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Klischee

gox

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13.02.2004
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Klischee

Behütet wuchs ich auf, fast spießig. Samstags wurde in unserer gutbürgerlichen Postbeamtenfamilie gebadet und sonntags gab es einen Sonntagsbraten. Unsere Sofakissen hatten "Ohren", den berühmten Hausfrauenknick in der Mitte des Kissens. Feiertags tranken die Erwachsenen ein Glas lieblichen Weißweins.

Man möchte ausscheren, wenn die Richtung allzu gradlinig ist. Vermutlich ereignen sich deshalb so viele Verkehrsunfälle auf schnurgerader Fahrbahn. Und vielleicht endet mein Leben deswegen fast genau so. Ich bin ausgeschert.
Es war an einem Badesamstag, als ich meinem Vater unvermittelt sagte, dass ich Tänzer werden wollte. Er sah mich an. Lange. Dann fragte er sehr ruhig: „Hat dein Vater so etwas verdient?“
Ich antwortete ihm nicht. Ich konnte es nicht, meine Augen füllten sich mit Tränen. Als Vater das sah, wandte er sich ab. Sechs Wochen später habe ich, dank der Hilfe meiner Mutter, mit dem Ballettunterricht begonnen. Damals war das sehr ungewöhnlich. Auch Mutter fand meine Tanzbegeisterung seltsam, sie hätte mich lieber beim Fußballspielen gesehen, wie alle anderen Jungen. Aber sie liebte mich und sie unterstützte mich, wenngleich sie mich nicht verstand.
Als ich Balletttanz nicht nur als Hobby, sondern als Beruf betreiben wollte, zog Vater sich aus meinem Leben gänzlich zurück. Zum achtzehnten Geburtstag überreichte mir Mutter einen ‚gefütterten’ Briefumschlag zur Ausbildungsfinanzierung. Auf die beiliegende Glückwunschkarte hatte Vater einen Satz geschrieben:
„Ein Nagel, der hervorsteht, muss eingeschlagen werden.“

Alexander saß nackt auf dem Stein. Der Stein stand am Strand des Mittelmeers. Alexanders dünner, sehniger und gut trainierter Körper erholte sich in der untergehenden Sonne Sardiniens. Selten hat es einen größeren Tänzer als ihn gegeben. Der Ausdruck und das Gefühl, das durch seine tänzerische Darbietung zum Publikum floss, waren sensationell. Nur wenige schaffen es, durch federleichte Sensibilität der Bewegung Zuschauer in den Bann zu ziehen. Es gibt Tänzer, die jeden einzelnen Part des Tanzes beherrschen, sie sind die Handwerker unter den Tänzern. Alexander aber war der Virtuose und das Medium war sein Empfinden, das Funken auf die Zusehenden übertrug. Er trieb sein Gefühlsleben auf die Spitze.

Ich glaube fest daran, dass jedem Menschen ein bestimmter Lebensweg vorgezeichnet ist. Schicksal oder Karma. In meinem Leben ist das nachvollziehbar. Immer, wenn ich an einem Scheideweg stand, gab es jemanden, der mich nachhaltig beeinflusst hat oder der mir einfach nur half. Meine Mutter, die die Ballettstunden bezahlte. Mein Lehrer, der mir Talent bescheinigte und mich vorwärts trieb. Mein Mentor, der mir seelisch beistand und mich managte. Und vor allen Dingen Michael.
Michael war die Liebe meines Lebens. Das Klischee vom homosexuellen Tänzer mag ausgetreten sein, aber welcher Weg bleibt, wenn man ein Teil dieser Schublade ist? Ableugnen? Meine Seele sehnte sich danach, wie jede andere Seele geliebt zu werden. Für mich war unwichtig, dass ich diese Liebe von einem Mann geschenkt bekam. Ich wollte nicht klassifiziert werden.
Der weibliche Anteil an der Weltbevölkerung liegt knapp über fünfzig Prozent. Dieser Teil der Bevölkerung sollte eigentlich hinter mir und meiner Liebe stehen, dachte ich. Einen Mann zu lieben, sollte doch für Frauen verständlich sein. Mutter sah das anders. Sie konnte nicht verstehen, dass Michael mein Lebenspartner wurde, obwohl sie doch selbst einen Mann liebte. Sie fand die Liebe zu einem Mann eklig, zumindest, wenn ich ihn liebte. Dennoch stand sie unerschütterlich zu mir. Vater vermied den Kontakt. Unser nicht vorhandenes Verhältnis zueinander war für beide Seiten ein angenehm ruhendes Kriegsgebiet. Eines konnte ich meinen Eltern niemals vorwerfen: Mangel an Gradlinigkeit.

Alexanders Fels war ein Monolith. Der Stein war von stattlicher Größe. Alexander hatte sich vor vielen Jahren ein kleines Ferienhaus an der Küste Sardiniens gekauft. Nicht zuletzt, weil sein Lebensgefährte Michael den einsamen Strand mit dem schönen großen Stein so liebte.
Er saß allein, ganz an der Spitze des Monolithen, den die beiden Männer "Petra" getauft hatten. Petra, der Fels. Der Fels in der Brandung.
Alexander spürte seinen Körper gern. Für ihn war sein Körper das Instrument, auf dem er perfekt zu spielen vermochte. Um es zu beherrschen, hatte er Strapazen und Torturen auf sich genommen. Er setzte sein Innerstes in äußere Bewegung um.

