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Klappstühle und Boris R.

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11.07.2021
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Klappstühle und Boris R.

…Lucy was a dancer“, singt die Band.
Natürlich gecovert. Die Originale würden auf so einer kleinen Bühne nie auftreten. Auch wenn sie schon lange nicht mehr der ganz heiße Scheiß sind. Ihre große Zeit liegt zurück um Jahrzehnte. Mir ist das egal und den Anderen auch, die mit mir zusammen als Gratishörer hinter dem Zaun stehen und den Musikern auf der Bühne lauschen.
Einige kenne ich schon seit Jahren.

Es ist jetzt nicht so, dass ich mir keine Konzertkarte leisten kann. Kein Problem. Der Grund, dass ich jetzt alles von außen mit anhöre und nicht mehr reingehe, ist, dass ich dort nach mindestens vierzig Besuchen immer noch keine Bekanntschaften geschlossen habe. Dagegen hier, auf den billigen Plätzen kommt man leicht ins Gespräch. Sogar so intensiv, dass ich kaum noch etwas von der Musik zu hören bekomme, weil ich so damit beschäftigt bin, mir den Mund fusselig zu reden.
Mit zwei Männern habe ich mich besonders angefreundet. Wir drei sind fast immer da. Der eine, ein Deep Purple Fan vor dem Herrn. „Du kennst doch diese Hochseilartisten. Als ich vierzehn war, habe ich jemandem aus der Familie, der mit mir in einer Klasse war, Nachhilfeunterricht gegeben. Zum Dank hat er mir seine Deep Purple Alben für ein paar Tage geliehen. Sie haben ja schon zu DDR-Zeiten Tourneen ins westliche Ausland gemacht. Von dort hat er sich die Platten mitgebracht.

Ich frage Mr. WWW, was der Schüler von ihm jetzt so macht. Ich lese, dass einer der Pfeiler, zwischen denen das Seil aufgespannt war, während einer Vorstellung zusammenknickte. Er überlebte knapp, aber konnte danach nicht mehr nach oben. Er verfiel dem Alkohol und wurde nicht alt.
Die Truppe habe ich mal in den Achtzigern beim Pressefest des Neuen Deutschland im Friedrichshain gesehen. Jedes Jahr fand es dort im Volkspark statt. Ich konnte da gar nicht hinkucken, als sie mit dem Motorrad über das Seil fuhren. Ohne Netz.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nie Eintritt bezahle. Ich wollte schon etwas spenden, fand aber keine Kontoangaben auf der Website der Bühne. Warum sind sie so unbeweglich und verkaufen nicht ein Pauschalticket für den Sommer? Dann könnte ich mich endlich ehrlich machen, denn ich glaube, sie sind in finanziellen Problemen.

Nach dem Melanie-Konzert sagte der Chef im Anschluss zum Publikum: „Meine Frau und ich hatten schon schlaflose Nächte, ob wir das gestemmt kriegen. Aber ihr seid ja zahlreich erschienen.“
Wir Ossis machen wohl immer das Gleiche und probieren nichts aus. Keine Innovationen. Genauso, wie sich die ganzen kleinen Fleischerläden gegen Kartenzahlung gesperrt haben. Jetzt sind sie alle pleite. Viele Leute haben ja gar kein Bargeld mehr bei sich.

Natürlich an der Kasse keine Kartenzahlung möglich. Die Getränke sauteuer aber lauwarm. Was einem schon mal einen Cola-Whiskey, mein favorisiertes Getränk, vermiesen kann. Ich hab mal jemandem, der aus Bonn kommt, erzählt, dass wir im Osten nie kühles Bier hatten. „Schon das allein wäre für mich ein Grund gewesen, die Mauer niederzureißen“, erwiderte er.
Dagegen in Prag an jeder windschiefen Bretterbude gekühltes Pivo. Muss ja irgendwie gegangen sein.

Hohe Eintrittspreise bei Konzerten? Der Berliner weiß sich zu helfen. Die Lösung: Klappstuhl. Das erste Mal fiel mir das auf, als ich auf der Parkbühne Weißensee zu einem Konzert des Buena Vista Clubs war. Ich dachte schon, es ist ausverkauft, denn
rings um den Eingang hatten es sich viele Leute auf mitgebrachten Sitzen gemütlich gemacht.
Als ich an das Kassenhäuschen in Weißensee trat, wurde mir auch klar warum. Es wurde ein erklecklicher Preis aufgerufen. Für heutige Verhältnisse aber noch billig. Drinnen war es halbleer. Der Preis war aber eigentlich gerechtfertigt, da ein es großes Ensemble mit Sängern und Tänzern war.

