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Knöpfe für Froschjacken

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12.08.2006
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Knöpfe für Froschjacken

Mein andächtiger Gang wurde von Trauerweiden gesäumt, von beiden Seiten. Ich schritt betont langsam ins Tal hinab, jede Minute auskostend, dabei mein Ziel vor Augen. Das Sumpfland umgab das geduckte, alte, dunkle Haus, die Stätte meiner freien Herbsttage. Wieder einmal war ich dem unruhigen Leben der Stadt entflohen, der hektischen, brutalen Arbeitswelt. Wie immer würden meine Nerven hier beruhigt werden - hier, in der würdigen Stille des Moorgebietes. Die Strapazen würden abfallen, wie jedes Jahr. Und sie waren abgefallen, denn ich war schon viele Tage hier. Es verblieben - und ich dachte höchst traurig daran - nur noch wenige freie Tage. Betrübnis erfüllte mich. Wie immer, wenn es um Abschied von teuren Dingen ging.

Der Hofhund bellte mir entgegen, als ich das kleine Anwesen erreichte. Ich schritt durch das rostige, alte Eisentor. Kläffend kam der Schäferhund bei mir an. Meine Hand tätschelte kurz sein Nackenfell. Dies stellte ihn zufrieden und er beendete die lautstarke Begrüßung. “Na, mein Freund?” sagte ich. “Bald werden wir uns voneinander trennen müssen. Aber im nächsten Herbst sehen wir uns ganz bestimmt wieder.” Der fellige Geselle trollte sich schwanzwedelnd in seine Hütte.

Nun, ich betrat den dunklen Vorraum des Hauses, um Hut, Stock und Mantel abzulegen. Während ich dies tat, ging die Türe zum Wohnzimmer auf, und die schon ältere Gastgeberin trat mir ernst entgegen. “Guten Abend, Herr Drechsler.” Betreten starrte sie auf ihre Füße, die in dicken Pantoffeln steckten.
“Was ist denn, Frau Tobler?” Ich machte mir Sorgen um die Frau, denn sie schien von Beklemmungen erfüllt.

“Ach. Maria ist traurig, dass sie uns bald wieder verlassen werden, Herr Drechsler. Sie weint ab und an. Schon den ganzen Abend über.”

Maria war die geistig leicht behinderte Tochter meiner lieben Gastgeberin. Sie war ein gutes Mädel, 13 Jahre alt. Von Geburt an lebte sie mit ihrer Behinderung, die allerdings nur von Zeit zu Zeit zum Vorschein kam. Diese Art Behinderung war äußerst selten, wie die Ärzte meinten. Ich konnte es nicht bestätigen, da ich mich auf solchen Gebieten nicht auskannte. Ich hatte mich jedenfalls immer sehr gut mit Maria verstanden, war auf ihre Probleme eingegangen, hatte versucht, ihr Dinge wie ein Vater zu erklären und verständlicher zu machen.

“Ich gehe gleich zu ihr. Ist sie im Wohnzimmer?” Frau Tobler bejahte meine Frage mit melancholischem Unterklang. Ich rieb mir das Kinn und schlüpfte in die Hausschuhe. Mein Blick glitt dabei sinnierend zum Fenster. Draußen hatten sich finstere Wolkenberge zusammengeballt. Gleich würden wohl die ersten Tropfen fallen. In Gedanken vernahm ich das ferne Grollen des Donners, und ich fühlte dabei - nicht wissend, warum - eine merkwürdige leise Angst vor einem Unwetter. Wie abwesend fing mein Blick meine Hand auf - eine derbe Arbeiterhand - welche sich auf die metallene Türklinke gelegt hatte. Dann bekam ich mit, wie hinter mir die Gastgeberin die Treppe hinaufstieg, vermutlich, um ihre Kammer aufzusuchen. Eigenartige Furcht keimte in mir auf. Schwarze Gefühlswelt aus unbekannter Quelle.

Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Der düstere Raum erschien, ein Blitz zuckte hinter den beiden Fenstern, die grelle Erhellung gab den Blick frei. Eine kontrastreiche, zackige Ausleuchtung, in deren Zentrum Maria befindlich. Das Bild gab sich unschön. Maria blickte mir stechend entgegen, unsagbar stechend, wobei sie mit angezogenen Beinen auf der blutroten Couch saß, die Arme um die Knie geschlungen. Die Wirkung des Blickes war skurril, eine Aura von Unlebendigkeit, Bekümmerung, Verzagtheit am Leben. Jenes fast schon tote Schauen hatte mich mit Wucht getroffen. Es war, als hätte Maria die ganze Zeit über nichts anderes getan, als auf mich zu warten.

Ich fühlte mich hilflos und gespalten. Doch der Blick in ihr angespanntes Gesicht verwischte, und ich sah nur noch die rote Farbe ihres Haares. Meine Hand lag noch auf der Klinke. Schnell drückte ich das weiße Brett ins Schloss, dabei rollte im Hintergrund ein dumpfes Donnergrollen heran. Plötzlich war mein eingebildetes Gewitter von vorhin Realität. Fassungslos schüttelte ich leicht mit dem Kopfe.

Kurz dachte ich auch an Gespräche mit der Hausherrin. Sie war nun 57 Jahre alt und hatte mit 44 Maria ausgetragen. Ein bemerkenswertes Alter für eine Schwangerschaft. Leider war der Vater kurz nach der Geburt der Tochter verblichen. Durch ihn musste aber zumindest in finanzieller Hinsicht die restliche Familie nicht darben, denn er hatte als ehemaliger Bankier beträchtliche Beträge hinterlassen.

