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Kinderzimmer
Kinderzimmer
Klaras Zimmer ist unverändert geblieben.
Alles ist immer noch genau so, wie es an jenem Morgen war.
Als Klara das letzte Mal hier gewesen ist:
Ein Paar Adidas-Turnschuhe unter dem Bett.
Das Robby-Williams-Poster an der Wand.
Dann ihre Lieblingsjacke - eine rote Sportjacke mit der Aufschrift: MIAMI SPRINGS, die über dem Schreibtischstuhl hängt. Darüber hat sie das verschwitzte T-Shirt geworfen, das sie am Abend vorher beim Tennisspielen anhatte.
Seit dem Tag blieb das Zimmer unverändert.
Genau so, wie sie es an jenem Morgen verlassen hat:
Wie immer, steht das Mädchen an diesem Tag um halb sieben auf. Sie zieht sich an und macht noch schnell das Bett. Dann packt sie ihre Schultasche und läuft nach unten in die Küche, wo ihre Mutter schon Kaffee für sie gemacht hat. Vati ist bereits am Frühstücken.
Er sagt: „Willst du ein Brötchen?“, dabei hält er ihr ein frisches Croissant entgegen. Aber Klara hat heute nicht so recht Hunger. Eine Mathearbeit gleich in der ersten Stunde – da ist ihr Magen immer ein wenig nervös vorher. Trotzdem trinkt sie zwei Tassen Milchkaffee.
Bevor Klara aus dem Haus geht, gibt sie ihrem Schäferhund Bruno noch einen Kuss auf seine feuchte Schnauze. Schließlich sagt sie ihren Eltern: „Tschüss!“ - und macht sich auf den Weg zur Schule...
Aber an diesem Tag kam das Mädchen nicht mehr nach Hause.
Auch am nächsten Tag nicht.
Und am übernächsten kam es auch nicht wieder.
Die Eltern haben gehofft und Gott vertraut. Zwei Wochen lang.
Bis man die Wahrheit in einem Container fand.
Oft geht die Mutter wieder in das Kinderzimmer. Dann setzt sie sich an Klaras Schreibtisch, schaut sich die Fotos an der Wand an:
Klara als dreijähriges Mädchen mit einem Blumenstrauß.
Klara mit sechs Jahren, eine große Schultüte in der Hand.
Klara mit zehn, im Griechenlandurlaub auf einem Esel reitend.
Dann das letzte Foto von ihr:
Klara mit zwölf. Das Mädchen tanzt gerade mit einem gleichaltrigen Jungen im Arm.
Das Foto hat ihre Mutter heimlich geschossen, als sie zusammen auf dem Schulball waren. Das war zwei Wochen vor ihrem letzten Geburtstag gewesen.
Noch jedes Jahr, an ihrem Geburtstag, kaufen die Eltern ein kleines Geschenk für ihre Tochter: Eine CD, eine neue Mütze oder ein Paar Badmintonschläger - weil sie doch so gerne Sport gemacht hat. Am Geburtstagsmorgen zünden die Eltern zuerst eine Kerze für sie an.
Dann beten sie gemeinsam.
Schließlich gehen sie zusammen hoch ins Kinderzimmer - dort legen sie die Geschenke neben ihrem Bett ab.
„Alles Gute zum Geburtstag, liebe Klara“, sagen sie dabei fast gleichzeitig.
Dann gehen sie wieder aus dem Zimmer - ohne ein Wort miteinander zu reden.
Heute wäre das Mädchen sechzehn Jahre alt.
***
Die Mutter sei tablettensüchtig geworden, heißt es.
Letzte Weihnachten hat sie sich die Arme geöffnet.
Und der Vater soll angefangen haben zu Trinken.
Beide Eltern wohnen nicht mehr hier.
Sie haben sich getrennt, letztes Jahr.
Und das Haus verkauft.
Dafür wohne ich jetzt hier.
Vorher habe ich in einer Mietwohnung gleich um die Ecke gelebt.
Ich habe die Anzeige in der Zeitung gesehen und den Eltern das Haus abgekauft.
Oft habe ich das Gefühl, das Haus ist ein wenig zu groß – zu viele Zimmer für einen alleinstehenden Mann wie mich. Und ich fühle mich oft alleine.
Dann gehe ich in Klaras Zimmer. Ich nehme das T-Shirt vom Stuhl und rieche daran,
danach lege ich es wieder vorsichtig über den Stuhl zurück, genau auf die rote MIAMI-SPRINGS-Jacke – denn ich will hier nichts verändern.
Das habe ich auch den Eltern versprochen: dass alles so bleibt, wie es ist.
Ich setze mich neben ihr Bett. Das Bett, worin sie immer geschlafen und geträumt hat.
Und in meiner Fantasie spiele ich dann mit ihr.
So, wie wir schon immer miteinander gespielt haben.
Wolf W. 2003