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Konfliktlösung
Manchmal begegnet man Menschen und man hat das Gefühl, als bestünde ein unsichtbares Band das einen zusammenhält. In solchen Momenten könnte man an ein früheres Leben glauben, weil diese Personen so vertraut sind, das man sie einfach schon getroffen haben muss.
So jemand begegnete mir in Form einer alten Frau im Klinikum Ernst von Bergmann, wo ich seit fünf Jahren auf der Krebsstation arbeite. Sie wurde Mitte April mit Lungenkrebs eingeliefert und war mit stattlichen 76 Jahren ein Routinefall. Trotzdem hatte sie mich sofort irritiert, genauer gesagt, als ich ihr in die Augen sah hatte ich das Gefühl, mein Magen würde eine kleine Karussellfahrt machen. Ich wusste nicht warum, aber ich hätte schwören können, sie irgendwoher zu kennen. Bei der täglichen Visite verschlimmerte sich das Gefühl mehr und mehr, sie kam mir so verdammt bekannt vor! Na ja, sie war mir keine besonders große Hilfe, immer vollgeknallt mit Schmerztabletten, da konnte man keine Auskunft erhoffen. Auf jeden Fall lag sie jetzt da und wartete wie viele Leidensgenossen auf den Tod.
Ich hatte mich um meine Arbeit zu kümmern. Für eine andere Patientin war das Warten nun vorbei, sie war friedlich im Schlaf gestorben. Bei den qualvollen Todeskämpfen, die manche auszutragen hatten, war das ein Umstand, den man sogar beglückwünschen konnte. Aber für uns ging die Schinderei jetzt richtig los, Inventar der Besitztümer auflisten, die Leiche waschen und schön herrichten, damit die Angehörigen sich in Ruhe verabschieden konnten. Wir verschränkten ihre Arme über einer Rose, ihr Gesicht wirkte friedlich, ihr letzter Besuch würde sich gebührend verabschieden können. Danach ging es ab in die Leichenkammer. Für viele Krankenschwestern ist dies das Schlimmste. Ich bot Jana, die heute mit mir Nachtschicht hatte wie immer an, den unangenehmen Job zu übernehmen. Also runter mit der guten Frau, in den Keller und rein zu den Mitstreitern. Natürlich konnte ich sie nicht einfach abstellen, ohne sie ordentlich vorzustellen. „So, liebe Leichen, das hier ist die Frau Geffers, ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen“. Als ich mit unserer Öhse mal hier unten war, ist sie beinahe ausgerastet, wegen der Respektlosigkeit, die ich an den Tag lege, aber jeder hat nun mal seine eigene Art mit dem Tod umzugehen, der ständig um einen herum zuschlägt.
Als ich wieder oben war, überkam mich das dringende Bedürfnis Frau Funk zu besuchen, die Dame, die mir so seltsam vertraut schien. Als ich in ihr Zimmer kam bemerkte ich die Krämpfe, die sie schüttelten und die Atemnot. Ich wollte Jana rufen und dann lebenserhaltende Maßnahmen einleiten, aber ein Blick in ihre Augen und ich war erstarrt. Sie hatte ein Flehen in dem Blick das mir beinahe das Herz brach. Ich weiß nicht woher, aber in dem Moment war ich mir hundertprozentig sicher, das sie jetzt gehen will, um sich weitere Schmerzen zu ersparen. Ich habe Jana nicht geholt und darüber hinaus habe ich durch heftiges Schütteln den Todeskampf verkürzt. Als sie tot war, ging ich erst mal ein paar Arbeiten nach, erst nach ca. 2 Stunden ging ich zusammen mit Jana rein und wir waren beide Zeugen, dass sie in unserer Abwesenheit gestorben ist. Ich hatte dann erst mal zwei freie Tage, erst als ich wieder auf Station war erzählten mir Kollegen, das der Sohn von Frau Funk erschienen ist, und untröstlich war, seine Mutter vor ihrem Tod nicht noch einmal besucht zu haben. Als ich das hörte drehte es mir mal wieder den Magen um. Was, wenn ich mich geirrt hatte, wenn Sie mich mit ihrem Blick nur bitten wollte, das ich ihr half noch einmal ihren Sohn zu sehen, bevor sie starb. Ein schlechtes Gewissen machte sich bei mir breit, und erinnerte mich fröhlich und penetrant daran, was ich der armen Frau doch angetan hatte. Es war ziemlich bald