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Kleiner Fuchs

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11.07.2021
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Kleiner Fuchs

Was ist Freundschaft, warum hat sie solche Macht? … Jeder weiß, was Liebe ist, niemand weiß was Freundschaft ist.
Joyce Carol Oates In der Region von Eis

Die Menschen haben sich auf dem Hof versammelt. Flammen schlagen aus dem Dach. Nah der Dachrinne stehen zwei Gestalten und halten sich an den Händen. „Komm Katharina“, sagt er zu ihr und Hand in Hand springen sie in das Sprungtuch von der Feuerwehr.
So hätte es sein können, denn in diesem Haus hatte es wirklich mal einen großen Brand gegeben. Da wohnte er aber noch gar nicht da, und sie stand unten mit den anderen Mietern und trank heißen Tee, den die Leute aus dem Vorderhaus ihnen gebracht hatten.

Jahre zuvor. Wir sitzen im Berliner Ensemble, meine Mutter und ich. Sie geben gerade den Kleinen Prinzen. Ödet mich eigentlich an. So Phantasyzeug lag mir noch nie. Mit zehn, zwölf habe ich meine Märchenbücher zugeklappt. Seitdem möchte ich nichts mehr von Prinzen und von Schlangen, die sprechen können, wissen. Und genau solche kommen hier in einer Tour vor.
Aber an der einen Stelle zerschmelze ich dann wie Erdbeereis an der Sonne. Die meisten, die das Buch kennen, werden sich schon denken, welche das ist.

„Er war nur ein Fuchs wie hunderttausend andere Füchse. Aber ich habe ihn zu meinem Freund gemacht, und jetzt ist er einzigartig auf der Welt.“

Das ich das jetzt hier aufgreife, darauf hat mich Katharina gebracht, die, zugegebenermaßen, sehr zu falscher Sentimentalität neigt und am Telefon genau diese Sätze aus dem Kleinen Prinzen zitierte.
Es ging darum, dass sie und ihr Nachbar, ein Ingenieur, der neu in Berlin war, und der ihr Sohn sein könnte, sich rein freundschaftlich angenähert hatten. Sie erzählte mir viel von ihm.
Das Übliche. Er richtete ihren Laptop ein. Sie tranken bei ihm einen Kaffee, der in einer komplizierten Apparatur zubereitet wurde und sehr gut schmeckte. Er buk Brot im Gusseisentopf. Natürlich schaffte sie sich auch gleich einen an. Hat aber bis heute noch kein Brot damit gebacken.

Ich hatte meine Zweifel, ob die Freundschaft haltbar war, da die Beteiligten so völlig unterschiedlich waren, was ihre Situation anbelangt. Ich würde es mal so umschreiben: Sie hängt ein bisschen durch. Hatte auch schon Psychiatrieerfahrungen gemacht. Auch mal ne Weile vom Flaschensammeln gelebt wegen Schulden. Singl, alleinerziehend. Nachwuchs lange erwachsen. Kurzum, ne gar nicht mal so untypische Berlinerin.
Vom IQ dagegen kann sie, die hochbegabt ist, ihn locker schlagen.

Ein geborenes Erzähltalent.

Ich versuche, immer sie zu animieren, die Geschichten ihres verrückten Hauses – so strange Geschichten, wie sie, die seit Jahrzehnten in diesem Haus lebt, mir erzählte, habe ich noch nie gehört -, aufzuschreiben.
Von dem, der den Brand, von dem am Anfang die Rede war, verursachte, indem er einfach soviel Müll in einen Eimer presste, dass dieser sich eines Tages von selbst entzündete, bis zu dem, der im Drogenrausch in einen Spiegel fiel, ein Anderer dagegen bekifft aus dem Fenster.
Die Freundin eines Mieters, die aus Rache, weil er sie hängengelassen hatte, die ganze Etage mit brauner Farbe zu pinselte. Übrigens auch die Scheiben seines Autos. „Schadet ihm gar nichts“, dachte ich.

Der entkleidete Mann, der eines Tages im Winter in Kreuzberg gefunden wurde, und von dem was in der BZ stand, gehörte natürlich auch in ihr Haus. Dann die Sache mit dem Laden im Vorderhaus, der an einem Wochenende voll mit Scheiße lief, weil ein Mieter ganz oben einfach sein Katzenstreu ins WC warf. Im Frühjahr Neunzig traf sie im Hausflur ein Mitglied aus dem ZK der SED, die rechte Hand von Honecker. „Wir mussten aus Wandlitz ausziehen“, erzählte ihr seine Frau und weinte.

Sie blickte einmal aus dem Fenster und sah, dass am gegenüberliegenden Haus ein Mann aus dem Fenster fiel oder besser sprang. Er war schwerverletzt, überlebte aber. Sie unterhielt sich später noch mit seiner Freundin, wegen der er aus dem Fenster gesprungen war. „Was ist bei euch los?“, fragte ich sie.

Wo war ich stehengeblieben. Ach ja, ihr neuer Nachbar. Eines Tages fiel ihr auf, dass er ihr gegenüber anders geworden war. Inzwischen war er in festen Händen, und ihre nachbarschaftliche Beziehung hatte wohl für ihn an Bedeutung eingebüßt. Nicht mal ihre Suppe, die er früher gerne gegessen hatte, mochte er mehr. „Ich bin jetzt Veganer, genau wie Hanna“ - so hieß seine Freundin -, sagte er zu ihr.
Sie, natürlich traurig. Hoffte zu Anfang noch, alles zu kitten. Erfolglos.
Zum Abschluss fällt mir nicht Besseres ein, als noch einmal Joyce Carol Oates zu zitieren.

...Bei einer Freundschaft gibt es keinen offiziellen Anfang, also kann es auch kein offizielles Ende geben. Alles geschieht – und dann geschieht plötzlich nichts mehr. Aber nichts hat ein Ende…

Vielleicht sollte ich hier doch nicht so die Literaturexpertin durchhängen lassen. Deshalb anderes Ende.
Meine Freundin Katharina ist wohl nicht die Einzige, die zu Sentimentalität neigt. Auch ich kann auf die Tränendrüsen drücken.

Ich fahre nachts mit dem Fahrrad über die Lichtenberger Brücke. Neben der Auffahrt befindet sich ein kleiner Park. Genau dort geht mir immer die Puste aus, und ich muss schieben.

Da steht plötzlich jemand neben mir, der mich interessiert anschaut. „Ein Hund“, denke ich. „Aber wo ist sein Besitzer? Etwa ausgesetzt!“ Er wirkt ganz verlassen. Da fällt mir auf, dass der zutrauliche Hund einen buschigen Schweif besitzt. „Welche Rasse mag das wohl sein?“ Endlich klingelt es bei mir. Fuchs. Ein junger noch. Natürlich. Wir zwei allein in der nächtlichen Großstadt. Irgendwie beide nicht so richtig einheimisch.
Aber man schlägt sich durch und findet sein Schlupfloch.

 

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