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Kleine Brötchen
Er überquerte die Straße und öffnete die Tür zur Bäckerei. Der Duft frischer Brötchen stieg ihm in die Nase und er atmete tief ein.
Da war sie, gleich hinter der Theke. Natascha, der eigentlichen Grund seines täglichen Besuchs am Morgen. Er sah zu, wie sie die beiden Kunden vor ihm bediente und beobachtete alle ihre Bewegungen. Ihre schlanken Finger packten flink die frischen Brötchen in die Tüte, und ab und zu strich sie damit auch die widerspenstige blonde Strähne ihres Haares zurück hinters Ohr. Ob sie wohl so wunderbar roch wie die Zimtschnecken, die sie immer in der linken Ecke der Theke auslegte?
Er wusste nicht viel von ihr. Durch Gespräche, die er die letzten Monate aufgeschnappt hatte, wusste er lediglich, dass die Bäckerei ihren Eltern gehörte, sie mit im Familienbetrieb arbeitete und auch direkt über der Bäckerei wohnte.
Wie gern würde er sie ansprechen. Aber immer, wenn er ihr dann gegenüberstand und sie ihn anlächelte, wurde sein Herz ganz warm und sein Kopf ganz leer.
„Morgen“, nahm er sich dann vor, „morgen sage ich etwas zu ihr.“ Aber wie jeden Morgen brachte er nur die Bestellung seiner zwei Brezeln raus. Genau wie jetzt auch. Sie sah ihn direkt an und lächelte ihr unvergleichliches Lächeln.
„Guten Morgen, was darf es heute sein?“ Er holte tief Luft und antwortete nach kurzem Zögern: „Ich hätte gerne zwei Butterbrezeln bitte.“ Er nahm seine Tüte entgegen und verließ den Laden eilig, denn er durfte den Bus zur Arbeit nicht verpassen.
Hatte sie ihm gerade zugezwinkert? Oder doch nur geblinzelt? Würde er es je schaffen, sie anzusprechen, ihr zu sagen, was er für sie empfand? Würde sie ihn auslachen? Dann könnte er nie wieder Brezeln aus der Bäckerei holen oder ihr in ihre strahlend blauen Augen sehen. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich in die Herzgegend.
Aber es war schon immer so gewesen. Befand er sich in der Nähe einer Frau, die ihm gefiel, fing er an zu stottern und zog sich schnell zurück. Zurück in Sicherheit. Was sollte er nur dagegen tun? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr frustrierte es ihn.
Völlig in Gedanken versunken überquerte er die Straße. Er hört noch die Reifen quietschen und dann nichts mehr.
Er öffnete die Augen. Sein Verstand war unglaublich langsam und er brauchte eine Weile um zu verstehen, wo er war. Der pochende Schmerz in seinem linken Bein und die weißen Zimmerwände brachte ihn darauf, dass er in einem Krankenhaus lag. Sein Hals fühlte sich ausgedörrt an und er musste doch dringend zur Arbeit.
Die Tür ging auf, eine mollige Krankenschwester kam herein und erklärte ihm, dass er sich bei dem Unfall das Bein gebrochen hatte. Zum Glück nichts Kompliziertes, ein paar Wochen mit Gips und er wäre wie neu.
Die ersten Tage vergingen schleppend. Ein Freund kam vorbei und brachte ihm frische Sachen aus seiner Wohnung und deckte ihn mit Büchern ein. Das Zimmer teilte er sich mit einem älteren Mann, der Nachts furchtbar laut schnarchte, dafür tagsüber kaum etwas sagte.
Nach dem vierten Tag brachte man ihm einen Rollstuhl. So konnte er das Zimmer verlassen und sich im Krankenhaus umsehen.
In der Eingangshalle gab es einen Kiosk und sogar ein kleines Café. Am anderen Ende des Gebäudes ging es raus in einen kleinen Park. Dort gefiel es ihm. Er schnappte sich den Krimi aus seinem Zimmer und fuhr zurück in den Park um zu lesen.
„Dich hab ich gestern noch nicht hier gesehen.“
Er blickte von seinem Buch auf. Neben ihm stand eine junge Frau. Die roten Haare unordentlich zu einem Zopf gebunden grinste sie ihn an.
„Ja, nein, ich hab den Park heute erst entdeckt.“ Er vergrub seine Nase wieder in dem Buch. Es war ihm unangenehm nicht auf seinen eigenen Beinen stehen zu können. Er fühlte sich hilflos.
„Wie lang bist du schon da? Es kann hier ziemlich öde werden auf Dauer.“
Er ließ das Buch erneut sinken und musterte sie. Die weite Jogginghose passte nicht zu ihrer zierlichen Figur. Ihre Sommersprossen und ihre Stupsnase ließen sie frech aussehen. Immer noch sah sie grinsend auf ihn herab. Vielleicht hatte sie Recht. Den ganzen Tag lesen konnte er nicht und wahrscheinlich war ein wenig Abwechslung ganz nett.
„Ich bin vor vier Tagen hier gelandet, weil mich ein Auto angefahren hat.“
Sie nickte. „Lass uns ein Stück weiter gehen, da drüben ist eine Bank. Ich darf mit dem Knie nicht so lange stehen.“
Er folgte ihr. Sie setzte sich auf die Bank und brachte sich mit ihm auf Augenhöhe.