klar, das ich mit dieser Schuld nicht leben konnte. Aber was tun? Ich hatte bald eine ziemlich, sagen wir mal blöde Idee, aber ich war mir sicher, danach würde es mir besser gehen. Bei der nächsten Nachtschicht, ich war diesmal praktischerweise allein, Zufälle gibt’s, ging ich runter in die Leichenkammer, und setzte mich neben die Leiche meines Opfers. Ich begann mich inständig dafür zu entschuldigen dass ich ihr nicht geholfen hatte, als ich hinter mir einen Schatten sah. Als ich mich umdrehte, stand da ein ziemlich wütender Herr Funk junior hinter mir und hielt mir ein Klappmesser vors Gesicht. Mein ganzer Körper versteifte sich vor Schreck. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, sondern starrte die ganze Zeit auf dieses Messer. Plötzlich bewegte sich etwas hinter mir. Mein Herz muss mehr als einen Schlag ausgesetzt haben als Frau Funk von ihrem Tisch sprang und uns beide mit blutunterlaufenen Augen anschaute. Da ging es mir aber auch nicht alleine so, auch Herr Funk wurde kreidebleich und stammelte nur unverständliches Zeug. Dann sprang sie auf ihn drauf, anders kann man es nicht sagen, die 76 jährige Dame die bis eben noch tot auf einem Metalltisch in der Leichenhalle gelegen hatte, hüpfte auf ihren Sohn und prügelte auf ihn ein wie eine gerade entlassene Knastbraut. Ich hatte mich derweil in eine Ecke verkrochen und sah mir dieses Beispiel der Familienkonfliktlösung an, ohne auch nur im Mindesten zu begreifen, was da vorging. Frau Funk schlug mit voller Wucht auf ihren Sohn ein und sie war offensichtlich kräftiger als sie aussah, denn bald war er mit Blutergüssen übersäht und seine gebrochene Nase blutete wie verrückt. Nach und nach brachen auch die ersten Rippen und sie knickte seinen Arm um wie einen Papierstrohhalm. Sein Gesicht war eine Mischung aus Schmerz, Entsetzen und Todesangst. Ein brutaler Schlag auf dem Kopf ließ ihn zusammenbrechen und ich schätze er war wenige Minuten später tot. Auch Frau Funk sackte in sich zusammen und bewegte sich nicht mehr. Ich ging vorsichtig näher an die beiden heran, die jetzt in einer ziemlich konfusen Stellung übereinander hockten. Ich überzeugte mich noch, dass beide mit ziemlicher Sicherheit tot waren, dann kotzte ich den Boden voll. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich in ziemliche Erklärungsnot kam aber irgendwie schaffte das Krankenhaus es, diesen Skandal unter den Teppich zu kehren.
Ich machte erst mal einen zweiwöchigen Urlaub. Als ich wiederkam, erfuhr ich von Kollegen ein paar interessante Details über die Mutter- Sohn- Beziehung der Funks. Offenbar besaß Frau Funk ein seltenes Sammlerstück, eine Statue die wohl eine ganze Menge Gelt wert war. Ich habe nun leider keine Ahnung von Kunstgegenständen und ich fresse einen Besen wenn ich noch weiß, worum es sich dabei genau handelte, aber auf jeden Fall war Herr Funk ziemlich scharf darauf, das Ding möglichst schnell zu Gelt zu machen. Frau Funk bestand aber darauf, die Statue einem Museum zu spenden. Wie es weiter ging, kann sich jetzt sicher jeder denken, Herr Funk wollte am Tag nach ihrem Tod noch einmal auf sie einreden, musste aber feststellen, dass er da sozusagen auf taube Ohren sprach. Er hoffte jetzt den Schlüssel für den Tresor, in dem sich die Statue befand, in ihrem Inventar zu finden, Frau Funk war aber schlau genug gewesen, diesen vor ihrem Ableben zu verschlucken. Auf diese Idee musste auch der frustrierte Sohn gekommen sein, also kam er in die Leichenhalle, um seine Mutter etwas genauer zu untersuchen. Und ich hatte das Riesenglück dabei zu sein.
Ich habe mich übrigens um eine Stelle in einer anderen Station bemüht. Es wäre schön mal zu einem Patienten sagen zu können: „schön, das es Ihnen wieder besser geht, kommen Sie gut nach hause“. An Frau Funk musste ich ziemlich oft denken. Vielleicht sieht man sich ja im nächsten Leben.