Ich wandte meinen Blick, der kurz leicht verklärt gewesen war, wieder Maria zu. Sie saß weiter in ihrer verkrampften Haltung da, schier bewegungslos. Doch nun krallte sie ihre linke Hand in die Couchdecke, die säuberlich zusammengelegt neben ihr befindlich. Ich ging näher und nickte ihr zu. Man sah ihr meistens die leichte geistige Behinderung nicht an. Als ich mich ebenfalls auf die Couch setzte, löste sich bei ihr endlich die Erstarrung. Sie hielt den Blick seitlich auf mich gerichtet und lächelte plötzlich. Ja, ich galt längst als Vater - immer im Herbste, für wenige Wochen.

Erneutes Donnergrollen klang heran - näher jetzt. Als sich Maria schutzsuchend an mich klammerte und ihr Gesicht im weiten Stoff meines Hemdes vergrub, merkte ich, dass sie sogar zitterte. Sie hatte wohl vor Gewittern Angst. Ich begann damit, beruhigend auf das Mädchen einzureden. Schnell zeigte sich ein Erfolg. Als erneut Blitze zuckten und etwas später der Donner hörbar wurde, schrak Maria zwar noch heftig zusammen, aber sie zitterte nicht mehr so stark.

Regentropfen klatschten an die Fensterscheiben. Ich sagte leise, dass ich erleichtert war, beim Spaziergang gerade noch dem Regen entkommen zu sein. Maria nickte mit dem Kopf, nahm ihn aber nicht von meinem Hemde weg.

Die Tür ging auf und Frau Tobler kam herein. Sie schaute lächelnd zu uns herüber. “Dieses Gewitter…”, sagte sie leise. “Ich habe oben in den Schlafkammern nachgesehen, ob die Dachluken dicht sind.” Ich hob den Daumen, sie dabei anschauend und Maria streichelnd.

“Ich glaube, Maria will bei Gewitter beruhigt werden”, sagte ich. “Sie hat schrecklich gezittert. Aber ich denke, die Angst hat sich gelöst.” Die Hausherrin nickte ernst. Ihr Blick sah sehr sorgenvoll aus.

“Sie sind sehr lieb zu ihr.” meinte die Frau. Sie schluchzte plötzlich leise und ich sah entsetzt, dass sie Tränen in den Augen hatte.

“Irgendwie”, so meinte ich, “empfinde ich fast ein Schuldgefühl, dass ich schon bald wieder abreisen werde.” Die Mutter starrte auf den Teppich, und jetzt lief eine Träne ihre rechte Wange hinab. “Nun”, sagte ich aufmunternd, “was ist das denn hier für eine Stätte der Traurigkeit? Kommen sie, Frau Tobler - wir werden für etwas gute Laune sorgen!” Damit hob ich Maria hoch in die Luft und trug sie lachend durch den ganzen Raum. Blitze zuckten, es donnerte. Doch glockenhell erschallte das Lachen von Maria. Ihre Mutter stand da und konnte es kaum fassen.

“Herr Drechsler, sie schaffen es immer wieder, meine Tochter zum Lachen zu bewegen. Ich danke ihnen!”
“Nichts zu danken - ich mach es gerne!”
Ein weiterer Schwall der Fröhlichkeit flutete durch den Raum. Frau Tobler verschwand kurz und kam mit gefüllten Limonadengläsern zurück.

“Jetzt wird es richtig gemütlich!” sprudelte es aus Maria heraus. Sie fühlte sich jetzt pudelwohl. Wie schnell und einfach konnte das erreicht werden? Und doch gab es auf dieser Welt Eltern, die nicht einmal das für ihre Kinder taten…
_________

Der nächste Morgen kam. Ich kroch aus meiner Bettstatt, schlüpfte in die Hausschuhe und schlurfte zum Fenster. Düsternis, nichts als Düsternis lag da draußen. Kein einziger Sonnenstrahl konnte die graue, dichte und tiefe Wolkendecke durchdringen. Ein schauerlicher Wind trieb heulend übers Moor, hinweg über die Kronen der kahlen, verkrüppelten Trauerweiden. Ich sog Luft in die Nase, welche durch das leicht geöffnete Fenster in die Kammer hereinkam. Es roch faulig, moderig. Eine merkwürdige Gegend, trist und allein.


Mein Blick fiel auf den alten, schön gearbeiteten Nachttisch. Ein Buch lag dort. Ich hatte noch lange gelesen in der vergangenen regnerischen Nacht. Es war noch etwas auf dem Möbelstück: Ein Packen von Zeichnungen, angefertigt von Maria. Ich hatte die Bilder lange und nachdenklich betrachtet. Sie waren recht bizarr - nur selten hatte ich herausfinden oder besser vermuten können, was sie darstellten. Und da waren natürlich auch Überlegungen aufgetaucht, was im Kopfe der Kleinen so vor sich ging.

Es klopfte. Die Gastgeberin fragte von draußen, ob ich bald zum Frühstück herunter käme. Ich bejahte. Dann vollführte ich am Emaille-Waschbecken die Morgentoilette und schlüpfte danach in Hose und Hemd.

Wir frühstückten zu dritt in der Küche. Es gab duftenden Kaffee und wohlschmeckende Brote. Maria hatte einen Becher Kakao vor sich stehen. Kauend schaute ich auf das Mädchen. Sie erschien mir traurig, sogar sehr traurig. Frau Tobler hatte wohl Recht, wenn sie sagte, dass ihre Tochter sicher wegen meiner baldigen Heimfahrt wehleidig sei. Wie jeder Urlaub hatte auch dieser betrüblicherweise ein Ende. Meine Arbeit erwartete mich zurück.

