweifend unserer Fantasie hingegeben? Ist dies der Ernst des Lebens, den ich in meinen Freunden bemerkte?