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kleine Eitelkeit
Im faden Neonlicht begutachtete sie ihre Züge. Ihre Lippen, ihre Augen, ihr Gesicht. Sie hatte sich zu grell geschminkt, war es ihr nicht vorher aufgefallen? Nun hätte sie am liebsten alles verwischt, verpfuscht, so sah sie aus. Billig, in deinem Alter noch. Wie eine aufgetakelte, alte Schachtel, so sah sie sich selber im Spiegel – wo war nur der Stil? Und wofür nur? Sie mochte sich nicht weiter anschauen, doch sie kam nicht von sich los. Es quälte sie, doch brannte dieses Leid nicht schmerzhaft genug, sie hätte sich am liebsten die Fingernägel blutig eingerissen, an jedem Finger, an jeder Hand. Sie hätte diesen Schmerz genossen, doch ihr Anblick genügte ihr bereits. Hier steh ich, in dieser Rasthaus-Toilette, auf dem Weg zurück. Nach Hause. Nicht mehr weit, noch drei Stunden. Sie zog ihre Wangen hinunter und starrte sich in die blutunterlaufenen, geröteten Augen. Viel zu bunt, zu aufdringlich hatte sie Lidschatten aufgelegt, heute morgen. Grotesk, dachte sie. Ich sehe aus wie eine Schauspielerin. Wohl mehr wie eine billige Hure. Nein, traurig, traurig war das richtige Wort. Es kam ihr leise über die knallrot gefärbten Lippen. Traurig. Ich sehe aus wie eine traurige, alte Frau. Das Licht der Röhren über ihr zuckte. Sie rückte näher an den Spiegel heran. Ihr Atem roch nach abgestandenem Kaffee und blauem Qualm, ihre Poren wurden riesengroß.
Sie dachte an die vergangenen Stunden. Eben erst waren sie aufgebrochen, vor knapp zwei Stunden, die Rückfahrt einer Gemeinschaftstour, nach Paris. Diese Lippen hatten das Grab von Oscar Wilde geküsst, sie hatten Riders On The Storm gesummt, ein „petit dejeuner“ genossen, Paris, oh Paris. Wie konnte sie sich nun so dunkel fühlen, so leer? Sie griff in ihre Handtasche und entzog ihr ein Taschentuch, sie wischte sich kräftig über die Lippen, als könnte sie sie damit weg radieren. Immer wieder presste sie den Stoff über ihre Lippen, von links nach rechts, von rechts nach links. Dieser Druck ließ sie leben, sie spürte da war noch etwas in ihr, aber sie konnte es nicht greifen. Fang jetzt bloß nicht an zu weinen, ermahnte sie sich, die Zeit wird nicht reichen, der Bus fährt gleich weiter, was werden die anderen nur denken? Sie strafte sich selber mit einem Blick und verhärtete ihre Seele. Reiß Dich zusammen. Reiß Dich zusammen. Mit diesem Mantra steckte sie ihr Taschentuch zurück und ließ den Verschluss ihrer Handtasche zuschnappen. Sie würde die Zähne zusammenbeißen, die Lippen aufeinander pressen und alles hinunterschlucken. Sie würde standhaft bleiben.
Auf den gelblichen Bodenfliesen hinterließen ihre glänzenden Schuhe einen undeutlichen Schatten, der Rest ihres Körpers verschwamm im Licht. Als sie die Türe öffnen wollte, wurde ihr der Griff vor der Nase weggezogen – eine junge Mutter mit einem Kleinkind auf dem Arm rannte sie fast um. Ihr Lächeln war eine Grimasse. Ohne ein Wort ging sie hinaus, die Treppe hinauf, wo die anderen Reisenden sich mit Zeitschriften und einem kleinen Imbiss versorgten. Einige standen draußen und rauchten, andere waren schon zum Bus zurückgekehrt. Die Sonne schenkte ihre letzten Strahlen den Autoscheiben, auf denen sie sich spiegelten. Es war Herbst. Das lag spürbar in der Luft. Im Radio spielten sie einen alten Schlager, sie ging nach draußen und zündete sich eine Zigarette an. Seufzend atmete sie aus. Noch drei Stunden hatte der Busfahrer eben durchgesagt, vor der Pause. Drei Stunden noch, dann bin ich wieder daheim. Sie dachte an ihre Kinder, an Judith und an Daniel, sie wollte sie wiedersehen, morgen, oder besser noch heute, sie brauchte sie, heute, doch unmöglich. Es erschien ihr unmöglich, sich bei ihnen zu melden, vielleicht nur ein kurzes „Hallo“ und ein „Ich bin wieder da“ und ein „Schön war´s“ und ein leises „Bis bald dann“. Doch mehr konnte sie sich nicht vorstellen. Als alle wieder im Bus saßen, fuhren sie weiter, sie machte gute Miene.
