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Knut
Knut
© Daniel Krieg
Jeden Morgen, wenn ich ins Büro fahre, komm ich an einer Jugendstilvilla vorbei. Direkt neben dieser Kreuzung. Mit einer Ampel, die mich wahnsinnig macht. Weil sie dermaßen schlafmützig schaltet, dass ich manchmal einfach bei Rot drüberfahren muss. Damit ich nicht glatt den Dritten Weltkrieg versäume.
Das Haus hat ein großes Erkerfenster. Und in diesem Erkerfenster saß Knut auf der Sessellehne und guckte mir beim Warten vor der Ampel zu. Knut war ein Stoffgorilla, vielleicht vierzig Zentimeter groß. Er hielt eine gelbe Plüschbanane in der Hand. Die er offensichtlich niemals anknabberte. Obwohl er, bei flüchtigem Augenschein, recht gut im Futter stand.
Das wäre jetzt alles nicht weiter der Rede wert, hätte Knut nicht diesen verstockten Gesichtsausdruck gehabt. Die Augenbrauen so tief gezogen, dass er kaum drunter vorsah. Richtig verbissen und verbiestert. Wochenlang hab' ich nachgegrübelt, was denn das Problem von meinem kleinen Freund an der Ampel sein könnte. Die Banane, die er nicht hinter bekommt. Oder dieser Ausblick auf den Aldi-Supermarkt gegenüber. Der einen waschechten Gorilla wie Knut bestimmt nicht vom Hocker reißt.
Eine Weile hab ich gedacht, er mache sich über die Ampel Sorgen. Genau wie ich. Ob sie womöglich endgültig eingefroren ist. Oder ob diese Kerle in der Verkehrsleitzentrale alle mal eine Runde Rudelbumsen auf den Sicherungen eingelegt haben.
Aber das glaub' ich, ehrlich gestanden, weniger. Knut war nicht so ein Typ. Einer wie Knut schert sich einen Dreck um die Besonderheiten städtischer Beamter. Vielleicht war er ja selber paarungswillig. Und fühlte sich einsam. Nur hätte er dann deprimiert dreinschauen müssen. Und nicht so unheimlich verstockt. Draufgekommen bin ich jedenfalls nicht auf sein Geheimnis. So dass mir nichts übrig blieb, als ihm dem Namen Knut zu geben. Ich denk' mir gerne Namen für Dinge aus. Knut. Klingt unheimlich verstockt, oder?
Naja. Jedenfalls ist er heute Morgen auf einmal verschwunden. Die Ampel lässt sich jede Zeit der Welt. Vor dem Aldi liegen leere Obststeigen rum. Der Typ im Auto neben mir liest die SZ und bohrt in der Nase. Alles im grünen Bereich, denk' ich. Und schau zum Erkerfenster rüber. Kein Knut. Nicht die geringste Spur von dem Kerl. Ich denke, ich spinne. Bis mich die Tante hinter mir weiterhupt. Wespen im Hintern, das blöde Weibsstück.
Vom Tag im Büro brauch' ich nicht viel erzählen. Irgendwie schaff' ich's, dass ich eine Stunde früher fertig werde. Also rein in die Karre, und volles Rohr zu Knuts Edelbehausung an der Kreuzung. Zwar gibt's da keinen Parkplatz. Aber einen schönen, breiten Bürgersteig. Ist mir doch egal.
Ich klingle ausgiebig. Die Leuchtdiode der integrierten Fernsehkamera leuchtet auf, und eine kieksige Stimme sagt "Ja bitte?". Ich zieh' meinen Presseausweis aus der Tasche und halt ihn unter das Objektiv.
"Süddeutsche Zeitung", sage ich. "Wir arbeiten da grade an dieser Geschichte über Altbausanierung. Tolle Jugendstilvilla, das. Dürft' ich mal schnell rein und ein paar Fragen stellen?"
Die Kieksstimme zögert.
"Meine Mama ist nicht zu Hause", sagt sie dann. "Und ich soll nicht mit fremden Leuten reden."
"Sehr vernünftig", sage ich. "Nur, dass Journalisten keine fremden Leute sind. Jeder redet mit Journalisten, Kindchen. Sogar der Kanzler redet ständig mit Journalisten. Das kennste sicher aus dem Fernsehen."
Sendepause. Aber nicht lang, dann surrt der Türöffner. Wundert mich nicht. Ich kenn' mich aus mit den Gören: Fernsehen. Das Zauberwort bei einer Schlangenbrut, die nicht mehr lesen und schreiben kann.
