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Kopflos

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21.01.2003
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Kopflos

Es war einer jener lauen Sommerabende, an dem Rod Davis die Polizeiarbeit hinter sich ließ und mit Marylin in die Stadt fuhr. Während Menschen sich in der U-Bahn griesgrämig gegenüber saßen, schien Marylin mit ihrer Präsenz das Abteil zu erhellen. Später schlenderten sie den breiten Bürgersteig der Dunbar Avenue entlang. Menschentrauben bewegten sich von Bar zu Bar. Das Licht der Straßenlaterne fiel auf einen Androiden, der vor einem kleinen Tisch am Bordstein saß und seine Artgenossen mit einem Hütchenspiel anlockte.
“Rod, machst du nicht mit?”
Davis antwortete nicht. Die Ironie konnte sie sich schenken. Wer konnte als Mensch mithalten? Während er sich an die unselige Schachpartie erinnerte, in der Marylin ihn zerrupft hatte, zog sie ihn zu einem Schaufenster.
“Sieh her. Eheringe.” Der hundertste Wink mit dem Zaunpfahl. Die U-Bahn rumpelte unter ihnen hinweg. Marylin lachte und drehte sich um sich selbst, als die Luft aus dem Schacht ihren weißen Rock hochblies. Das macht sie jedes Mal, wenn wir hier vorbei kommen, dachte Davis. Er bog mit ihr
in eine Seitenstrasse und zog sie in den nächsten Hauseingang, als er stolperte, fiel und auf etwas Weichem landete. Hinter ihm öffnete sich eine Tür. Zwei Frauen stiegen über ihn hinweg. Netzstrümpfe, lederne Miniröcke. Etwas klebte an seinen Händen.
“Blut.” Marylin sah an ihm vorbei: “Unter dir liegt jemand.” Ein Mann. Davis tastete nach seiner Halsschlagader. Der Mann war tot. Davis stand auf, ging auf die Straße, sprach in seine Armbanduhr und sah nach oben. ‘Hotel’ sagte das Schild. Marylin folgte seinem Blick und drückte sich an ihn.
“Wolltest du mit mir da rein?”
Ein Fluggleiter setzte auf. Polizisten sprangen heraus und sperrten den Bürgersteig vor dem Hotel ab, während sich Androiden von der Spurensicherung an die Arbeit machten.
“Ihm wurde das Genick gebrochen, sein Arm säuberlich abgetrennt.”
“Womit?”
“Sieht nach Laser aus. Der Mann ist seit einer Stunde tot.”
Der Android legte sein Gesicht in hausarztfreundliche Falten. Davis sah sich um.
“Der Arm ist weg.”
Der Arzt deutete mit dem Kopf auf Marylin.
“Davis, sollten Sie Ihrer Frau nicht den Anblick ersparen?”
“Es berührt sie nicht weiter.” Marylin drehte dem Arzt den Rücken zu und schob mit ihrer Hand die Haare über ihrem Nacken beiseite. Dioden ihrer Seriennummer leuchteten in zartem Rot.
“Ich verstehe.” Der Arzt lächelte. “Marylin, nicht wahr?”
Davis schickte sie nach Haus, als seine Leute von der Mordkommission eintrafen. Er ging mit seinen Kollegen in das Hotel, ließ sich das Register zeigen und befragte die Gäste.

Als Davis am nächsten Morgen im Büro das Hotelregister noch einmal studierte,
kam nichts Neues zum Vorschein.
“Miller, Fehlanzeige. Lass das Register zurück bringen. Frauen. Ich glaube nicht, dass die dem Mann das Genick gebrochen haben.”
“Androiden?”
“Die Frauen im Hotel waren keine.” Davis legte die Beine auf den Tisch.
“Was bleibt übrig? Weibliche, männliche Androiden oder Männer.”
“Fingerabdrücke?”
“Keine.”