Die Frau blickte äußerst nachdenklich auf ihr Mädchen - entrückten Ausdruckes, gramvoll. Furchtbare Probleme schienen sie zu quälen - schon den gesamten Urlaub hindurch hatte ich diesen Eindruck gehabt. Frau Tobler sah mich kurz an, doch glitt ihre Aufmerksamkeit sofort wieder zu Maria. Ich war ratlos und wusste nicht so richtig, wie ich mich verhalten sollte. Irgendetwas lag in der Luft, es herrschte eine Aura der Bekümmerung, die man regelrecht einzuatmen schien.

Nun, wie immer hatte ich einen vormittäglichen Spaziergang vor, und um die bedrückte Lage aufzubessern, schlug ich vor, dass wir drei doch gemeinsam gehen könnten. Die Hausherrin lehnte dankend ab. Sie war der Auffassung, ich solle lieber nur mit Maria gehen. Und dann fügte sie - mit verklärtem Gesichtsausdruck - hinzu: “Vielleicht merken sie, welche Entsetzlichkeiten Maria in letzter Zeit peinigen. Ich hoffe allerdings inständig, dass sie in ihrer Gesellschaft fröhlicher ist.”

Mir liefen nach diesen bedeutungsschwer anmutenden Worten mehrere Schauer den Rücken hinab. Ich versuchte aber, mich nicht beirren zu lassen. Dann fragte ich Maria, ob sie denn überhaupt spazieren gehen wollte. Sie nickte heftig hinter dem Kakaobecher und strahlte mich an wie eine Sonne. Dies war der erste wirkliche Lichtblick dieses Morgens, der bisher eher der Stimmung auf einer Beerdigung geglichen hatte. Und so gingen Maria und ich los. Der Hund wollte unbedingt mitkommen. Maria streichelte ihn und drückte ihre Nase in das weiche Nackenfell des Rüden. Das Tier winselte vor Freude, und als das Mädchen mit den langen roten Haaren sich aufrichtete, leckte Mac - so hieß der Hund - ihre linke Hand ab. Als darauf das helle Lachen des Kindes ertönte, war der Tag für mich gerettet.

Wir verließen das Grundstück. Ich hatte vor, das Tümpelgebiet im Norden aufzusuchen. Dieses Fleckchen Erde hatte mir schon die ganzen Jahre über immer sehr zugesagt. Dort konnte man herrlich entspannen und die Gedanken fliegen lassen.

Es war herzerfrischend, wie wir so gingen. Der Hund freute sich wie verrückt - ständig umtänzelte er uns, wie um beweisen zu wollen, wie sehr er sich wohl fühlte. Maria hatte inzwischen nach meiner Hand gegriffen und schaute ab und an mit großen Augen zu mir hoch, als wäre ich der Papa, auf den man mit Recht stolz sein konnte.

Nach einigen Minuten kamen wir im Sumpfgelände mit den Tümpeln an. Ich achtete sehr auf Maria, damit sie nicht auf brakige Stellen trat. Mac hingegen merkte von selbst, wenn er sich zu weit vorgewagt hatte. Er sprang dann hastig auf den festen Weg zurück.

Die Tümpel lagen wie große, schwarzgrüne Pfützen vor uns. Wir setzten uns dort auf die alte Bank, die ich so sehr mochte. Viele Stunden hatte ich hier schon sinnierend gesessen, Maria war erstmalig mit hier. Schade war, dass es keinen hellen Sonnenschein gab. Seit ich die diesjährigen freien Tage hier verbrachte, hatte ich lediglich ständige tiefe Wolkendecke erleben dürfen.

Minute um Minute verrann. Maria und ich beobachteten Mac. Er streunte in der Gegend umher, beschnüffelte dies und jenes, trank sogar kurz Wasser aus dem Tümpel.

Es war sehr kühl. Frau Tobler hatte ihre Tochter in dicke Kleidung eingepackt. Ich selbst merkte, dass mir ein Pullover unter dem Mantel sicher gut getan hätte. Nun, jetzt ließ sich das nicht mehr ändern.

Vor unseren Füßen kroch plötzlich ein kleiner Frosch über das Gras. Er verharrte auf einer Stelle, saß etliche Zeit völlig unbeweglich. Ich schaute von der Seite her Maria an. Das Mädchen, das im Nachbarort Bruck in eine spezielle Schule ging, jetzt aber 4 Wochen Ferien hatte, schaute mit vor Staunen halb offenem Mund auf das grüne Tier. Sie wirkte wie eine 6jährige, obwohl sie mit ihren 13 Jahren eigentlich schon eine junge kleine Dame sein müsste. Mir war bekannt, dass man in ähnlichen Fällen oftmals auf kindlichem Niveau stehen blieb, ein ganzes Leben lang.

Plötzlich blickte sie mich an und fragte in ihrer häufig brüchigen Stimme: “F - Friert er?”
“Nein, Maria. Das Fröschlein ist diese Umgebung gewöhnt. Es friert nicht.”
Verwundert sah ich, dass Maria den Kopf schüttelte. Sie glaubte mir anscheinend nicht. “N - Nein. Nein. Er f - friert. Er will, w - will Anziehsachen.”
Ich musste lachen. “Aber nein, Maria. Er fühlt sich wohl.”
Ich stupste den Frosch mit dem Zeigefinger an. Er hopste in den Tümpel.

Mac war herangekommen. Als er sich an die Beine Marias schmiegte, die in einer warmen Hose steckten, wandte sie sich wieder dem lustigen Gesellen zu und strich ihm übers Fell.

Nachdenklich starrte ich vor mich hin. Ja, übermorgen in der Frühe würde ich nach Bruck gehen müssen. Dort ging es dann mit der Bahn zurück in meine Heimatstadt. Schade. Es war irgendwie traurig. Maria riss mich aus meinen trüben Gedanken.