Ihr Name war Ina und sie war erst vor wenigen Monaten in die Stadt gezogen wegen eines neuen Jobs. Sie kannte niemanden hier und stürzte sich in die Arbeit. Ein Bänderriss bescherte ihr eine Zwangspause und ließ sie hier landen.
Der Nachmittag verging im Flug und beide gingen zurück auf ihre Zimmer. Für heute gab es nur noch Abendessen und Visite.
Am nächsten Tag trafen sie sich wieder im Park. Es war so wunderbar zwanglos mit ihr zu scherzen und sie zum Lachen zu bringen. Schnell gewöhnte er sich die kommenden Tage an Ihre Anwesenheit.
„Morgen werde ich entlassen“, erzählte sie ihm eines Morgens.
„Hey, das freut mich! Dann kommst du endlich raus hier aus dem Laden“, antwortete er ihr und schlug ihr freundschaftlich auf den Rücken.
„Ich kenne hier niemanden und weiß nichts über die Stadt. Wie wäre es, wenn wir uns mal treffen und du zeigst mir die Sehenswürdigkeiten, die es hier gibt?“
Er begann sich unwohl in seiner Haut zu fühlen. Er dachte an Natascha.
„Ich weiß nicht, es gibt da jemanden“, antwortete er zögernd.
Ihre Augenbraue rutschte hoch. „Oh? Wer ist sie und wie kommt es, dass sie dich noch nicht besucht hat?“
„Sie arbeitet und – na ja, ich mag sie, aber irgendwie … weiß sie das noch nicht, glaub ich.“
Ina schmunzelte. „Dann wird es Zeit, dass du es ihr sagst, sonst wird sie es wohl nie erfahren, oder?“
Recht hatte sie ja. Und jetzt würde sie ihn vielleicht auch für einen feigen Trottel halten. Schnell wechselte er das Thema.
An nächsten Morgen kam Ina um sich zu verabschieden. Sie drückte ihm ihre Visitenkarte in die Hand.
„Vielleicht meldest du dich ja mal, wenn du Zeit findest, und wir treffen uns mal und quatschen, ich würde mich freuen.“ Sie umarmte ihn kurz und schon war sie verschwunden.
Nachdenklich sah er auf die Visitenkarte und steckte sie dann in sein Portmonee.
Er schnappte sich seinen Krimi und fuhr in den Park. Er hatte das Buch seit Tagen nicht mehr angerührt, aber wirklich darauf konzentrieren konnte er sich nicht.
Der Park war ungewohnt still. Er legte das Buch zur Seite und gab sich seinen Tagträumen hin. Sicher würde er das Krankenhaus auch bald verlassen. Dann könnte er endlich wieder morgens in die Bäckerei gehen. Ob Natascha aufgefallen war, dass er schon seit Tagen nicht mehr kam? Ob sie sich vielleicht Sorgen machte, oder sich zumindest wunderte? Er rief sich ihr Gesicht ins Gedächtnis. Die blonde Strähne, die einfach nicht hinter dem Ohr bleiben wollte, die blauen Augen, ihr Mund, der beim Lächeln eine Reihe weißer Zähne freigab, die Sommersprossen. Er stutzte. Hatte sie Sommersprossen? Nein! Irritiert schüttelte er den Kopf.
Dann sah er ihre Hände, wie sie flink die Bestellungen ausführten, sah sich auf sie zugehen, etwas zu ihr sagen und wie sie den Kopf zurück legte und lachte. Lachte wie … Ina? Eigentlich hatte Ina ein ganz bezauberndes Lachen. Hatte er Natascha je Lachen gehört? Bisher noch nicht.
Die nächsten Tage zogen sich endlos in die Länge, bis er die erlösende Nachricht bekam, dass er entlassen werden sollte. Mit einem Gehgips und mit Krücken ausgestattet ging er nach Hause. Er brauchte etwas Übung, bis er mit den Krücken zurecht kam, aber dann machte er sich endlich nach langer Zeit wieder auf den Weg zu seiner Bäckerei.
Voller Erwartung und Aufregung öffnete er die Tür. Würde sie ihn erkennen? Würde sie ihn fragen, was passiert war? Warum er so lang nicht da war? Würde er vielleicht heute mit ihr ins Gespräch kommen?
Sie zeigte ihm das vertraut gewordene Lächeln, von dem er so lange geträumt hatte.
„Was darf es heute sein?“
„Zwei Butterbrezeln bitte“, antwortete er wie immer. Geschickt packte sie die Brezeln in die Tüte und reichte sie ihm über die Theke zusammen mit dem Restgeld. Schon wand sie sich dem nächsten Kunden zu.
„Und was darf es für sie sein?“, hörte er sie sagen. Sie lächelte und zwinkerte dem anderen Mann zu. Oder hatte sie doch nur geblinzelt?
Er musste etwas ändern. Und er wusste jetzt auch ganz genau was. Mit einem Grinsen verließ er die Bäckerei.
Abends suchte er sorgfältig nach passenden Klamotten und verließ seine Wohnung.
Am Ziel angekommen ging er zielstrebig auf die Haustür zu und klingelte. Er hörte Bewegung in der Wohnung und kurz danach öffnete sich die Türe.
Er hielt den Reiseführer hoch und sagte lächelnd: „Ich zeige dir alle Sehenswürdigkeiten. Ich kenne sie nämlich selbst noch nicht alle.“