Drinnen ein Atrium, jede Menge Licht, Marmorfliesen, Topfpflanzen. Reiche Leute, kein Zweifel. Gefällt mir. Und auf der letzten Treppenstufe ein Knabe ganz in Schwarz. Schwarze Jeans, schwarzes Sweatshirt, schwarze Haare, schwarze Turnschuh. Zwölf ist der, denk' ich mir. Bestenfalls dreizehn. Fängt grad mit dem Stimmbruch an. Und zieht sich an wie ein Spätexistenzialist. Abartig.
"Ich heiß' Daniel", sage ich. "Darf ich näher treten? Und wie heißt du? Ist das neuerdings Mode, wie auf einer Beerdigung rumzulaufen?"
Der Junge zieht eine Grimasse, als kämen ihm gleich die Tränen. Schluckt's aber hinunter und sagt pampig:
"Welche Frage soll ich denn zuerst beantworten?"
"'Tschuldigung", sag' ich schnell. "Eigentlich müsst' ich bloß ein paar Fotos machen. Der Raum mit dem Erkerfenster zur Kreuzung raus, du weißt schon. Hängt' mit dem Bebauungsplan zusammen. Komplizierte Angelegenheit."
"Aha", sagt er, ohne sich zu rühren. Hat aber keine Chance gegen meine Erwachsenenlügen. Weiß es bloß noch nicht. Kaut an der Unterlippe. Ist unschlüssig. Und starrt mich mit großen Augen an. Wenigstens die sind nicht schwarz, sondern dunkelblau. Gottlob.
"Wo ist Ihre verdammte Kamera?" fragt er plötzlich. Ich könnt' mich ohrfeigen. Dass mir ein derart blöder Fehler unterläuft. Aber noch ist nicht alles verloren.
"Ich bin nur die Vorhut", sage ich. "Ich such' die richtige Einstellung aus, und später kommt der Fotograf. Fotografen werden viel besser bezahlt als kleine Redakteure. Ist bei allen Zeitungen so. Haste das nicht gewusst?"
"Ich glaub' Ihnen kein Wort", sagt der Junge.
"Ich hab' einen Vorschlag für dich, Kleiner", sage ich.
"Ich heiße nicht Kleiner", sagt der Junge.
"Ist mir klar, Kleiner", sage ich. "Aber solange du mir deinen Namen nicht verrätst, ist's besser als nichts. Leute, die jemanden ‚Kleinen‘ nennen, tun keiner Fliege was zuleide. Vertrau' mir wenigstens in diesem Punkt."
"Kein Stück", sagt mein Kleiner. "Und was ist das für ein blöder Vorschlag?"
"Hier", sag' ich und schnipp' ihm meine dienstliche Visitenkarte rüber. Zu kurz geworfen, natürlich. Das alberne Ding trudelt durch die Luft und bleibt zwei Meter vor dem Treppenende liegen. Mitten auf den blütenweißen Marmorfliesen. Und sieht mit der grünen Beschriftung auf dem Rand aus wie eine abgeschossene Amexco. Der Knabe macht nicht die geringsten Anstalten, meine freundliche Gabe aufzuheben.
"Brauchst nur die Zeitung anzurufen und zu fragen, ob ich da arbeite", sage ich. "Die Nummer steht drauf. Wenn's sein muss, kann ich inzwischen draußen warten."
Der Junge steigt die letzte Stufe hinunter. Ein verdammt brenzliger Moment. Dieser Augenblick, in dem sich herausstellt, ob ein Bluff gelingt. Mein Kleiner ist clever, keine Frage. Der lässt sich nicht so schnell für dumm verkaufen. Aber hier geht's um Knut. Da ist mir jeder Einsatz recht.
"Okay", sagt er plötzlich und zieht die Nase hoch. "Aber nur für fünf Minuten. Danach ruf' ich nicht Ihre Scheißzeitung an, sondern die Polizei."
Geht einfach an mir vorbei, als gäb's nicht mehr das Geringste zu befürchten. Zieht einen Schlüssel aus der schwarzen Jeans und sperrt die Tür neben der Treppe auf. Seltsam, denk' ich. Wer würde wohl das schönste Erkerzimmer in einer Jugenstilvilla abgeschlossen halten. So, dass nur die farbscheue Göre des Hauses Zutritt hat.
Drück' mich aber an ihm vorbei und checke den Raum ab. Eine Art Musikzimmer, soweit ich das sehe. Notenständer, eine Glasvitrine voller Nippes. Ein weißlackierter Bösendorfer an der Wand. So ein altmodischer Flügel aus dem Nachlass der Oma, man kennt das. Und ein Sofa zum Zuhören. Vor dem ein Glastisch steht, auf dem jede Menge Notenbücher verstreut liegen. Und ein Fotorahmen mit schwarzem Lackrand mitten drauf. Ich seh' nur den Rücken, aber das reicht. Die haben wohl 'ne Vorliebe für Schwarz hier, denk' ich am Rande. Grufties.