“W - wie wird es im Himmel sein?”, fragte sie stockend. Die Frage traf mich wie ein Hammerschlag. Die Worte von Frau Tobler eilten wieder durch mein Hirn. ´Vielleicht merken sie, welche Entsetzlichkeiten Maria in letzter Zeit peinigen. Ich hoffe allerdings inständig, dass sie in ihrer Gesellschaft fröhlicher ist.´

“Maria, darüber brauchst du nicht nachzudenken!” Ich strich ihr sanft durchs Haar. “Du hast noch viele Jahre vor dir - viele Jahre!”
“A- Aber mein Papi ist nicht m - mehr auf dieser Welt. U - und du gehst nach Hause. Und nie ist S - Sonne hier…”
Ich versuchte, sie zu besänftigen, und ich gebe zu, dass mir dabei Tränen in die Augen schossen, die ich nur mit Mühe zurückhalten konnte. “Maria, ich komme nächstes Jahr wieder hierher. Dann machen wir wieder gemeinsam Späße - auch mit deiner Mami!”
Das Mädchen Maria aber schüttelte den Kopf. Eisig. Endgültig…
________

Ich saß am Nachmittag in der Hausbibliothek. Der ehemalige Hausherr hatte ein wahres Arsenal wertvoller Bücher hinterlassen. Leider hatte ich den Mann nicht kennen lernen dürfen, da er kurz nach Ankunft seiner Tochter an einer seltenen, unheilbaren Krankheit verstorben war, wie ich zum Teil schon erwähnte. Es war nun eine Düsternis in die alten Mauern eingezogen, die kalt und grausam war. Ich wunderte mich immer wieder über die Erholung, die ich trotz dieser Lichtarmut hier genoss.

Meine Gastgeberin, ich hatte es vor wenigen Minuten gesehen, bügelte im Wohnzimmer Wäsche. Maria lag auf der Couch und schlief.

Ich selbst nahm zwar ab und an ein Buch in die Hand, jedoch konnte ich mich nicht konzentrieren. Mir gingen zahlreiche Gedanken im Kopf herum. Und ich hegte Mitleid mit Maria, entsetzliches, quälendes Mitleid. Das Mädchen lachte mir einfach viel zu selten. Wenn ich aus dem Fenster schaute, konnte ich hinter der Scheibe eine eigene Welt sehen - grau, dunkel, für manche sicher feindlich wirkend. Die kahlen, krüppeligen Bäume standen schief, alle in eine Himmelsrichtung geneigt.

Wind pfiff hier schier ewig - manchmal schwächer, manchmal stärker, doch immer existent, ohne Unterlass. Ich stand plötzlich gedankenverloren am Fenster; dabei hatte ich gar nicht bemerkt, wie ich vom Lesesitz aufgestanden war. Wie von selbst kramten meine Hände eine Brasil hervor, die sich alsbald glimmend zwischen meinen Lippen befand. Ich stützte mich schwer auf das Fensterbrett und schaute auf die schwermütige Landschaft. Trostlos nahm sich aus, was ich sah - ich fragte mich einmal mehr, wieso ich immer wieder hierher zurückkam, Jahr für Jahr. Undurchdringlich war sie, die graue, nässetriefende Wolkenschicht - eine makabere Macht ausspielend. Die Weiden - und auch andere Bäume - stellten als Einzelstücke, Gruppierungen und kürzere sowie längere Reihen puren Verzweiflungstod dar. Dies spann in der Tat in meinem Hirne herum. Tief schleichende Nebelschlieren ergänzten das Bild der Einsamkeit, der grauen Verlorenheit. Sie lagerten, sich kaum merklich dahin bewegend, zwischen den teilweise abgestorbenen, knorrigen Stämmen der gebeugten Todesbäume. Der matschige Boden - für wie viele Menschen der älteren & jüngeren Vergangenheit mochte er die Todesfalle geworden sein? Das Grab, aus dem es die Flucht nicht gab, zog es einmal die Füße, Beine, den Rumpf, schließlich den Kopf - nach unten…?

Ich nahm einen Zug von meiner Zigarre. Ich glaubte allmählich, dass alle Moore dieser Welt ein abgründiges Geheimnis bargen. Und ich spintisierte & grübelte, bis die Brasil zu Ende geraucht. Dann betrat ich den Wohnraum, sehr leise, bedacht.

Maria saß am Tisch und zeichnete. Sie war so sehr darin vertieft, dass sie nicht einmal mein Eintreten bemerkte. Meine Gastgeberin saß ebenfalls am Tisch und schaute der Tätigkeit ihrer Kleinen zu. Ich trat heran und schaute, was Maria zu Papier brachte. Mit Bunt- und Bleistiften arbeitete das Mädchen.

Nun, es verhielt sich wie bei den anderen Zeichnungen. Man konnte nicht genauer deuten, was sie konkret darstellen sollten. Jedoch - so fand ich - war das auch nicht der wichtige Punkt. Wesentlich gab sich nur die Möglichkeit des Auslebens der Zeichnerin. Vielleicht verschwanden auch die dunklen Stimmungen in Maria, wenn sie ihre Muster & Gebilde ablegte. Ich hatte keine Ahnung.

Frau Tobler und ich schauten unserer Maria sehr lange zu. Es war interessant. Sie brauchte für keine der Arbeiten länger als 5 Minuten, einige Bilder legte sie sogar nach ein oder zwei Minuten als fertig an den Tischrand. Papier gab es genug. Meine Gastgeberin hatte vor einigen Tagen erwähnt, dass sie in Bruck große Mengen an Zeichenpapier billig bekommen würde. Ein Künstler, der Maria persönlich kannte und sehr von ihr beeindruckt war, gab das Material an Frau Tobler heraus. Ich empfand dies als wunderbare Geste, und auch Frau Tobler dachte so.

