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Klärende Gewitter

Team-Bossy a.D.
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23.02.2005
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Klärende Gewitter

Für Annette

Wenn nachts ein Gewitter durchzog, war es selbstverständlich für mich, von meiner Mutter geweckt zu werden. Meist stand sie schon vorsorglich mit einer flackernden Kerze vor meinem Bett, da der Strom oft ausfiel. Ich musste mit ihr zusammen ins Erdgeschoss flüchten, denn sie hatte Angst, dass ein Blitz einschlagen und das Haus abbrennen könnte. Meine älteren Brüder Markus und Simon wurden auch geweckt, aber die blieben in ihren warmen Betten, was ich ungerecht fand. Markus erklärte mir einmal, dass das Gewitterwandern, wie er es nannte, eine alte Marotte von ihr sei, weil in ihrem früheren Elternhaus der Heuboden oberhalb der Schlafzimmer und somit die Gefahr eines Brandes viel größer gewesen war.

Meine Mutter nahm mich auch als kleines Kind nie an der Hand, wenn wir zusammen die von der Kerze spärlich beleuchtete Treppe in die gute Stube heruntergingen, da sie immer in der anderen eine große rote rechteckige Dose trug, die sie fest in ihre linke Hüfte klemmte. Mein Vater war bei den Kühen im Stall, denn einige brüllten vor Panik, wenn der Donner laut grollte. Nur meine Oma und ihr Bruder Sepp durften weiterschlafen, da ihre Zimmer neben der Küche waren.

In der guten Stube stellte meine Mutter, die immer wieder nervös zum Fenster hinaus schaute, die Blechdose, über die sie noch nie mit mir gesprochen hatte, mitten auf den Tisch. Ich zog fröstelnd eine Zudecke über mich, denn in dem Zimmer war es nur am Sonntag gemütlich warm. Eines Nachts setzte zu der Frage an, die mir schon lange auf der Zunge brannte.
„Was ist in dieser Dose, Mama?“
„Wichtige Papiere, die nicht verbrennen dürfen.“
„Darf ich mal reinsehen?“
„Nein, die bleibt zu. Was da drinnen ist, verstehst du sowieso nicht.“ Dabei schaute sie mich ungewöhnlich streng an und das Kerzenlicht ließ dazu ihren Blick noch geheimnisvoller aussehen.
„Frag’ mich nicht mehr danach.“

Normalerweise versuchte meine Mutter immer, mir Antworten auf meine Fragen zu geben, anders als mein Vater. Wenn ich ihn im Hof oder Stall an seiner blauen Hose zupfte, damit er auf mich aufmerksam wurde, schob er mich meistens beiseite.
„Ich hab’ grade keine Zeit, Nette, ich muss aufs Feld.“
Er hatte noch zwei Kaltblüter im Stall und alle im Dorf lächelten milde oder schüttelten die Köpfe, wenn er mit Leila und Liesl durch die Straßen trabte.
„Wenn er nur einmal soviel Zeit hätte, um mit ihr etwas zu spielen, wie er immer braucht, um die Pferde zu striegeln“, hörte ich heimlich vor kurzer Zeit meine Mutter zu ihrer Freundin sagen. Mein Bruder Simon machte auf unserem Hof eine Lehre als Landwirt und interessierte sich überhaupt nicht für mich. Früher fragte ich ihn manchmal etwas und da er oft gemein antwortete: „ Bist du dumm, wenn du das nicht weißt!“, sprach ich nur noch mit ihm, wenn es sein musste.

Markus ging auf die Fachoberschule und war der Einzige, der mich wirklich verstand. Nur er las mir vor, als ich die Buchstaben noch nicht kannte. Außer meiner Mutter war er derjenige, der mich in den Arm nahm und tröstete, wenn ich traurig war. Er hatte sich selbst das Gitarrespielen beigebracht, nachdem er eine auf dem Sperrmüll fand und sie wieder hergerichtet hatte. Viele Lieder aus dem Radio konnte er nachspielen und er erfand oft eigene Melodien. Unseren Vater hat das immer aufgeregt, deshalb packte er sie immer nur heimlich vor mir aus und zupfte oder drosch die Saiten, wenn Papa es nicht hörte. Sehr oft war ich krank. Markus saß an meinem Bett und kümmerte sich sehr um mich. Oft spielten wir dann Mühle, Dame oder Fang’ den Hut.

„Wir müssen in die Spargeln, zum Mittagessen sind wir wieder da“, erklärte mir meine Mutter, während es in meinen Ohren zog und stach und pochte, als wären die Sieben Zwerge im Bergwerk zugange.
„Mama, bitte bleib bei mir, es tut so weh“, flehte ich sie mit Tränen in den Augen an.
„Ich kann nicht “ sagte meine Mutter mit gesenkter Stimme, so dass ich sie kaum verstehen konnte. Ich war in der vierten Klasse und heute hatten wir auch noch unsere Abschlussfahrt.
Mir ging es so schlecht und sie ging einfach in die Spargeln. Ich wollte ihr etwas Gemeines sagen, aber sie schaute mich so komisch an, dass ich es doch nicht tat.

