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Kopfleuchten

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31.10.2004
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Kopfleuchten

Und dann möchte man träumen. Möchte fliegen. Irgendwohin, nur weit weg.

Die Menschen in der Schlange drängeln mit ihren Blicken. An der Decke kreist der Ventilator wie ein Raubvogel. Mit verbeulten Schwingen, die zum Abheben nicht reichen. Die große Leere in meinem Kopf füllt sich mit dem Duft von frischgebackenem Brot. Wie eine Laterne leuchtet er mir voran. Nimmt der Dunkelheit den Schrecken.

»Vogelfutter. Haben sie Vogelfutter?« Sie wissen schon, Körner, für die Vögel. Die Frau mit dem Unterleib aus Glas streut Zucker über ihr schmales Gesicht, als stünde sie zum Verkauf. Meine Gedanken versinken in ihrem Lächeln. Allmählich zerfließt das Rot ihrer Lippen, sammelt sich in den Wangen. Am liebsten würde sie jetzt ein Stückchen beiseite gehen, um zu beweisen, dass sie Beine hat. Und den Nächsten heranwinken. Doch sie bleibt stehen, wie festgebacken. Weil jemand vergessen hat, sie rechtzeitig umzudrehen.

»Nein«, antwortet sie. »Tut mir Leid.« Das zweite klingt nicht sehr ehrlich. Ich glaube sogar, sie lügt. Ganz sicher bin ich mir aber nicht. Wie auch? Sie versteckt die Hände hinter ihrem Rücken, der zur Salzsäule erstarrt ist. Wer weiß, ob sie nicht heimlich die Finger gekreuzt hat. Dann winkt sie doch und über ihre gekräuselten Lippen stolpert ein »Bis zum nächsten Mal«. Sie sagt es wie ein Losverkäufer, der Glück verspricht und Nieten verteilt.

Träume, sagt man, verzerren die Wirklichkeit. Was aber, wenn das ganze Leben ein Traum bleibt, aus dem man nicht aufwacht? Eine eigene Welt, in die man sich einigelt. Und die Stacheln ausfährt.

Das ist jetzt nicht mein Magen, der knurrt, nein, sondern mein Gewissen. Es lässt mich nie im Stich. Anders als mein Gedächtnis.

Das strahlende Blau des Himmels will so gar nicht zur Erde passen. Als hätte jemand die Wolken fein säuberlich ausgeschnitten und beiseite gelegt. Für schlechtere Tage. Die Parkbänke sind verwaist. Wenn keine Tauben da sind, scheint alles wie leergefegt. Vorübergehend frei von Dreck, den man vom toten Holz abkratzen könnte, auf dem ich sitze. Dann nämlich gönnt sich die gezähmte, grüne Wildnis eine Pause. Zum Luftholen.

Denken. Das ist, als würde man seine Gedanken zum Trocknen in den Wind hängen. Ohne Wäscheklammern.

Wenn mich jemand fragen würde, ich könnte ihm nicht sagen, wie ich es hierher zurück geschafft habe. Aber das macht niemand. Schon lange nicht mehr. Ich würde diesem Jemand nur etwas von einem unsichtbaren Gummiband erzählen, das einen ruckartig zurückholt, je weiter man sich nach draußen wagt. Eine Rettungsleine, für den Fall der Fälle. Er würde mir gar nicht zuhören. »Heimweh« würde er vermuten und lächeln. Doch es ist mehr als das, viel mehr.

Ich sitze auf dem Dach. Weil man von hier aus den totalen Überblick hat. Und weil alles so lächerlich winzig und einfach scheint. Das Leben, die Menschen und ihre Sorgen, die sie sich an die Stirn heften. Die so schwer sind, dass sie Falten verursachen. Gegen die keine Creme hilft. Der Arzt würde Freude auf sein Rezept kritzeln. Nur leider gibt es die nicht in der Apotheke.