Der Abend nahte. Ich entschloss mich zum Spaziergang, schaute auch noch einmal nach Maria. Sie saß auf der Couch und hatte die Augen geschlossen. Wenn sie so saß, wusste nicht einmal ihre Mutter, was in ihr vorging.

Nun, am nächsten Morgen würde mein diesjährig letzter voller Tag hier im Moor anbrechen. Die Melancholie in mir steigerte sich. Ich ging durch das alte Eisentor hindurch und schaute, versunken in Gedanken, geradeaus. Nasskalt & nebelig gab sich alles. Als ich hinter mir Geräusche hörte, blieb ich stehen und wandte mich um. Ja, tatsächlich war es Maria, die - so laut es ihr möglich war - nach mir rief. Das Mädchen kam keuchend an, rammte gegen mich, klammerte sich an meinem Mantel fest. “I - ich will mit! Mutti hat es e - erlaubt.”

“Na komm!” brummte ich und reichte ihr die Hand. “Bleib immer schön beim mir, damit du im Nebel nicht verloren gehst!”

Wir gingen los. Maria marschierte sehr straff; ich musste mein Tempo forcieren.

Das Wetter machte die Gegend wirklich zur bleichen Gespensterlandschaft. Es schien jedoch nicht so, als würde meine kleine Begleiterin sich ängstigen. Wahrscheinlich sah sie mich als großen Beschützer an. Wir waren schon eine gute Strecke dahin spaziert, als Maria zu singen begann. Stockend und ab und zu mit verdrehten Augen. Es geschah sehr selten, dass man Maria ihre geistige Behinderung vom Äußeren her ansah. Nun jedoch passierte es einige Male. “Maria, wollen wir nicht lieber zurückgehen?”

Es wurde heftig verneint. “Nein, es ist doch so schön.” Ja - sie wollte weitergehen. Also gut. Erneut setzte ihr Singen ein.

Ich kannte das Lied nicht. Vermutlich waren die Melodien frei heraus dahin gesungen. Textlich ging es um Tiere. Wie alle Kinder hatte Maria Tiere gern. ALLE Tiere, so wie mir ihre Mutter mitgeteilt hatte. Es kam schon einmal vor, dass auf der Couch ein paar Regenwürmer lagen oder eine tote Maus wie ein Stofftier von ihr auf die Lehne gesetzt wurde. Jedoch schimpfte Frau Tobler nie, sondern erklärte ihrer Tochter im ruhigen Ton, dass so etwas nicht gemacht werden sollte. Maria nahm Lehren immer folgsam und bedingungslos an, doch sie vergaß manchmal in kindlicher Begeisterung.

Maria sang und sang. Ich lachte ab und an über eine lustige Textstelle. Das Mädchen schaute dann immer strahlend zu mir hoch. Außerhalb dieses Antlitzes aber präsentierte sich ein Reich der Dunkelheit…

“Gehe n - nicht weg!” Diese Aufforderung kam sehr unerwartet. Ich weiß nicht, ob sie mein bekümmertes, betroffenes Gesicht sah. Um mit fester Stimme sprechen zu können, musste ich mich erst kurz sammeln. “Man erwartet mich. Ich muss fort, da ich meine Arbeit nicht hier, sondern in einer großen Stadt habe.”
“Geh nicht f - fort!”
Ich antwortete einige Sekunden nicht. Dann meinte ich - und meine Stimme war zittrig - dass es an der Zeit sei, zum Haus zurückzukehren. Wäre ich alleine gewesen, hätte der Spaziergang natürlich noch angedauert.

Das Furchtbare - besonders jetzt auf dem Umkehrwege - war, dass in mir Mächte Ausbreitung gewannen, welche ich nicht mehr besiegen konnte. Wie eine drohende schwarze Wand kam da etwas auf mich zu, dessen gewaltige Kraft ich weder begreifen noch erfassen konnte. Mir kam eine Erinnerung zurück - die Entsinnung an das Schließen der Wohnzimmertür, der Donner vor den Fenstern, welcher eine Realität darstellte. Eine irgendwie mystische Realität; kurz vorher hatte ich jenes Getöse dumpf in meiner Vorstellungswelt vernommen. Diese Tatsache, dieser grauenhafte Gedanke an einen finstrigen, hohl nachraunenden Sachbestand, ließ mich körperlich & psychisch verwelken. Und der Umstand, dass ich dies alles zwar sah, jedoch nicht deutlich genug verinnerlichen konnte, ließ meine Beine nutzloses Fleisch werden. Ich sank mitten auf dem Weg zusammen wie ein nasser Sack.

“Du auch?” fragte Maria. “Du auch?” Sie sah mich in dieser erbärmlichen Lage auf dem Boden hocken. Ich erschrak zutiefst.

“Was ´ich auch´, Maria? Was ´ich auch´ ?” Das Mädchen schwieg. Als ich mühsam und ächzend aufstand und dabei ihr helles Gesicht sah, welches fast vom Nebel verschluckt wurde, konnte ich an ihr einen Gesichtsausdruck erkennen, zu dessen Beschreibung ich nicht in der Lage war und auch heute noch nicht bin. Nur eine Aura schien von Maria auf mich hinzuströmen - jenige einer einzigen Frage, die Maria noch hatte. Doch die Frage sprach sie nicht aus, weil sie es vielleicht nicht konnte…
_________

Spät am Abend saß ich mit Frau Tobler im Wohnzimmer. Maria schlief längst. Ihr buntbemaltes Bett befand sich oben in der Kammer der Mutter. Ich hatte dem Mädchen an der Schlafstatt ´Gute Nacht´ gewünscht. Etwas später hatte ich noch einmal leise nach ihr gesehen. Ja, sie war eingeschlafen. Der tiefe Atem bezeugte es. Vorsichtig hatte ich mich dann aus dem Schlafraum getrollt.