“Eine Busfahrt!”, hauchte Marylin. “Rod, du bist so romantisch!”
Es war wieder Abend. Davis hatte vorgeschlagen zur Heimfahrt den Bus zu nehmen. Sie stiegen ein und zwängten sich an einem Mann vorbei, der mit einem Cellokoffer auf der letzten Bank saß. Sie standen im Gang, und Marylin ließ sich mit jedem Schaukeln des Busses gegen Davis fallen. Der sah die ausgemergelten Typen, die zur Nachtschicht fuhren und fragte sich, was an der Busfahrt romantisch sein sollte? Er blickte zum Fenster hinaus. Industriebrachen zogen an ihnen vorbei. Dampf quoll aus Kühltürmen und verschwand in der Nacht. Wie ein graues Monstrum kroch die Kühlschrankfabrik aus der Dunkelheit hervor. Ein paar Leute stiegen aus. Davis beobachtete, wie der Mann mit seinem Cellokoffer hinter dem Fabriktor verschwand.
An der nächsten Haltestelle standen Menschen. Eine Frau schrie, als sich die Bustüren öffneten. Sie hatte ihre Augen weit aufgerissen und starrte auf den Mann, der auf der hinteren Sitzbank lag. Er war tot und ihm fehlte ein Bein.
Der Bus blieb stehen. Der Fahrer rief die Zentrale. Nach einigen Minuten schwebten Polizeigleiter heran.
“Wie machen Sie das Boss, dass Sie immer gerade da sind, wo die Leichen liegen?”, staunte Miller, während sie beobachteten, wie die Androiden der Spurensicherung mit ihren Scannern über Fenster, Sitze und Haltestangen fuhren.
Davis bat Marylin, mit dem Bus nach Haus zu fahren. Er selbst fuhr mit Miller und einem Kriminaltechniker zur Fabrik zurück.

“Ein Mann mit einem Cellokoffer?” Der Mann war jung und kniff die Augen zusammen, als dächte er nach. Schwarze Haare fielen ihm ins Gesicht. Er hieß Al und war Schichtführer. “Das kann nur Arnie sein. Wir üben zur Zeit ‘Sfogava alle stelle’ von Giulio Caccini. Nach der Schicht, versteht sich. Ich spiele Querflöte. Was liegt gegen ihn vor?”
“Nichts. Wir möchten uns seinen Cellokoffer ansehen.”
Bleche rollten auf einer Bandstraße heran, glitten langsam an einem Mann vorbei, der ihnen seinen Rücken zugekehrt hatte. Er trug eine Maske vor dem Gesicht. In monotoner Regelmäßigkeit schoss die Spritzpistole weißen Lack auf die Platten.
“Sie werden sich wundern, warum hier so viele Androiden arbeiten?” Al deutete mit dem Kopf zu den Arbeitern hinüber. “Einfache Maschinen könnten es genau so gut. Aber wir wollen helfen, die Roboter von der Straße zu bekommen. Arnie zum Beispiel. Wir beide hatten unter Professor Klüpper Musik studiert. Dann stand er auf der Straße. Jetzt schneidet er Bleche zu.”
“Sein Cellokoffer?”
Al zeigte auf eine Tür am Ende der Halle.
“Steht im Aufenthaltsraum.”
Davis nickte dem Kriminaltechniker zu, der kehrte nach ein paar Minuten zurück.
“Kein Blut, keine Körperzellen, keine Fingerabdrücke.”
Sie gingen in die Blechverarbeitung. Al zeigte auf einen vierschrötigen Mann. Die Seriennummer leuchtete rötlich auf seinem Nacken. Blaue Strahlen schossen aus seiner Hand und fraßen sich durch das Blech. Die wuchtige Präsenz des Mannes, der stets die gleichen Bewegungen machte, beunruhigte Davis. Bevor das nächste Blech zur Verarbeitung vom Band bereitgestellt wurde, drehte sich der kahlgeschorene Kopf über dem Stiernacken zu ihnen hin. Seine Augen glichen zwei schwarzen Löchern.
“Musik studiert, sagten Sie? Cello spielen ist doch sicher nicht einfach, oder?”
Davis sah, wie der Mann mit seiner Arbeit fortfuhr.
“Arnie sagte mir, es sei eines der schwierigsten Geräte.” Al lachte. “Natürlich sagt das jeder von seinem Instrument.”
“Was können Sie mir noch über Arnie erzählen?”
“Nichts. Nun, vielleicht dies: Denken fällt ihm schwer, und er weiß es. Das Kybernetische Institut hat ihm eine Reparatur angeboten, doch er lehnte ab. Arnie meinte, er würde dann nicht mehr so gut auf dem Cello spielen können. Und er hat wohl Recht. Sein Spiel ist genial. Er sagte mir einmal, wenn er Mensch wäre, spielte er jetzt in einem Orchester und brauchte keine Bleche zuschneiden.
Ich tröstete ihn damit, dass ich als Mensch ebenfalls keinen Job im Orchester bekommen habe.”
“Was meinte er darauf?”
“Dass ihn das nicht wundere. Querflötisten gäbe es wie Sand am Meer.”

