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Kopfleuchten
Und dann möchte man träumen. Möchte fliegen. Irgendwohin, nur weit weg.
Die Menschen in der Schlange drängeln mit ihren Blicken. An der Decke kreist der Ventilator wie ein Raubvogel. Mit verbeulten Schwingen, die zum Abheben nicht reichen. Die große Leere in meinem Kopf füllt sich mit dem Duft von frischgebackenem Brot. Wie eine Laterne leuchtet er mir voran. Nimmt der Dunkelheit den Schrecken.
»Vogelfutter. Haben sie Vogelfutter?« Sie wissen schon, Körner, für die Vögel. Die Frau mit dem Unterleib aus Glas streut Zucker über ihr schmales Gesicht, als stünde sie zum Verkauf. Meine Gedanken versinken in ihrem Lächeln. Allmählich zerfließt das Rot ihrer Lippen, sammelt sich in den Wangen. Am liebsten würde sie jetzt ein Stückchen beiseite gehen, um zu beweisen, dass sie Beine hat. Und den Nächsten heranwinken. Doch sie bleibt stehen, wie festgebacken. Weil jemand vergessen hat, sie rechtzeitig umzudrehen.
»Nein«, antwortet sie. »Tut mir Leid.« Das zweite klingt nicht sehr ehrlich. Ich glaube sogar, sie lügt. Ganz sicher bin ich mir aber nicht. Wie auch? Sie versteckt die Hände hinter ihrem Rücken, der zur Salzsäule erstarrt ist. Wer weiß, ob sie nicht heimlich die Finger gekreuzt hat. Dann winkt sie doch und über ihre gekräuselten Lippen stolpert ein »Bis zum nächsten Mal«. Sie sagt es wie ein Losverkäufer, der Glück verspricht und Nieten verteilt.
Träume, sagt man, verzerren die Wirklichkeit. Was aber, wenn das ganze Leben ein Traum bleibt, aus dem man nicht aufwacht? Eine eigene Welt, in die man sich einigelt. Und die Stacheln ausfährt.
Das ist jetzt nicht mein Magen, der knurrt, nein, sondern mein Gewissen. Es lässt mich nie im Stich. Anders als mein Gedächtnis.
Das strahlende Blau des Himmels will so gar nicht zur Erde passen. Als hätte jemand die Wolken fein säuberlich ausgeschnitten und beiseite gelegt. Für schlechtere Tage. Die Parkbänke sind verwaist. Wenn keine Tauben da sind, scheint alles wie leergefegt. Vorübergehend frei von Dreck, den man vom toten Holz abkratzen könnte, auf dem ich sitze. Dann nämlich gönnt sich die gezähmte, grüne Wildnis eine Pause. Zum Luftholen.
Denken. Das ist, als würde man seine Gedanken zum Trocknen in den Wind hängen. Ohne Wäscheklammern.
Wenn mich jemand fragen würde, ich könnte ihm nicht sagen, wie ich es hierher zurück geschafft habe. Aber das macht niemand. Schon lange nicht mehr. Ich würde diesem Jemand nur etwas von einem unsichtbaren Gummiband erzählen, das einen ruckartig zurückholt, je weiter man sich nach draußen wagt. Eine Rettungsleine, für den Fall der Fälle. Er würde mir gar nicht zuhören. »Heimweh« würde er vermuten und lächeln. Doch es ist mehr als das, viel mehr.
Ich sitze auf dem Dach. Weil man von hier aus den totalen Überblick hat. Und weil alles so lächerlich winzig und einfach scheint. Das Leben, die Menschen und ihre Sorgen, die sie sich an die Stirn heften. Die so schwer sind, dass sie Falten verursachen. Gegen die keine Creme hilft. Der Arzt würde Freude auf sein Rezept kritzeln. Nur leider gibt es die nicht in der Apotheke.
Ein junger Mann lehnt mir gegenüber an dem Taubenschlag. Ich habe ihn gar nicht kommen hören. Er grüßt auch nicht, sondern schaut mich nur interessiert an.
»Sie, mein Herr, sind hier nicht im Zoo. Der ist um die Ecke, ein Kopfsprung weit entfernt.« Jetzt sollte ich vielleicht grinsen. Damit er nicht wirklich springt. Er starrt mich an. Die engstehenden, buschigen Augenbrauen verleihen seinem Gesicht einen ernsthaften Ausdruck. Wie ein Staudamm stemmen sie sich gegen die Falten darüber.
»Ich bin ganz allein.«, gebe ich zu.
– »Im Leben ist man nie ganz allein.« Er klingt wie ein Echo. Ob er weiß, wovon er da spricht?
Wir sitzen eine Zeitlang beisammen. Stille rankt zwischen uns, mit Dornen, die bei jedem Wort stechen. Eine Brieftaube kehrt heim, setzt sich auf das flache Holzdach über uns. Sie war heute fleißig und nun muss sie ohne etwas zu Essen ins Bett. Ja, eine Brieftaube möchte ich auch gerne sein. Einfach davonfliegen, unbekümmert und frei, immer nach Hause zurückfinden. Das sage ich ihm aber nicht. Es ist ein Geheimnis.
»Und was ist Liebe?«
Er lässt die Augenbrauen auseinander fahren. Die Strahlen der untergehenden Sonne legen einen milden Schleier über sein Gesicht.
»Liebe«, sagt er. »Das ist wie fliegen. Nur schöner.«
Und dann verschwindet er. Mit der Sonne. Wartet hinterm Horizont. Bis der Morgen dämmert.