Nun, Frau Tobler und ich unterhielten uns noch über etliche Dinge. Da Maria nicht im Wohnzimmer war, steckte ich mir noch eine gute Brasil an. Die Gastgeberin hatte nichts dagegen einzuwenden.

Ich deutete auf die Zeichnungen Marias, die noch auf dem Tisch lagen. “Darf ich eines der Bilder zur Erinnerung mit nach Hause nehmen?” fragte ich meine liebenswürdige Frau Wirtin. Mir wurde es sofort gestattet. Auswählen kam für mich nicht in Frage. Ich zog einfach ein Bild aus dem Stapel hervor und nahm es an mich. Das Papier wurde gefaltet und in die Innentasche meines Mantels gesteckt, welcher im Vorraum am Haken hing.

Nun, da es doch schon recht spät geworden war und die Müdigkeit zunahm, beschlossen wir, uns allmählich zur Nachtruhe zu begeben. So geschah es auch. Einige Zeit später lag ich in meiner Kammer im Bett. Ich las nicht mehr, sondern dachte über den letzten Tag nach, der noch vor mir lag. Was konnte ich noch tun? In Bruck eine Gastwirtschaft aufsuchen? Der Gedanke erschien mir verlockend. Auf alle Fälle wollte ich ein Geschenk des Dankes erstehen, für Frau Tobler nebst Tochter. Ich hatte darüber schon mehrfach sinniert; bisher war mir noch kein Geschenk eingefallen, was passend erschien.

Mit solcherlei Überlegungen schlief ich irgendwann ein. Ich erinnere mich zumindest nicht daran, noch an irgendwelche anderen Sachen gedacht zu haben. Mitten in tiefster Nacht aber geschah es - ich wurde heftigst aus dem Schlaf gerissen! Meine Gastgeberin tat dies - im Nachthemd und mit einer Taschenlampe in der Hand. Verzweifelt rief sie meinen Namen, dann zog sie gar die Bettdecke von mir herunter.

Es gab sich alles derartig jäh & schrill, dass ich regelrecht hochfuhr - und ich starrte genau in die weit aufgerissenen Augen der Hausherrin. “Was ist passiert?” fragte ich deutlich und in der Tat schon hellwach. Frau Tobler sagte nichts, sondern nahm meine Hand und zerrte mich wimmernd aus der Kammer. Mein Blick fiel noch zur Wanduhr hin; sie zeigte 2 Stunden nach Mitternacht an. Ich stolperte barfüßig hinter der Frau her, die ihren Schlafraum ansteuerte. Das Licht der Lampe, welche sie mit sich führte, wanderte wild auf und ab sowie hin und her. Ich war mir sicher, dass etwas mit Maria sein musste, die ja im Zimmer der Mutter nächtigte.

Wir kamen an, und ich erstarrte - vollkommen entsetzt - auf der Mitte des dicken Teppichs, der hier befindlich. Dort drüben, gleich neben dem Bette der Gastgeberin, stand das Bett Marias. Das Mädchen wirkte schlimm im Schein der Nachttischlampe. Krank war sie…

Doch sie war doch gesund zu Bett gegangen? Jetzt schien sie, schien sie… Ich wagte nicht, den Gedanken zu beenden.

Ein glänzender, dicker Schweißfilm lag auf ihrer käseweißen Gesichtshaut. Das rote, lange Haar, das sonst so schön glänzte, lag stumpf und struppig auf dem zerwühlten Kissen. Der Blick des Kindes war hoch zur Decke gerichtet; dumpf, ausdruckslos. Eine schwere, keuchende Atmung. Ich stürmte auf die Kleine zu und ging am Bett in die Knie. Ich sah ihr in die Augen. Blau waren sie, und die Pupillen zeigten sich stark verengt. “Maria - hast du Schmerzen? Was tut dir weh?” Eine reichlich dämliche Frage von mir, doch ich war in die Situation hineingestürzt worden und kam noch nicht damit zurecht. Hinter mir stand schluchzend die Mutter. Als ich mich kurz nach ihr umschaute, sah ich, dass sie die Hände zum Gebet gefaltet hatte.

Maria hingegen schwieg beharrlich - zu sehr war sie mit Atmen beschäftigt. Keuchend klang es, rasselnd… Sie schien entsetzliches durchzumachen und hatte mich bestimmt noch nicht einmal bemerkt.

“Frau Tobler! Ein feuchtes Handtuch - rasch!!”

Die Frau eilte auf den breiten Schrank zu, der an der anderen Wand stand. Hier gab es auch ein Waschbecken; die Frau befeuchtete das Handtuch und brachte es mir her. Ich nahm es hastig in Empfang und wischte der Kleinen zunächst den Schweiß vom Gesicht. Jetzt suchten deren Augen plötzlich die meinen. Dabei hob und senkte sich ihr Brustkorb wie ein Blasebalg.

“Sag was, Maria! Sag was!” Ich benahm mich sehr eindringlich, fürchtete ich doch, das Mädchen würde sonst nichts mehr mitbekommen. Als Antwort kniff sie fest die Augen zu - unter unendlichen Qualen, wie mir schien. Mein Gott - Maria tat mir so leid… Frau Tobler ging neben mir in die Hocke und begann damit, die Hände ihrer Tochter zu drücken, welche kraftlos auf der Bettdecke lagerten. Ich sah die ganzen Szenen unter völligem Entsetzen. Dann hauchte Maria doch etwas. Wir mussten genau hinhören, so leise geschah es. Doch die Worte trieben die grauenvolle Vermutung an die Oberfläche…

“Mami - sterben tut so weh!…” Mir wollte es schier mein Innerstes nach außen wenden.