Alle vom Hof außer Onkel Sepp, der nur noch auf der Eckbank in der Küche saß und Pfeife rauchte, fuhren mit dem Traktor los und Tränen kullerten ohne Ende in das schnell feuchtgewordene Taschentuch. Wieso konnte sie nicht einfach bei mir bleiben? Andere Mütter kümmerten sich um ihre Kinder, wenn sie krank waren. Ich lag immer mit meinem Teddybär alleine im Bett und keiner interessierte sich für mich. Immer nur Kühe, Milch, Pferde, Gras, Frucht und Heu.

Plötzlich hatte ich eine Idee! Stundenlang war ich alleine. Ich konnte diese geheimnisvolle Dose suchen. Sogar die Ohrenschmerzen wurden weniger, als ich in das Elternschlafzimmer tapste. Schnell hatte ich sie gefunden. Hinter den breiten Stapeln Unterhosen, nicht zu sehen, nur zu tasten, fand ich sie. Mein Herz klopfte bis zur obersten Haarspitze. Ich zögerte kurz, dann zog ich sie hervor: Das geschah meiner Mutter recht, wenn sie mich so krank alleine lässt!

Ich trug die rote Blechdose in mein Zimmer und schlüpfte wieder in das warme Bett. Zum ersten Mal sah ich sie bei Tageslicht. Überall hatte sie leichte Dellen. Das Blumenmuster, das in allen möglichen Rottönen gehalten war, wirkte durch die Verformungen fast fremdländisch. Ich öffnete vorsichtig den Deckel. Auf einem Stapel Briefe lag zuoberst ein Foto von Markus, auf dem er verkleidet zu sehen war. Mit schickem, altem Anzug und aufgeklebtem Bart sah er auf einem Sessel sitzend ernst in die Kamera – das war sicher nicht leicht für ihn, so einfach, wie man ihn normalerweise zum Lachen brachte. Wann wurde das Foto denn gemacht? Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, dass er einmal so verkleidet war. Ich drehte das Bild um.
Fotohaus Sperling, Roterlental. Die eingedruckte Schnörkelschrift irritierte mich. Meine Mutter kam aus dem Roterlental. Aber Markus war doch die letzten Jahre gar nie mehr dort gewesen und so erwachsen, wie er darauf aussah, musste es doch erst kürzlich aufgenommen worden sein. Ich legte das Foto nachdenklich zur Seite und griff nach dem ersten Briefumschlag. Er war an meine Mutter adressiert und sah sehr zerknittert aus. Ich nahm das Papier aus dem Umschlag und faltete es vorsichtig auf.


12.05.1961

Liebe Annemarie,

ich werde Deinem Wunsch entsprechen und Dir nach diesem Brief nie mehr schreiben. Es tut mir alles so unendlich leid, was geschehen ist. Wieso mußte ich auch unbedingt Hals über Kopf weg, nur, um meinen Traum zu erfüllen? Ich weiß nun, dass der Preis zu hoch war.

Ich liebe Dich bis an mein Ende – in meinen Melodien wird es Dich immer geben.
Erwin

Ich las den Brief dreimal. Meine Mutter hatte einen Freund gehabt, der von ihr weggegangen war. Aber was tat ihm so leid? Für meine Mutter gab es vor Papa schon einen anderen Mann. Das konnte ich mir schier nicht vorstellen. Vielleicht hat sie ihn richtig geliebt, wenn sie bis jetzt noch einen Brief von ihm aufbewahrte?

Das war richtig spannend und ich zog den Nächsten aus der Dose. Es war ein großer Umschlag. Meine Ohrenschmerzen schien es gar nicht mehr zu geben. Ich zog das feste Blatt aus dem Umschlag heraus und in mir drin machte es einen Schlag, den ich nicht beschreiben kann.
Ich las nur noch die Worte Adoptionsurkunde - Markus Eisenwein - Willi Irmler übernimmt die Vaterschaft...
Der Geburtsname von meiner Mutter war Eisenwein. Mein Mund war so trocken, als hätte ich einen Suppenlöffel voll Mehl hineingeschüttet. Markus war nicht mein richtiger Bruder? Was ist denn alles passiert, was ich nicht weiß? Ich ging Stück für Stück die einzelnen Zettel und Briefe durch, die meine Mutter so streng hütete. Ich fand eine gelbliche Anzeige aus einem katholischen Wochenblatt:

Arbeitswillige junge, hübsche Bauerntochter sucht für Ehe Bauern mit Hof, um kräftig mithelfen zu können. Mit Kleinkind.