Sie legte ihren Schlüsselbund auf den kleinen Tisch neben der Garderobe und zog ihren Mantel aus. Dann holte sie die Tasche von vor der Türe und verriegelte diese mit der Kette. Sie ging ins Bad und zog sich ihre Kleider aus, nahm die gemütliche Jogging Hose von der Heizung und kletterte hinein. Ihr Haar band sie mit einem Haargummi nach oben und nahm einen Wattebausch, um sich abzuschminken. Eigentlich war es doch eine nette Fahrt gewesen, sie hatte neue Leute kennengelernt und sich auch gut unterhalten. Und sie war in Paris gewesen. So viele tolle Bilder hatte sie gemacht. Von dem kleinen Zusammenbruch eben in der Toilette an der Autobahn mal abgesehen ging es ihr doch gut, sie hatte während der restlichen Rückfahrt mit diesem Ehepaar aus Köln geredet und auch manchmal gelacht. „Oh, Frau Gerber, wie lustig“. Die alte Uhr im Badezimmer tickte laut und zeigte Einundzwanzig Uhr vierunddreißig an. Gleich wollte sie noch etwas lesen, schon vor der Fahrt hatte sie sich Das Bildnis des Dorian Gray besorgt, und dann aber auch schlafen. Sie griff nach ihrem Arzneimittelspender und entnahm ihm die zwei Tabletten, die ihr der Arzt verschrieben hatte. Für die Nacht, hatte er gesagt. Sie schluckte sie, putzte sich die Zähne und knipste das Licht hinter sich aus. Auf der Straße hörte man ein junges Pärchen miteinander herum albern, im Schein der Laternen tanzten ihre Schatten über die Autos. Nach wenigen Seiten schlief sie ein.
Um Acht Uhr wachte sie auf, ihr standen die Haare wild vom Kopf, sie hatte noch immer ihre Jogging Hose an. Sie spürte Paris noch in ihren Beinen, einen Muskelkater hatte sie vom vielen Herumlaufen bekommen. Sie brühte für sich eine Tasse Kaffee auf und röstete ihr Brot im Toaster. Während das Ei im Wasser kochte ging sie ins Badezimmer und erledigte ihre Morgentoilette. Licht strömte bereits durch das halb durchlässige Glas ihrer Scheibe und sie drehte den Wasserhahn auf, um sich ein Bad einzulassen. Sie ging zurück in die Küche und kramte unten im Schrank nach dem Tablett, das so gut auf der Badewanne hielt. Sie hatte beschlossen, es sich heute richtig gut gehen zu lassen und wollte in der Wanne frühstücken. Es war zu hören, wie sich jemand in der Wohnung nebenan die Nase putzte. Aus ihrem Schlafzimmer holte sie das Buch und als die Eieruhr klingelte erschreckte sie das Ei unter kaltem Wasser. Mit Marmelade, etwas Käse und Wurst, dem Ei, trohnend in einem Keramikeierbecher, Salz und Pfeffer, mehreren Scheiben Brot und guter Butter kehrte sie ins Bad zurück und stellte das Tablett auf den Beckenrand. Sie zog sich aus und als sie in den Spiegel blickte, waren Ihre Gedanke weit weg von den trüben und trostlosen des gestrigen Tages. Sie fand, für ihre achtundfünfzig Jahre hatte sie sich gut gehalten und so wie gestern, das schwor sie sich, wollte sie nie wieder vor die Türe gehen. Fast hätte sie gesungen. Als sie den Wasserhahn zudrehte, er war beschlagen von dem warmen Wasser in der Wanne, klingelte es an der Türe. Sie wollte nicht öffnen, doch als es wiederholt schellte, seufzte sie und zog sich ihren Bademantel an. Sie schaute durch ihren Türspion und erblickte einen kleinen Jungen von vielleicht sieben Jahren die letzten Stufen erklimmen, bevor er an der Türe aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Judith fand sie, vor der Badewanne liegend. Mehrfach hatte sie versucht, ihre Mutter zu erreichen, und dann beschlossen, nach dem Rechten zu schauen. In ihren Bademantel gehüllt sah sie friedlich aus, die Sanitäter hatten mit dem Kopf geschüttelt, sie hatte sich schon ganz kalt angefühlt. Im faden Neonlicht begutachtete sie die Züge ihrer Mutter, sie war so schön gewesen.