Irgendwie musste ich etwas tun - irgendetwas. Und wie von selbst huschte ein blitzartiger Einfall durch meinen Kopf. Mir war klar, dass dieser selbstredend völlig dumm war. Ich bildete mir ein, Maria damit ´befreien´ zu können. Befreien, Qual lindern, was auch immer. Längst war ich aufgesprungen und rannte mit nackten Füßen und im Schlafanzug in den Vorraum hinunter, wo mein Mantel hing. Ich griff hastig in die Innentasche, holte die Zeichnung des Mädchens hervor, stürzte wieder in den obigen Schlafraum zurück, welcher nun ein grausames Krankenzimmer geworden war. Am Bett der Kleinen ging ich sofort in die Knie und hielt der Fiebernden das Bild vor die tränenden Augen. Irgendwelche unförmigen Kreise waren darauf zu sehen, im Hintergrund ein Mischmasch aus Grün und Rot.

Während Frau Tobler neuen Schweiß von der zerfurchten Stirn des Kindes wischte, hatte ich nur eine Frage, die ich stellte - laut und deutlich formuliert.

“Maria - was hast du hier gemalt? Hier ist eine Zeichnung von dir…”

Ich hielt das Papier so, dass Maria problemlos draufblicken konnte. In der Tat öffnete sie die verkrampften Lider, schaute hin, keuchte noch härter als vorher. Die Augen der Mutter waren dabei vollkommen schreckgeweitet. “Maria!”, sagte ich nochmals. “Was hast du hier gemalt?” Ich glaubte, jetzt ein kurzes Zucken auf den eingetrockneten Lippen zu erkennen. Die Mutter und ich sahen nun rollende Augenbewegungen des Mädchens. Sie schien den Inhalt des Bildes aufgenommen zu haben. Und dann, ja dann, bewegte sie den Mund. Sie wollte sprechen. Es fiel ihr unglaublich schwer, nur Laute und Speichel drangen hervor. Ich stützte ihren Oberkörper und richtete sie ein wenig auf, mit aller gebotenen Vorsicht. Ihr langes Haar fühlte sich strähnig, verschwitzt und krank an. Die Augen Marias blickten nun flackernd einige lange, lange Sekunden auf die Zeichnung. “Maria - was hast du hier gemalt? So sag es doch!…”

Jetzt sprach sie. Stockend. Doch wir konnten ihre Worte hören. “Es sind Knöpfe für Froschjacken.” Ja, dies sagte sie. Dann bellte aus ihr mit aller Bestialität dieser Welt ein brutales, dreimaliges Schnappatmen. Ihr Blick wurde glasig. Das Mädchen auf meinem stützenden Arm völlig bewegungslos. Der Tod war gekommen.
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Unten kläffte der Hofhund Mac, oben gab es nur noch das verzweifelte Schluchzen der gemarterten Mutter. Ein Fahrzeug hielt vor dem Haus. Der gerufene Doktor. Er kam zu spät. Er konnte nur noch feststellen, was wir längst wussten. Auf den Totenschein schrieb er mit zitternder Hand eine lange lateinische Wortgruppe.

10 Tage nach Marias Tod fand in Bruck das Begräbnis statt, zu dem ich hinfuhr. Die herzensgute Mutter konnte diesem nicht mehr beiwohnen, da sie körperlich und psychisch extrem schwach geworden war und deswegen inzwischen in einem Pflegeheim lebte. Zahlreiche Trauergäste hatten sich eingefunden, um den letzten Gruß zu übermitteln. Bekannte Marias, entfernte Verwandte gar; der Künstler, welcher immer Zeichenpapier bereitgehalten hatte, sowie etliche Personen des Lehrkörpers und Mitschülerinnen sowie Mitschüler. Mir krampfte sich das Herz zusammen, als ich das verstorbene Kind aufgebahrt liegen sah, unter den kalten Händen ein kleines Stofftier haltend. Es war der zweitschrecklichste Tag meines Lebens. Nie werde ich den heftigen Regenguss sowie das Donnergrollen vergessen, als der kleine Sarg in Dunkelheit hinabgelassen wurde. Die Milliarden fallenden Regentropfen erschienen mir wie die Tränen aller viel zu jung Dahingeschiedenen, und schwere Schatten legten sich gram auf meine Seele.

Nie wieder kehrte ich in dieses Haus zurück. Frau Tobler war einen knappen Monat nach dem Tode ihrer Tochter ebenfalls verschieden, ganz allein in jenem Pflegeheim. Vielleicht am Kummer. Vielleicht auch an jener unbegreiflich harten Krankheit, an der einst Gemahl und bestimmt auch Maria scheiterten.

Manchmal, eigentlich sehr oft - immer dann, wenn ich zur Ruhe komme - geht meine Erinnerung spazieren. Dann sehe ich vor mir das Haus auf jener morastigen, nebelverhangenen Stätte. Ich erblicke das Anwesen, wie es verfällt, immer mehr im schaurig heulenden Wind zerbröckelt, wie es allmählich versinkt. Es tönt dabei in mir hallend der letzte Satz Marias nach, in all seiner grausigen Schwäche. ´Es sind Knöpfe für Froschjacken.´ Und ich hoffe bei Gott, dass diese Worte nicht noch heute im verrottenden Hause zu vernehmen sind, für das sich kein Käufer dieses Jammertales Erde finden lässt…

ENDE

(Karsten Breitung, original 1991, überarbeitet im Herbste 2006.)