Ein junger Mann lehnt mir gegenüber an dem Taubenschlag. Ich habe ihn gar nicht kommen hören. Er grüßt auch nicht, sondern schaut mich nur interessiert an.

»Sie, mein Herr, sind hier nicht im Zoo. Der ist um die Ecke, ein Kopfsprung weit entfernt.« Jetzt sollte ich vielleicht grinsen. Damit er nicht wirklich springt. Er starrt mich an. Die engstehenden, buschigen Augenbrauen verleihen seinem Gesicht einen ernsthaften Ausdruck. Wie ein Staudamm stemmen sie sich gegen die Falten darüber.

»Ich bin ganz allein.«, gebe ich zu.
– »Im Leben ist man nie ganz allein.« Er klingt wie ein Echo. Ob er weiß, wovon er da spricht?

Wir sitzen eine Zeitlang beisammen. Stille rankt zwischen uns, mit Dornen, die bei jedem Wort stechen. Eine Brieftaube kehrt heim, setzt sich auf das flache Holzdach über uns. Sie war heute fleißig und nun muss sie ohne etwas zu Essen ins Bett. Ja, eine Brieftaube möchte ich auch gerne sein. Einfach davonfliegen, unbekümmert und frei, immer nach Hause zurückfinden. Das sage ich ihm aber nicht. Es ist ein Geheimnis.

»Und was ist Liebe?«

Er lässt die Augenbrauen auseinander fahren. Die Strahlen der untergehenden Sonne legen einen milden Schleier über sein Gesicht.

»Liebe«, sagt er. »Das ist wie fliegen. Nur schöner.«

Und dann verschwindet er. Mit der Sonne. Wartet hinterm Horizont. Bis der Morgen dämmert.

 

Hallo Bella,

Ich möchte es dir nicht zu leicht machen. :)
Also, der junge Mann und die Brieftaube sind, was die Bedeutung/Übersetzung anbelangt, gewissermaßen Verwandte. Die Brieftaube verfügt über eine enormes Gedächtnis. Die Frau hat keines. Was also könnte der Mann darstellen? Wieso redet er so komisch? Warum möchte sie gerade von ihm erfahren, was Liebe bedeutet? Warum verschwindet er so plötzlich? Fragen. :hmm:

Lieben Gruß,
moonaY

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo sim,

Verwirrung ist nicht schön, sie macht einem anders. Sie erschwert einem das Leben in dieser restriktiven Welt, das ist richtig. Aber im Prinzip sind diese Leute nicht minderwertig. Während "normale" Menschen beispielsweise die Welt pragmatisch wahrnehmen, bei Mutter sofort an Schraube denken, gehen die Betroffenen vollkommen andere Gedankenwege. Und gelten deshalb als verrückt. Nichtsdestoweniger können sie beachtliche Leistungen auf anderen Gebieten (Malerei, Musik und andere Künste) erzielen. Dann stehen wir vor einem Gemälde und rätseln darüber, was der Künstler uns mit dem Motiv sagen will.

Die alltägliche Benachteiligung, die solche Menschen erfahren, ist u.a. in der Bäckereiszene verarbeitet. Sie werden belächelt. Dabei wollte ich in den Schilderungen der Wahrnehmungsweise der Frau nicht das Gefühl aufkommen lassen, dass sie total verrückt sei. Sie ist einfach nur anders. Das Andersartigkeit zur Isolation führt, dürfte bekannt sein.

Schade, dass dir die Geschichte sprachlich gesehen nicht gefällt. Wie du weisst, achte ich immer sehr auf bildhafte Formulierungen, in denen der Inhalt angedeutet wird. Kann gut sein, dass ich dieses Mal wieder übertrieben habe - die vielen unterschiedlichen Deutungen der Geschichte lassen das erahnen. Abgesehen davon, warst du der einzige Leser, der im Vorfeld wusste, woran die Prot. leidet. Womöglich hat sich das auf deine Leseeinstellung ausgewirkt.

Vielen Dank für deine Kritik.

