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Kohlestaub
Das Blatt ist leer. Zögernd beginnt er die ersten Striche, vorsichtig, als wäre das Papier verletzlich. Unsichere Linien aus schwarzem Kohlestaub.
Die letzten Sonnenstrahlen werfen ihr Licht auf seine Staffelei, das Fensterkreuz auf dem Papier, verschwommene Schlangen.
Staubteilchen schweben in der Luft, sichtbar in den schmalen Streifen des Lichts.
Die Striche werden kräftiger, die Bewegungen sicherer. Schattierungen entstehen. Wirre Haarsträhnen beginnen das Blatt zu füllen. Darunter Augenhöhlen, Brauen, ein Gesicht.
Er hält kurz inne, betrachtet diese Augen aus Kohle. Es sind vorwurfsvolle Augen, von Zorn und Trauer überschattet.
Seine Bewegungen werden nervöser, wollen diesen Ausdruck übermalen. Harte schwarze Striche. Dieses Mal wird er den Vorwurf auslöschen, die Trauer vom Blatt schmieren. Schneller, mehr Kohle über diese Augen, er will sie nicht mehr sehen!
Er steht vor der Staffelei, wilde Bewegungen, der Schweiß tritt auf seine Stirn. Das weiße Blatt vor ihm wird dunkel durch die groben, breiten Striche. Die fein geschwungenen Linien verschwinden unter dem Schwarz.
Doch die Augen, diese Augen, sie sind immer noch da! Starren ihn an, durch das Papier, hinter der Kohle, der Vorwurf steht im Raum. Rot dringt durch das Papier, leise Tropfen, lassen das Schwarz verschwimmen, immer mehr Rot! Die Augenhöhlen durchbohren ihn, das Rot bespritzt seine Hände, immer mehr, immer mehr…
Panik lässt ihn die Kohle immer stärker auf das Papier schmieren, das Rot überdecken, und diese Augen.
Sein eigener Schrei betäubt seine Ohren, heiser und schrill, überall Rot, überall Blut, das über das Schwarz fließt, über die Kohle, seine Hände, das seinen Kittel voll spritzt.
Bizarre Muster aus Rot formen sich auf dem Boden, gleich Adern, ein Netz entsteht zu seinen Füßen, breitet sich aus… Die Wand!
Es umhüllt auch die Wände, tropft zäh von der Decke, klebrig und süß… die Augen an den Wänden starren aus dem Schwarz, aus der Kohleschicht, die Münder lachen verächtlich, höhnen über ihn, der am Boden liegt und sich windet, den Blick an das Bild an der Staffelei geheftet.
Wieso nur kann er sie nicht überdecken, diese Augen… wieso kann er das rot nicht vergessen…
An den Wänden hängen unzählige Bilder. Schwarzer Kohlestaub ist auf allen, oft so dick, dass das Papier gerissen ist. Das Schwarz an der Staffelei unterscheidet sich in nichts davon.
Vor der Staffelei liegt ein Mann, seltsam verkrümmt, in seinen Augen stehen Entsetzen und Erkenntnis.
Er ist tot.