 

Hallo Leichnam,

14 Jahre später hier eine solche Geschichte posten, das nenne ich Selbstvertrauen.

Unten habe ich einige Textstellen herausgesucht, die ich für änderungswürdig halte, es sind aber noch einige mehr. Aufgrund der Länge der Geschichte verließ mich irgendwo die Geduld.

Tja, was sagt man nu zum Inhalt? Heavy stuff. In deiner lyrischen Depri-Stimmung bist du konsequent. Ebenso in der Langatmigkeit. Um ehrlich zu sein, mein Eindruck ist, die Geschichte kommt 200 Jahre zu spät. Wenn das Zeitalter E.T.A Hoffmanns wäre, könnte man noch soetwas abliefern, aber heute?

Ist schon irgendwie arg rührselig. Und trotz der Länge hält sich das eigentliche Geschehen und schlimmer noch die hinterlegte Aussage in Grenzen. O.k. das Mädchen stirbt, die Mutter folgt ihr und was nimmt der Protagonist mit?

Die Grusel-Depri-Stimmung ist trotz ihrer durchgängigen Intensität auch kein Sinnträger und die angerissenen Geheimnisse (wie. z.B. der Zusammenbruch des Prot. oder die mysteriöse Krankheit) bleiben eben nur angerissen.

Sorry für die deutlichen Worte, deine offensichtliche Fähigkeit zu lyrischen Formulierungen kann die Story leider nicht retten.

LG, Kopf hoch,

N

Textkram:

Mein andächtiger Gang wurde von Trauerweiden gesäumt, von beiden Seiten. Ich schritt betont langsam ins Tal hinab, jede Minute auskostend, dabei mein Ziel vor Augen. Das Sumpfland umgab das geduckte, alte, dunkle Haus, die Stätte meiner freien Herbsttage. Wieder einmal war ich dem unruhigen Leben der Stadt entflohen, der hektischen, brutalen Arbeitswelt. Wie immer würden meine Nerven hier beruhigt werden - hier, in der würdigen Stille des Moorgebietes.

Nichts für Lyrikfeinde ...


Eine kontrastreiche, zackige Ausleuchtung, in deren Zentrum Maria befindlich.

Wo ist das Prädikat?


Die Gastgeberin fragte von draußen, ob ich in den nächsten 10 Minuten zum Frühstück herunter käme

Die 10 Minuten sind ein Stilbruch.

Muster & Gebilde

besser "und"

 
Zuletzt bearbeitet:

Grüß dich, Nicole!

Erstmal Danke fürs Lesen! Hatte eigentlich gar nicht damit gerechnet, dass Feedback eintrudelt. Umso mehr war ich erfreut und du hast mir - der ich heute noch zur Spätschicht muss - den Tag gerettet! Meinungen bauen auf!

Nun ja - ´nichts für Lyrikfeinde´... Ich kann mich ja nur so ausdrücken, wie es in mir drin ist. Mir ist bewusst, dass wegen des geruhsamen, vielleicht etwas betagteren Stiles meine Texte hier nur sehr selten gefallen. Am Anfang hatte ich damit - ich bin ehrlich - ziemliche Probleme. (Wegen des Missfallens). Mittlerweile sage ich mir: Bring die Sachen lieber ins Netz; das ist allemal besser, als wenn das Papier in der Schublade verschimmelt.

Die Sache mit 10 Minuten... Da hast du Recht. Ich hätte besser eine weniger konkrete Form einer Zeitangabe machen sollen, ´gleich´ oder ´in der nächsten Zeit´ oder so etwas. Danke. Man merkt es manchmal selber nicht. Ich ändere das ab!

Die Sache mit dem Prädikat: Früher wurde oft so geschrieben, ohne Prädikat. Nicht in jedem Satz, aber in vielen. Ich pflege das ab und an noch. Ach - davon möcht ich gar nicht wegkommen.

Dieses "&" bringe ich gerne mal, wenn zwei Wörter fest zusammengehören. Ich weiß aber, dass dies immer wieder aneckt. Irgendwann hat man sich vielleicht allgemein dran gewöhnt...

Ansonsten hoffe ich mal, dass die dumpfe Stimmung der Geschichte vielleicht zum Nachdenken anregt. Eigentlich soll der Text Trauer übermitteln, den Tatbestand, im JETZT zu leben - wie es Maria tat, trotz aller düsteren Umstände (Metaphern halt). Kindstod ist das Schrecklichste, was passieren kann. Doch wer weiß - vielleicht geht ein unschuldiges Kind in hellste spirituelle Welt ein. Wer kann es jetzt wissen, solange man im Fleische ist?

Der Erzähler nimmt eigentlich GAR NICHTS mit außer Depression, die schon immer in ihm war. Er will eigentlich aus dem Düster nie heraus. Doch er wurde durch das Verlöschen eines Lichtes innerhalb des Dunkels vollkommen hinab gedrückt. Dumpfheit, Gedanken an nachfolgenden Spuk - nie wird er davon loskommen. Jetzt gleich gar nicht mehr. Ich nehme an, du bist ein sehr lebenslustiger Mensch, Nicole. Es ist vorstellbar, ja es liegt eigentlich auf der Hand, dass da ein Verstehen oder ein echtes FÜHLEN schwierig ist. Vielleicht sogar kaum möglich.

Ich bin ein sehr düsterer Mensch, lache kaum, lebe einzelgängerisch. Umso mehr versuche ich, mich um Partnerin und Tochter zu kümmern. Ich will, dass diese glücklich sind. Ich selbo bin es meist nicht, denn am Leben verzweifle ich.

Gruß Leichnam

 

Hallo Leichnam,

zu spät für eine Antwort nun ... folgt aber, ist versprochen, per PM, in nächster Zeit.

LG,

N

 

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