Am Tag darauf gab es einen weiteren Toten. Ihm fehlte der Kopf. Davis stand am Fenster und sah auf den Platz, der sich in alle Richtungen ausdehnte. Platz der menschlichen Einsicht. Hinter ihm ragten die grauen Türme des Kybernetischen Instituts in die tiefhängenden Wolken. Böen drückten den Regen gegen die Scheiben. Der Robotpolizist, der einsam unter dem prasselnden Regen auf dem Platz patroullierte, glich einer Ameise. Gab es nicht ein Märchen von einem Zinnsoldaten, der vom Wasser fortgespült wurde? Davis erinnerte sich an seine Kinderfrau. Sie hatte um die tausend Märchen und Fabeln im Kopf gehabt.
“Keine Fingerabdrücke, Rod.” Miller sah von seiner Tastatur hoch. “Die vom Kybernetischen Institut haben auch nicht weiter gedacht, als ne fette Sau springt.”
“Sau? Was ist das?”
“Weiß nicht.” Miller lehnte sich zurück. “Sie haben Androiden keine Fingerabdrücke verpasst.”
“Mit Absicht.” Davis ging zum Schreibtisch zurück. “Der Zentralcomputer hat es so gewollt.”

Davis Wohnung war leer, als er dort eintraf. Er hatte Marylin versprochen mit ihr am Klavier den Flohwalzer zu spielen und den Dingen später ihren Lauf lassen. Sie würde ihre Passion Modes auf Random stellen, hatte sie gesagt und seine Hand hatte unwillkürlich nach den Handschellen am Gürtel gegriffen. Marylin. Wo war sie? Ihm war, als fehle ihm ein Teil, und er dachte an den Killer.
Der Kommunikator fiepte.
“Rod, tu es nicht.” Es war Marylin. Erstaunt stellte Davis fest, dass ihre Stimme ängstlich klang.
“Davis. Sie wissen, wer ich bin, und Sie wissen, wo Sie mich finden können. Wenn Ihnen an Marylin etwas liegt, kommen Sie jetzt, unbewaffnet, und kommen Sie allein.”
Davis hatte Arnie nie reden hören. Doch er wusste, es war der Blechschneider.
Marylin, dachte er. Ihr warmes Lachen, der unschuldige Blick. Marylin auf dem Luftschacht, dem Klavierhocker, dem Billardtisch, im Bad – und im Bett. Davis setzte sich wie von selbst in Bewegung. Als er dem Nachtpförtner seine Dienstmarke zeigte war ihm, als sei er der Android, konditioniert und auf Marylin fixiert. Davis verschwendete keinen weiteren Gedanken, als er durch die leere Halle ging. Marylin. Im Aufenthaltsraum starte ihn der Cellokoffer an. Auf der anderen Seite war eine Tür. Davis ging darauf zu. Er las ‘Versuchsstation Dauertest’ und ging hinein.
“Wurde auch Zeit.” An den Wänden summten mannhohe Kühlschränke. Arnie stand in der Mitte des Raumes. Wuchtig, bedrohlich. Seine Augen schienen durch Davis hindurch zu sehen. Neben ihm saß Marylin. Ihre Arme an die Rückenlehne, ihre Beine an die des Stuhles gebunden. Ein Pflaster verschloss den Mund.
“Davis, ich will Mensch werden. Nur so komme ich ins Orchester.” Arnie hob wie zur Entschuldigung die Hände empor. “Es tut mir Leid, dass einige zu Schaden gekommen sind. Ich brauchte ihre Teile.”
Arnie ging zu einem Kühlschrank und riss die Tür auf. Ein Arm flog auf den Boden. Ein Kopf lag im Fach. Davis sah ein Bein neben einem Cellokoffer.
“Ist das der Koffer, mit dem du Arm und Bein weggetragen hast?”
“Den Kopf nicht zu vergessen. Wieso klappt es mit dem Austausch nicht, Davis? Hier sehen Sie.” Arnie schraubte einen Arm von seinem Rumpf, hob den menschlichen vom Boden auf und drückte ihn auf die leere Stelle.
“Halten Sie mal.” Davis presste mit Arnie den Arm gegen das Metall.
“Lassen Sie los.” Der Arm fiel zu Boden. “Ist das nicht komisch? Mein eigener Arm hingegen rastet sofort ein.”
“Arme und Beine? Was willst du damit? Der Kopf reicht doch. Mit Nacken natürlich”, sagte Davis. “Wenn er keine Registriernummer trägt, sieht jeder, dass du ein Mensch bist, und das ist doch, was du willst.”
“So ist es.” Arnie zog den Kopf an den Haaren aus dem Kühlschrank. Dann ging er auf Davis zu, blieb vor ihm stehen und rührte sich nicht.
“Arnie, was ist?”
“Davis. Ich habe nachgedacht. Du weißt, ich bin der Mörder. Es tut mir Leid, aber ich muss dich unschädlich machen. Warum nehme ich nicht Deinen Kopf und setze ihn mir auf? Dann bin ich du, und du wirst dich ja nicht selbst ins Gefängnis bringen, oder?”
Davis Gedanken rasten. “Arnie, das mag sein. Aber probier es doch mit dem Kopf, den du in der Hand hältst. Willst du nicht erst mal sehen, ob es klappt?”
“O.K., machen wir es zuerst mit diesem hier. Hilf mir, meinen Kopf abzuschrauben. Dann nimmst du den Menschenkopf und presst den Hals fünf Minuten lang auf meinen Rumpf. Sollte es nicht klappen, setzt Du meinen Kopf wieder auf.”
Davis bemühte sich vergebens. Arnies Kopf saß fest.
“Befreien wir Marylin. Sie ist kräftiger als ich. Zusammen müssten wir es schaffen.”
“Nun gut”, meinte Arnie und band Marylin los.
Davis meinte ein tückisches Funkeln in ihren Augen zu sehen. Er musste sich getäuscht haben. Denn als Davis Arnies Kopf in seinen Händen hielt und dessen Rumpf zu Boden fiel, fiel ihm Marylin um den Hals und schluchzte. Auch das kam unerwartet.
Davis hielt Arnies Kopf in Augenhöhe.
“Nun sag mir noch eines, Arnie, bevor ich dich im Kybernetischen Institut abliefere. Was hättest du mit meinem Kopf im Orchester machen wollen. Ich, der von Musik so wenig Ahnung hat, wie eine Sau vom Schachspiel?”
“Sau, was ist das?”, fragte Arnies Kopf.