Als Michaels Aidserkrankung offenbar wurde, war es für mich ebenfalls zu spät. Ich konnte ihm nicht einmal böse sein. Er starb zwei Jahre nach der Diagnose, umgeben von Schläuchen, Apparaten und meiner Liebe.
Ein Klischee ist eine Druckvorlage. Mein Leben war eine solche Druckvorlage. Tänzer, schwul, HIV-Positiv, aidskrank. In den letzten Monaten konnte ich nur noch ab und zu tanzen, wenn meine Kraft es zuließ. Mich schwächten eine Lungenentzündung, eine Grippe und mehrere schwere Rippenfellentzündungen. Auch eine Krankheit kann ein Klischee sein, das abgearbeitet werden muss. Ein hässliches Klischee. Derzeit schlage ich mich mit einem nicht minder hässlichen Hautkrebs herum.

Die Nacktheit seines Körper war eine Provokation in der ländlich-christlichen Gegend dieses Teils von Sardinien. Alexander hatte sich daher den frühen Abend ausgesucht, um die letzten Sonnenstrahlen auf seiner Haut zu spüren. Kein Einheimischer würde ihn unbekleidet zu Gesicht bekommen. Er wollte nicht provozieren, nicht hier und nicht jetzt. Nicht mehr. Das Meer roch nach Fisch und Salz. Wellen rollten in gleichmäßigem Tempo an den Strand. So wie sie es schon vor tausenden von Jahren getan hatten und vermutlich auch noch in den nächsten tausend Jahren tun würden. Alexander beneidete die Wellen und „Petra“.

Ich habe Vaters Lektion verstanden. Wovor er mich schützen wollte. Erstickende Normalität als Lebensgarantie. Obwohl ich jetzt verstehe, kann ich ihn dafür nicht lieben. Ich hätte so nicht leben mögen, wie er es wollte. Und mit meinem Weg, diesem vorgestempelten Weg, werde ich nicht leben können. Bis heute bin ich der Nagel, der nicht eingeschlagen werden möchte. Ich habe mein Leben in vollen Zügen, beinahe ekstatisch, genossen, für Tanz und für Michael. Könnte ich noch einmal wählen, ich würde nichts ändern. Nun, das stimmt nicht ganz - ich würde Präservative benutzen.

Alexander fühlte die Kälte des Steins. Die untergehende Sonne berührte die Wasseroberfläche. Der magere, muskulöse Körper Alexanders stand auf und reckte sich dem Horizont entgegen. Nacktheit, Körpergefühl und Bewegung bildeten eine Einheit. Er breitete seine Arme aus und sprang mit einer anmutigen Bewegung in das noch warme Wasser.
Eine junge Frau aus dem Dorf sah einen nackten Mann vom großen Felsen springen. Die perfekte, gleichmäßige Bewegung ließ ihren Blick für einen Moment bewundernd auf dem Körper des Mannes verharren. Er schwamm schnurgerade auf die untergehende Sonne zu. Sie schalt sich allerdings sofort für ihren Blick. Die Touristen glauben wohl, sich hier alles erlauben zu können, dachte sie und ging entrüstet ihres Weges.

 

Ich meine hier eigentlich gleichzeitige Überspitzung der Klischees plus Tiefgang. Massenweise äußerliche Klischees, die aufgezählt unerträglich sind, doch erzählt durchaus nachvollziehbar. Mir fehlen grad die richtigen Worte dafür.

Ich weiß nicht, inwiefern das jeder versucht. Ich achte ehrlich gesagt beim Schreiben nur bezüglich der Ausdrucksweise darauf, dass ich nicht abgedroschene Wortkombinationen benutze. Alles andere ist so, wie es ist.

Ich weiß nicht, ich finde diese Denkweise eher fremd. Wenn ich ständig darauf achte, einem Klischee zu entsprechen/ nicht zu entsprechen, dann ist das so, wie der Gesellschaft nach dem Mund leben. Und das ist in meinen Augen feige. Dein Prot gibt ja einen Scheiß darauf, was andere von seinem Leben halten, von daher hat er ja nicht bewusst ein Klischee gelebt. Und da denke ich gilt es zu entscheiden: Bewusst oder unbewusst.

 

Hm,
ich muss mal sehen, wie ich da etwas verdeutlichen kann. Es gibt ja auch noch einen Unterschied zwischen bewusst und absichtlich.
Klischee kann bedeuten, der Gesellschaft nach dem Mund zu leben, muss es aber nicht. Man kann der Gesellschaft nach dem Mund leben, ohne sich für die Gesellschaft zu interessieren - das Klischee kommt ja von aussen. Insoweit muss es kein Zeichen von Feigheit sein, sich dem nicht entgegenzustellen. Es kann ein Zeichen von Stärke sein.

Viele Grüsse vom gox

 

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