Weil ich Wichtigeres vorhabe. Der Sessel im Erkerfenster hat einen geblümten Bezug, der nichts Neues ist für mich. Blau mit gelben Rosen. Hab' ihn tausendmal gesehen, von draußen. Aber kein Knut. Ich lass' mich auf die Knie fallen und gucke drunter nach. Fehlanzeige. Vielleicht ist er ja hinten runter gefallen, spekuliere ich. Irgendwo unter diese blöden Chintzvorhänge. Und steh' wieder auf, um nachzusehen.
"Können Sie mal erklären, was Sie da eigentlich treiben?" fragt der Junge. Steht immer noch in der Tür. Und sieht aus wie ein schwarzes Loch.
"Himmel noch mal, Kleiner", sage ich. "Möchtest du mich vielleicht mal fünf Minuten in Ruhe lassen, während ich nach Knut gucke?"
"Knut ist verbrannt", sagt er ganz ruhig. Mir bleibt das Herz stehen.
"Bist du wahnsinnig?" schreie ich los. "Wie, zum Teufel, kannst du es zulassen, dass Knut verbrennt?"
"Weil er nicht aufgepasst hat", brüllt er zurück. "Darum."
Wir funkeln uns beide schweratmend an. Ich fühl' mich, als müsste ich ihm eine runterhauen. Und der Junge schaut aus, als wollte er mir in die Eier treten. Womit wir irgendwie quitt sind. Und die ganze Klopperei lassen können. Was wir auch tun.
Ich setzte mich in den Sessel mit dem geblümten Bezug. Allmählich komm' ich wieder zur Besinnung. Auch, wenn's schwer fällt.
"Ich will das jetzt ganz genau wissen", sage ich. "Ich rede hier von einem gottverdammten Stoffgorilla mit einer Banane in der Hand. Der auf diesem gottverdammten Sessel zu sitzen und verstockt dreinzuschauen hat. Er ist mein Freund. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?"
"Glasklar", sagt der Junge. "Sie reden von Knut. Und Knut ist verbrannt. Hab' ihn gestern in den offenen Kamin geworfen."
Mir bleibt die Spucke weg. Nicht, weil dieses Affenvieh tatsächlich Knut geheißen hat. Ich meine, das liegt ziemlich nahe. Nichts, worüber man sich Sorgen machen muss. Herr im Himmel, wie sonst sollte so ein verstockter Stoffgorilla heißen?
Die Spucke bleibt mir weg, weil dieses perverse Gör offenbar die Stirn hatte, Knut einfach ins Feuer zu schmeißen. Mord. Kaltschnäuziger Mord.
"Gratuliere", sag' ich und steh' auf. Ich fühl' mich hundert Jahre alt. "Mehr wollt' ich gar nicht wissen. Hast' mir echt einen Gefallen getan. Wo ich dreihundert mal im Jahr vor dieser Scheißampel stehe und mir den Arsch aböde."
Ich bin so maßlos deprimiert, dass ich im Weitergehen mit dem Knie an den Couchtisch rumple. Der schwarze Fotorahmen fällt um. Aber ich hab' keine Lust, ihn wieder aufzustellen.
"Anna ist das", sagt der Junge. "Ein schlechtes Foto, aber wir haben kein anderes gefunden. Hat immer Klavier gespielt hier. Stundenlang. Knut musste auf sie aufpassen."
Ich bleibe stehen und seh' zu, wie er den Rahmen mit dem Farbbild wieder zwischen die Notenbücher stellt. Ein kleines Mädchen mit dicker Brille. Wässrige Augen. Trüb. Wie hinter einer verschmierten Lupe.
"Deine kleine Schwester?" frage ich. Der Junge nickt. Er sieht mich nicht an, nur das grottenhässliche Foto.
"Ist gestern über die Straße zum Aldi gelaufen", sagt er. "Sie konnte schlecht sehen, wissen Sie. Für die Ampel hat's gereicht. Aber nicht für den Kerl, der bei Rot durchgefahren ist. Morgen ist die Beerdigung."
"Scheiße", will ich sagen. Tu's aber nicht. Unangemessen.
Geh' stattdessen zurück ins Atrium und schnapp' mir meine Visitenkarte, die immer noch auf den Fliesen liegt. Und wie eine abgeschossene Amexco ausschaut.
"Tut mir leid wegen Knut", sagt der Junge. Er lehnt wieder an der Tür in seinem trostlosen Schwarz, den Schlüssel in der Hand.
"Hat wohl eh nicht viel getaugt, das Vieh", sage ich. „Ach ja – herzliches Beileid.“
Wie ich die Eingangstür vorsichtig hinter mir schließe, denk' ich, dass ich ab morgen eine andere Route nehmen sollte. Irgendwann brennen jedem die Sicherungen durch bei dieser schlafmützige Ampel. Die dermaßen nervt.