Am nächsten Abend stand Davis mit Marylin wieder vor dem Juweliergeschäft.
“Marylin, sieh mal. Eheringe,” und er schob sie in den Laden hinein.

 

Unverdientermaßen liegt diese Geschichte unter "Ferner Schrieben". Souverän erzählt, spannend und mit vielen kleinen Details, die den Leser in jene Welt befördern.
Freilich ist das Motiv identisch mit "Der Zweihundertjährige" von Asimov, mit dem Unterschied, dass der darin beschriebene Robot die Robotergesetze beachtet und keine Menschen verstümmelt. Etwas farbiger hätte ich mir die Darstellung der Androiden gewünscht, und das Ende ist eigentlich völlig unglaubwürdig, denn warum sollte ein Android so blöd sein, dass er sich so verarschen lässt?
Schön auch die Anlehnung der Androiden an Filmschauspieler - nicht nur hilft das dabei, sie sich vorzustellen, sondern das ist auch ein gut vorstellbarer Trend.

Ein bisschen Witz ist auch mit drin, das Ende macht die Sache rund.

Fazit: sprachlich souverän, inhaltich spannend und gekonnt erzählt, mit wenigen logischen Löchern.

Und weil es hier im SF-Forum nicht so viele gute Geschichten gibt, kommt diese hier jetzt auf die Empfehlungsliste.

Uwe
:cool:

 

Hi claudio,
schön mal wieder was von dir hier zu lesen.

Eine tolle Geschichte hast du abgeliefert! Gut zu lesen, interessante Handlung, und die anspielung auf Schauspieler... (na, da kann ich als Österreicher über Arnie nur lachen :D )

Hut ab, gut gemacht!

glg Hunter

 

Hey Hunter,
"mal wieder" ist gut ;) Ich habe die Story in der 0-Antworten-Versenkung gefunden, sie ist schon vier Monate alt ... :D

 

Tatsache (auf datum geguckt hab)...
warum gibt es auf solche Geschichten keine Antworten? - Wohl zu wenig zum kritisieren...

 

Uwe, Hunter,
Danke. Nun, ich sehe auch nicht so oft rein. In unserem Dorf gibts nur dial-up.

>, und das Ende ist eigentlich völlig unglaubwürdig, denn warum sollte ein Android so blöd sein, dass er sich so verarschen lässt?


>“Nichts. Nun, vielleicht dies: Denken fällt ihm schwer, und er weiß es. Das Kybernetische Institut hat ihm eine Reparatur angeboten, doch er lehnte ab. "

Den Satz habe ich in der Story, damit es glaubwuerdiger ist, wenn Arnie seinen eigenen Kopf
abschraubt.

Gruss,
Claudio

 

Hallo Claudio!

Einziger Meckerpunkt war bei mir, dass ich nicht verstanden habe, wieso Rod Arnie gleich erkannt hab, obwohl er seine Stimme noch nie gehört hat. Ansonsten ganz runde Sache! :thumbsup:

Gruß
MrS

 

MrS,

Danke,

Nun, Al zeigte auf den Roboter, der Bleche zuschnitt. Vielleicht haette er noch sagen koennen: 'Das ist er'. Aber ich meine, ohne das geht es auch, da Al schon vorher erzaehlte, Arnie wuerde Bleche zuschneiden.

Gruss,

Claudio

 

Danke,

Jemand findet eine Geschichte gut, ein anderer nicht. Auch das ist nichts Neues :D

Gruss,

Claudio

 

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