Lieben Gruß,
moonaY

 

Hallo moonaY,

um ehrlich zu sein, fiel mir das Tourette Syndrom erst wieder ein, als Bella es erwähnte. Das habe ich aber erst nach meiner Kritk gelesen.

Vielleicht hilft es dir weiter, dass ich von der benachtieligung im Alltag in der Geschichte nichts gelesen habe. Ich habe es schlicht nicht verstanden oder nicht gesehen. Das Lächeln einer Bäckereiverkäuferin ist auch dann oft unehrlich, wenn niemand sie nach Vogelfutter fragt. Bei den Mengen an Mohn, Sesam oder Sonnenblumenkernen ist die Idee in einer Bäckerei nach Vogelfutter zu fragen ja noch nicht einmal völlig abwegig.

Ich wäre bestimmt der Letzte, der einen verwirrten Menschen als minderwertig betrachten würde, nur ist die Dikriminierung mE unter deinen Bildern begragen.
Mir gefällt deine bildhafte Sprache ja grundsätzlich, in dieser Geschichte fand ich sie nur übertrieben und nicht immer stimmig. Unf bei manchen Bildern hatte ich halt das Gefühl, dass du dir selber ihre Ausdruckkraft wieder zerstörst.

Dir einen lieben Gruß, sim

 

Hi,
ich habe die Geschichte wirklich sehr gerne gelesen. Herrlich bildhafter und unkonventioneller Schreibstil, der von Anfang bis Ende einfach Spass macht, aber gleichzeitig auch viel zum Nachdenken gibt.
Ich bin persönlich sowieso ein Fan von Geschichten in der Art, wie du sie geschrieben hast. Sehr schön :)

Gruss,
Neph

 

Hallo MonnaY,

ich habe jetzt weiterrecherchiert.

Die (Brief-)Taube steht für viele Symbole: Sie ist ein Kommunikationssymbol, ein Friedenssymbol, steht für Reinheit, Freiheit und sogar als Symbol der erotischen Annäherung. Tauben gelten als sehr treu, sind somit also auch ein Symbol der Treue.

Ok, wenn ich das jetzt mal aufbrösele:
Die Taube könnte in deiner Geschichte durchaus für die Kommunikation stehen. Vielleicht ist dieser Mann der einzige, der die Frau versteht - vielleicht, weil er selbst am Tourette-Syndrom leidet oder oder oder...
Das Symbol der Freiheit spielt in deiner Geschichte wohl eine große Rolle. Du deutest es an. Aber ich wüsste nicht, mit was ich die Person in deiner Geschichte gleich setzen sollte. Vielleicht jemand, vor dem deine Prot. frei ist.
Ein Symbol der erotischen Annäherung: Hm... dafür spricht eigentlich nur, dass du es für wichtig hältst, dass deine Prot. eine Frau ist. Der Mann könnte demzufolge ihr Gelieber sein, der nicht am Syndrom leidet und denoch der einzige ist, der sich die Mühe macht mit ihr zu sprechen... Aber dagegen spricht wiederum, dass sie ihn anfangs nicht erkennt...
Den Joker habe ich mir bis zum Ende aufgehoben, auch wenn ich nicht glaube, dass ich damit den Nagel auf den Kopf treffe: Die Taube wird auch oft in Verbindung mit dem heiligen Geist gebracht. Das würde sein plötzliches verschwinden und seine komische Sprach erklären.

Du siehst... ich bin noch dran. Ich möchte dieses Rätsel jetzt einfach knacken. Allerdings solltest du die Geschichte wirklich etwas umarbeiten. Ist nicht so gut, wenn keiner deiner Leser versteht, worauf du hinaus willst.

LG
Bella

 

Hallo Nephelyn,

Es freut mich ungemein, dass dir das Lesen Spaß gemacht hat. Vielen Dank für dein Lob. Viel zum Nachdenken gibt es wirklich. Darin liegt aber auch die Schwäche der Geschichte. Wie denkst du über den Inhalt?