Ich sah mir das Foto noch einmal an. Das war wahrscheinlich Erwin! Ich glühte vor Aufregung.
Ob Markus davon wusste? Markus, der Einzige, dem ich richtig vertraute, war nicht mein richtiger Bruder und dieser Erwin sein richtiger Vater? Ich merkte, wie mir wieder Tränen in die Augen schossen und die Ohrenschmerzen sich mit einem Schlag zurückmeldeten. Es gab noch einige Briefe von Freundinnen, die mich weniger interessierten. Mit zitternden Händen ordnete ich alles und stellte die Dose an ihren alten Platz zurück. Ich wollte mehr wissen, aber verraten wollte ich mich auch nicht.

Einige Tage später saßen wir alleine beim Kartoffelschälen.
„Mama, ich möchte dich etwas fragen, aber du darfst nicht nachfragen, woher ich das weiß“, begann ich die für mich wichtige Unterhaltung.
„Frag halt“, bekam ich zur Antwort. Ich war froh, dass sie wie gewohnt flink an den Erdäpfeln weiterschälte und mich nicht ansah, was mir gerade recht war, denn ich hatte etwas Angst, dass ich bei den nächsten Worten rot werden würde.
„Jemand aus dem Dorf hat zu mir gesagt, dass Markus gar nicht mein richtiger Bruder ist. Stimmt das?“
Das Schälmesser fiel ihr aus der Hand in die Abfallschalen hinein. Sie sah mich sehr ernst an.
„Das stimmt.“
„Wieso hast du den anderen Mann nicht geheiratet?“
„Wer hat dir das alles erzählt?“, fragte sie aufgebracht und wurde weiß.
Ich biss mir auf die Lippen.
„Ich habe versprochen, es nicht zu sagen. Ich halte mein Wort“, gab ich ihr wichtig zur Antwort, „sonst schimpfst du mit dem, der mir das gesagt hat, doch sicherlich.“
Sie zögerte. Aber nach einiger Zeit der Stille holte sie tief Luft.

„Der Erwin war ein junger Musiker und das zählte für meinen Vater nicht. Er wollte einen Bauern als Schwiegersohn. Ich war eine Schande für die Familie, als klar war, dass ich von ihm auch noch ein Kind bekomme. So musste ich so schnell wie möglich weg. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das war, damals im Tal, wenn du als junge Frau ein Kind ohne Mann hast. Als Erwin wegen der Musik nach Hamburg ging, wusste er nicht, dass ich schwanger war.“ Sie sah angestrengt auf ihre schrundigen Hände, während die Mundwinkel nervös zuckten.
„Weiß Markus... ?“
„Ja, seit er sechzehn ist.“ Ich war ganz durcheinander. Fragen über Fragen wirbelten durch meinen Kopf, ohne dass ich auch nur eine über die Lippen bringen konnte. Was wäre, wenn Markus zu seinem Vater gehen würde und mich hier alleine ließe? Warum hatte meine Mutter mir nie etwas erzählt? Mir wurde heiß und kalt. Den Kartoffelschäler hielt ich so fest in den Händen, dass er mir weh tat. Ich wollte nur noch weg und rannte aus der Küche in den Hof.

Ich setzte mich zu Karo, unserem Hund, und ließ mir die Hände ablecken, während die Tränen die Wangen herunterliefen. Meine Mutter kam hinterher und kniete sich neben mich.
„Nette, bitte hör mir zu. Wenn du älter gewesen wärst, würdest du es auch wissen. Bitte verzeih mir und glaub mir, dass ich dich nie mehr anlügen werde, egal, was kommt.“ Sie nahm mich ganz fest in ihre Arme und ich vergrub mein Gesicht an ihrem großen Busen. Ich sog den Duft meiner Mutter ein und fühlte mich wieder etwas besser. Sie streichelte meinen Rücken, bis ich nicht mehr weinte.

Markus besuchte seinen Vater zum ersten Mal, als er im Sommer darauf anfing, Musik zu studieren und sowieso nicht mehr zu Hause wohnte. Er brachte unserer Mutter CDs von ihm mit. Da ich fleißig am Englischlernen war, konnte ich lesen, dass sein Vater meiner Mutter das Lied My lost love gewidmet hat, was seither immer wieder von Mama oder mir abgespielt wird.

 

Heiko, ich freue mich wirklich sehr über deinen Eifer :) und deine kurzen, passenden Worte.

Aber eines muss ich doch mal loswerden: Dieser Begriff Mahlzeit ist für mich einer der schrecklichsten überhaupt im deutschen Sprachgebrauch.
Lediglich die Verbindung Heiko-kochen dämpft es etwas ab :D.

Danke für die Kritik.
bernadette

 

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