Auch wir hier auf den billigen Plätzen alle mit Klappstuhl bewaffnet. Der eine meiner beiden Freunde trägt immer eine überdimensionierte Stofftasche mit sich rum, in der sich ein Klapphocker befindet. „Für siebenneundundneunzig bei Philipps in der Landsberger gekauft.“ Der Andere transportiert eine größere Version mit stabiler Rückenlehne im Kofferraum seines Autos. Meiner dagegen lässt sich zu einer winzigen Rolle zusammenpacken und ans Fahrrad hängen, ist dafür aber anspruchsvoller im Aufbau.

„Am besten kannst du in vor der Zitadelle in Spandau hören und in der Waldbühne. Dort sind bloß die Mücken ein Problem“, erzählt mir der mit dem Klapphocker. Aber auch hier hat man sie auf dem Hals. Was machen? Das Internet ist sich einig. Teuer, aber wirksam. Jetzt besprühe ich immer mich und die beiden Kumpels mit dem gelobten Gift. „Kannst du uns auch einsprühen, du bekommst auch ein Bier?“, fragt mich ein Pärchen, dass sich gerade im Gras häuslich niedergelassen hat. Und sie waren nicht die Einzigen. Warnung. Ohne Mückenspray besser kein Open Air im Park.

Einmal traf ich auf unserm Platz ein, und niemand war da. Ich saß schon ein halbe Stunde, da kam doch noch jemand, mit dem ich mich schon oft unterhalten hatte. Er brachte einen Bekannten mit. „Ich bin Fan von Boris Reitschuster“, erzählte der mir. Von dem hatte ich schon gehört.
Ein Scharfmacher. Ich erschrak mich. Der Abend schien gelaufen zu sein. Das würde auf stundenlange Diskussionen hinauslaufen. So schien es jedenfalls. Da fiel zu Glück ein Name. Es stellte sich raus, dass wir beide „Ihn“ lieben*. Einen Gitarristen, der schon mit fünfundzwanzig an Drogen verstorben war. Wir hatten unser Thema für den Abend gefunden.

Da geschieht es. Die Bluesband spielt gerade „Be my friend“ von Free. Plötzlich höre ich Laub rascheln, Zweige knacken und Schritte nähern sich. Ich verspüre aber merkwürdigerweise gar keine Angst, ganz im Gegenteil, mein Herz klopft freudig erregt. Eine zerzauste, abgemagerte, lichtumflutete Gestalt kommt näher. Als er die Musik hört, bleibt er kurz stehen, schaut auf, und ein scheues Lächeln fliegt über sein bleiches Gesicht. Er hat die traurigsten Augen von der ganzen Welt.
Er geht weiter, ohne sich nochmal umzublicken. So plötzlich wie die Gestalt aufgetaucht ist, verschwindet sie auch wieder in der Dunkelheit und wird vom dunklen Park verschlungen. Er ist es wirklich. Haben wir einen Voodoo Zauber ausgelöst.

Es wundert mich, dass sich meine beiden neuen Kumpels, die sich schon eine Weile länger kennen, nicht als Freunde bezeichnen. Sie haben noch nicht einmal ihre Telefonnummer ausgetauscht. Wobei der eine sowas gar nicht besitzt.

Er hat eine Art Vorrente und will alles an überflüssigen Kosten einsparen. „Pass auf, sie haben ihn nicht umsonst berentet, er hat ernsthafte psychische Problem“, warnte mich der Andere.
Eigentlich war mir gar nichts an ihm aufgefallen, nur das er ein außergewöhnliches Wissen über Musik besaß. Bis zu dem einen Tag. „Du warst bei der Stasi, du hast meine Akten gelesen“, warf er mir urplötzlich vor. Mein Argument, das wir uns erst wenige Jahre kennen, und es die Stasi schon seit über dreißig Jahren nicht mehr gibt, ließ er nicht gelten.
Seit dem Tag versuchte ich irgendwie mit seinem Verfolgungswahn umzugehen. Natürlich war er auch Coronaleugner und behauptete ernsthaft das Selensky die Russen überfallen hatte. Und es kamen noch mehr solche Dinger. Er redete sich dabei immer in Rage.