Hallo Bella,

Bella schrieb:
Allerdings solltest du die Geschichte wirklich etwas umarbeiten. Ist nicht so gut, wenn keiner deiner Leser versteht, worauf du hinaus willst.
Da gebe ich dir hundertprozentig Recht.
Dennoch möchte ich dir für deine Bemühungen um das (richtig) Verständnis danken. Es ist überhaupt nicht leicht, herauszufinden, worum es hier geht. Dafür habe ich zu wenig explizit ausgeführt. Die Symbolik der Brieftaube ist, wie gesagt, auf ihre enorme Gedächtnisleistung beschränkt - so jedenfalls habe ich mir das gedacht. Der junge Mann, dem die Prot. auf ihrem Dach begegnet, ist nicht real. Er ist eine Halluzination, die aus ihrer Gehirnkrankheit resultiert. Dass er so ein seltsames Verhältnis zur Prot. hat, lässt nur einen Schluß zu...

Lieben Gruß,
moonaY

 

Hi moonaY,

Ui, da hast du mir ja was empfohlen. Ich mag zwar Rätsel, aber der Text war mir zu überladen mit Metaphern. Das die Prot geisteskrank ist, war allerdings nicht sooo schwer zu erkennen (jedenfalls habe ich es geahnt, und die anderen Kritiker haben meine Vermutungen bestätigt).
Das Tourette-Syndrom kannte ich zwar, aber ich hätte nie gedacht, dass Leute, die darunter Leiden, ihre Umgebung derart seltsam wahrnehmen. Soweit ich weiß, sind die (Haupt)Merkmale eines Tourette-Kranken seine Ticks (ständiges Rufen von Schimpfwörtern zum Beispiel).
Wie auch immer, wenn man den Text dahingehend betrachtet (die Welt aus den Augen eines geistig Behinderten), kann man ihn durchaus als gelungen bezeichnen. Wenn man sich beim Lesen aber keine Gedanken macht, wird man mit der Geschichte nicht viel anfangen können, da sie nicht gerade unterhaltsam ist.
Noch was: Über die gesamte Länge der Geschichte war nicht erkenntlich, ob der Prot männlich oder weiblich ist.

Liebe Grüße,
131aine

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Blaine,

Vielen Dank für deinen Kommentar. Metaphern und bilhafte Formulierungen sind Geschmackssache. Jedoch vermummen sie in dieser Gedichte den Inhalt. Alles erscheint undeutlich, die Verwirrung springt vom Ich-Erzähler auf die Form der Schilderung über. Der Protagonist sieht Dinge, die andere nicht sehen, denkt und fühlt anders - die Sprache ahmt dessen Sichtweise nach. Als Leser, sowie als beistehende Person steht man förmlich vor einem Rätsel.

Am Tourette-Syndrom leidet die Hauptperson (noch) nicht. Eine Amnesie, also ein Verlust des Gedächtnis, beeinträchtigt sie sehr. Dahingehend mag der Titel irreführend sein.

Den Unterhaltungswert habe ich in dieser ernsthaften Geschichte mit Absicht vernachlässigt. Im Mittelpunkt steht, dem Leser einen kurzen Einblick in des Leben einer gehirnkranken Person zu geben. Auf ihre Probleme, Ängste und Zweifel aufmerksam zu machen, und ihre Hoffnungen und Wünsche zu zeigen, sie aber nicht als minderwertig oder absolut hilflos darzustellen.

Das Geschlecht ist nicht von zentraler Bedeutung. Solch ein Schicksal kann jeden ereilen. Egal ob Mann oder Frau. Womöglich entsteht durch die Begegnung mit dem jungen Mann Verwirrung. Es handelt sich hierbei aber um keine Liebesbeziehung, sondern um ein ganz besonderes, transzendentales Verhältnis. Hat es schon jemand herausfinden können?

Lieben Gruß,
moonaY

 

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