Ich hörte mir das geschockt an. Aber irgendwie kamen wir dann wieder auf die Musik zu sprechen, und da hatten wir Berührungspunkte. Er war Zeppelinfan total, aber am meisten schlug sein Herz für eine ungarische Band. „Mädchen mit Perlen im Haar“, den Song kannten wir alle im Osten. Ein gesungener Orgasmus.
Er liebte alles von ihnen. Hat wahrscheinlich damit zu tun, dass der Jugendsender DT64 die Band hoch und runter spielte. Ungarn war ja unser sozialistischer Bruderstaat. Und außerdem so ziemlich das einzige Land, dass wir besuchen konnten. Ich war auch mit Anfang Zwanzig dort. Er ebenfalls.

Eines Tages enttäuschte er, an dessen Verrücktheiten ich mich inzwischen gewöhnt hatte, mich schwer. Es wurde langsam dunkel, und es waren nur noch wir beide da.

Ich hatte dort auch öfter mal allein gesessen und keine Angst gehabt. Bis ich eines Tages ein Stöhnen hinter mir hörte.
Es war das, was man sich denken kann. Der Wichser, ein Typ Anfang Zwanzig, tat mir zwar nichts, aber seit dem Tag vermied ich es, im Dunkeln dort alleine zu sitzen.

Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass mein Kumpel, wie immer, bis zum Schluss des Konzertes blieb. Heute hat er plötzlich keine Lust mehr, verabschiedete sich kurz und ließ im allein in der Dunkelheit sitzen. Ich war entsetzt, den ich hatte für ihn mit den Jahren, die wir uns schon dort trafen, kameradschaftliche Gefühle entwickelt. Aber er, der keine Angehörigen mehr besaß, scheinbar nicht.

„Was dachten die beiden Männer eigentlich über mich“, fragte ich mich. Eine komische Frau, die Musikfanatikerin war?Wahrscheinlich machten sie sich gar nichts aus mir. Eine merkwürdige Freundschaft ohne Freundschaft verband uns.

Eines Tages entdeckten die Ukrainer, die dort in der Nähe im Flüchtlingsheim lebten, die Bühne. Der eine der beiden Kumpel, der in Moskau studiert hat, redet mit ihnen. „Die Frau hier hat vor kurzem ihren Mann verloren.“ Eine junge Frau, um die zwei kleine Jungen auf geschenkten Fahrräder herumdüsen. Sie weiß noch gar nicht, was ihr gerade geschieht. Auch sie Deep Purple Fan. Obwohl unter Dreißig.
Leute in diesem Alter kennen die Band normalerweise nicht mehr. Da fällt mir ein, dass es in der Ukraine wohl genauso ist wie in der DDR und im übrigen sozialistischen Lager. Alle waren wir musikalisch etwas zurück in der Zeit, während im Westen längst andere Töne angesagt waren. Sie tanzt nach „Child in Time“ mit ausgestreckten Armen. Die Augen geschlossen.

Wir sprechen über die Ukraine. Der, der so gut Russisch spricht, sagt: „Sie müssen verhandeln“, und sieht mich dabei irgendwie vorwurfsvoll an. Gerade so, als wenn ich ein Hemmschuh dafür wäre. Wahrscheinlich ist es so, dass man auf den, den man für den Schwächsten hält, und dass ich keine solide Chefsekretärin bin, sieht er mir an, seinen Zorn richtet. Auch wenn der gar nichts dafür kann. Das machen viele so.

Manchmal sind wir ein Herz und eine Seele, und er erzählt viel über sich. Die Musik war für ihn als Junge Flucht aus seiner Scheidungsfamilie, hat ihm viel ersetzt. Manchmal habe ich aber auch wieder den Verdacht, dass er mich gar nicht leiden kann, und er, wenn er mit mir über seine beiden Frauen und seine Kinder sprach - zu denen, wie auch zu seinen Enkeln, er keinen Kontakt hatte - es so machte, wie in der Sage von König Midas. Dort vertraut sein Barbier das Geheimnis, dass dieser Eselsohren hat, dem Schilfrohr an. Dann kommt ein Knabe und baut sich daraus eine Flöte, die die Wahrheit in die Welt hinausposaunt. Hatten wir mal in der Schule.

Er brauchte bloß einen geduldigen Zuhörer. Also ich meine, dass könnte jeder sein. Der muss ihm noch nicht einmal sehr sympathisch sein. Er, der Menschenkenner war, hatte wohl meine Charakterstruktur erkannt und wusste, dass er den in mir gefunden hatte.

Schon merkwürdig, aber mit einmal fing der eine Beiden mit lesen an. Natürlich nicht der, der in der Sowjetunion studiert hatte. Der war sowieso schon ein Intellektuellentyp vor dem Herrn und schrieb Gedichte. Ich hatte ihn immer in Verdacht, dass er mich geistig gar nicht für voll nahm und für ein nettes Dummchen hielt.
Irgendwie hatte der Literatureinsteiger sich vorgenommen, als erstes den „Idioten“ von Dostojewski zu lesen. Ich, die in dem Buch einmal bis zur Hälfte und das zweite Mal bis zum drei Vierteln durchgedrungen war, hätte es ihm gern geborgt, konnte es aber nicht finden. Dafür aber jede Menge anderes Zeug.

Am besten gefiel ihm Jörg Fausers „Rohstoff“. Hing wahrscheinlich damit zusammen, dass er selber trockener Alkoholiker war. „Früher habe ich manchmal drei Flaschen Wodka am Tag getrunken“, erzählt er mir. Er begann auch zu schreiben. Es ging um eine Reise mit einem Kumpel durch Ungarn. „Da ist viel „Omega“ mit dabei. Er wollte mir aber nichts zeigen. Er schrieb übrigens noch mit Kugelschreiber in ein Heft. Voll Oldschool.

Und er gehörte zu denjenigen, die noch CDs kauften. „Ich brauche was, was ich in die Hand nehmen kann, wenn ich Musik höre. Meine Einraumwohnung am Tierpark steht voller Kartons mit CDs.“ Seine Ernährung als Junggeselle war auch merkwürdig. Er kochte nie und aß hauptsächlich Erbsen aus der Dose – kalt - und Ölsardinen.

An einem Wochenende im Sommer findet jedes Jahr eine Bikerfahrt statt im Gedenken an die Opfer der Motorradunfälle. Eine endlose Prozession von Motorrädern, die in dieselbe Richtung fuhren, wie ich auf meinem Fahrrad. Die Fußgängerampeln alle auf Rot.

Ein paar Männer und eine Frau in Lederjacken standen im Park. Sie hatten sich wohl verlaufen. „Wisst ihr wo das Klubhaus ist?“, fragen sie in bayrischem Dialekt. Das kennen wir nicht. Mir fiel auf, dass die Frau, die von zierlicher Gestalt ist, feine Linien des Leids im Gesicht hat. Sie macht wohl nicht von ungefähr bei dieser Gedenkveranstaltung mit.

Wenn ich im Park eintraf, und die Beiden waren nicht da, langweilte ich mich grässlich und fühlte mich einsam. Obwohl ich, wenn ich allein war, mich endlich mal auf die Musik konzentrieren konnte. Mir war wohl als Einzigem von uns Dreien klar, dass es eigentlich gar nicht so um die Musik ging, mehr um´s Zusammensein mit Freunden. Obwohl die Beiden sich ja um keinen Preis als Freunde bezeichnet wissen wollten.

Einmal staunte ich Bauklötzer. „Morgen spielt ´ne Elvis-Cover-Band. Ihr seid doch auch wieder da?“, fragte ich sie. Beide, unabhängig voneinander: „Ist nicht meine Musik. Lass ich ausfallen.“

Was anderes hatten sie aber auch nicht vor. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ist doch egal, wenn du dich mit Kumpels triffst, mit ihnen lachst, den schönen Abend und überhaupt das Leben genießt, welche Klänge im Hintergrund laufen. Wir haben ja sowieso kaum auf die Musik gehört, wenn wir in Gespräche vertieft waren.

Dann der Tag im September. Das letzte Konzert für diese Saison. Eine Bluesband spielte. Es war kalt und dunkel. Leichter Regen fiel. Nach den letzten Klängen trennten wir uns, aber so, wie man sich trennt, wenn man sicher ist, dass man sich spätestens in der nächsten Woche wiedersieht. Ich sah ihm noch nach, wie er durch den dunklen Park mit dem Klappstuhl in der Hand zu seinem Auto lief.

Das Jahr darauf. Ich kam zum ersten Konzert. Derjenige, der plötzlich anfangen hatte zu lesen, redete mit einer Frau. Er sah mich und kam zu mir. „Das ist Liane“. Wo hatte ich bloß den Namen schon mal gehört. Da fiel es mir ein. So hieß die Freundin von seinem Kumpel.
„Sprich sie besser nicht an. Er ist nicht mehr. Es kam alles ganz plötzlich, sagt sie.“ Mir blieb die Spucke weg. Die Frau weinte. Die Band coverte gerade Deep Purple. Seine Lieblingsband. „Das ist ja ´ne verdammte Trauermusik“, denke ich.

*Paul Kossoff

 

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