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Kopfsteinpflasterkino
Der Mann versenkt das kleine Silberlöffelchen in der Zuckerdose. Vorsichtig hebt er es an und begutachtet prüfend den entstandenen symmetrischen Zuckerberg. Kritisch fährt er mit dem Zeigefinger über den weißen Hügel und streicht diesen exakt bis zum Löffelrand glatt. Die feinen, weißen Körnchen lässt er vorsichtig in den schwarzbraunen Kaffee regnen, peinlich genau darauf bedacht, dass der Löffel die tückisch feuchte Oberfläche des Kaffees nicht berührt. Diese Prozedur wiederholt er ein zweites, ein drittes Mal. Dann erst taucht der Löffel vollends in den dunklen Kaffee und verrührt die bittere Flüssigkeit mit den süßen Körnchen.
Ein fast schon feierliches Ritual, wie er es morgen für morgen zelebriert. Immer- ohne Ausnahme, ohne Kompromiss.
Doch vielleicht streicht er heute den Zuckerberg ein wenig nachlässiger als gewohnt zurecht, vielleicht versenkt er ihn heute etwas ungeduldiger. Eine unbestimmte, seltsame Unruhe hat ihn ergriffen. Aber nur demjenigen, dem der Mann vertraut ist, würde das leichte Zittern, nein kaum mehr als ein inneres Beben ist es wohl, seiner Hand auffallen.
Eine solche Person gibt es nicht. Der Mann hat keine Familie mehr, keine engen Freunde. Er lebt sein eigenes, völlig freies und unabhängiges Leben, so glaubt er zu wissen.
Um den Kaffee zu trinken benötigt der Mann 6 Minuten, weitere 4 Minuten um die Tasse zur Spüle zu tragen, auszuspülen und zurück in den Schrank zu stellen. 3 Minuten für ein wiederholtes flüchtiges Putzen der Zähne und noch einmal 6 Minuten um den grauen Mantel über zu streifen und die schwarze Aktentasche zu ergreifen, einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen, die Wohnungstür zu verriegeln und mit dem Aufzug ins Erdgeschoss zu fahren. Ein rascher Blick auf die Uhr gibt ihm Sicherheit, er hat den Zeitplan eingehalten.
Der Mann reckt seinen Arm und umgreift eine der grauen Halteschleifen. Er ist klein, ein wenig untersetzt. Schütteres, braunes Haar und ein kleiner, stets schmollig verzogener Mund. Auf die Zehenspitzen muss er sich stellen, recken, um den grauen Plastikgriff zu fassen zu bekommen. Die Tür pfeift einen schrillen Ton und schließt automatisch. Schwerfällig setzt sich die Straßenbahn in Bewegung und eingepfercht in ihr Männer, Frauen, Kinder. Der Mann- nur einer unter vielen.
Krampfhaft klammert er sich an seine Halteschlaufe, wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring, angestrengt bemüht, Körperkontakt zu vermeiden, mit dem tückische Kurven und unerwartetes Bremsen kurzzeitige Unachtsamkeit strafen. Die Enge der fremden Menschen zeichnet Unbehagen in sein Gesicht. Ein starrer, zum Boden gerichteter Blick, schützt ihn vor unangenehmem Augenkontakt. Seiner Phantasie gelingt es nicht, dem Stimmengemurmel und dem scharfen Geruch von Körperausdünstungen zu entfliehen.
Das Kopfsteinpflaster ist unangenehm zu begehen. Noch durch die harte Schuhsohle spürt man die Unebenheiten der Fußgängerzone. Nur wer aufmerksam nach unten schaut, kann den gefährlichen Schlaglöchern ausweichen.
Die dreckige Einkaufsstraße scheint wie ein vertrautes Laufband unter den Füßen des Mannes hinwegzugleiten. Uneben gehauene, graue Steine, festgetretene Kaugummis, ab und zu eine weggeworfene Papiertüte, ein Werbeflyer, eine Glasflasche. Immer wieder Schuhpaare, die ihm entgegenhetzen: braune, schwarze, weiße Schuhe, Riemensandalen, feine Lacklederstiefel, abgewetzte Snikers. Anonyme Schuhe, die in Sekundenschnelle vorbeigeeilt sind, ohne ihre Identität preis zu geben.
Eine raue Stimme von der Seite lässt den Mann aufschauen: ,, Señor, hätten Sie wohl einen Euro für mich?“ Ein alter, zerlumpter Mann hockt am Straßenrand. Die Kulisse seines notdürftigen Gelages bildet ein buntes Werbeplakat, auf dem eine Familie mit strahlend weißen Zähnen vor einem schmucken Stadthaus posiert. ,,Bausparvertrag, der schnelle Weg zum eigenen Haus!“ versprechen fette rote Lettern. Der Mann rümpft die Nase. Ein unangenehmer Geruch von Alkohol und kaltem Schweiß geht von dem Bettler aus, steigt in seine Nase und erweckt Ekel.
Dennoch senkt der Herr, wohl aus reiner Neugier, den Blick und beäugt die armselige Erscheinung des Obdachlosen. Der Bettler ist ein zerlumpter, wohl südländischer Mann, mit lustigen, kastanienbraunen Augen, die funkelnd aus einem eingefallenen, vom Alter gezeichneten Gesicht herausstechen. Die große, mit einem leichten Haken bedachte Nase scheint als würde sie nur durch das schmuddelig braune Pflaster gehalten, das sich über seinen Nasenrücken spannt. Graue, glänzende Haare sind nachlässig unter einer grünen Wollmütze verborgen und sein schmächtiger Oberkörper wurde in einen viel zu kleinen Kinderpullover gezwängt. Ein billiger Aufdruck einer grinsenden Mickeymaus lenkt von Dutzenden, den Pullover bedeckenden Flecken und Flicken ab. Die dürren, von Schrammen und dunkelroten Krusten besetzten Beine des Alten stecken in einem weiten, flatterigen Damenrock. An den Füßen trägt er offene, ausgelatschte Sandalen und in seiner Hand hält er einen zerknitterten Pappbecher mit der befremdlichen Aufschrift: ,,Inka-Kaffee- die bittere Versuchung!“. Der Boden des Bechers ist mit kupfernen Cent- Stücken besetzt.
Gerade diesen Pappbecher streckt der alte Kauz dem Mann entgegen: ,, Señor, ein Euro tut Ihnen doch nicht weh!“
Wohl eher die Genugtuung der empfundenen Überlegenheit als ehrliches Mitleid lassen den Mann tatsächlich nach seinem Portemonnaie greifen. Der Euro, der in den zerknitterten Pappbecher fällt, erfüllt nicht mehr als den Sinn einer Gabe für das eigene Gewissen.
Doch kaum ist die Euro-Münze in dem Becher des Alten verschwunden, da bereut der Mann schon die eigene Großzügigkeit. Warum unterstützt er einen dieser faulen Nichtsnutze, die nichts besseres zu tun haben, als rechtschaffende, hart arbeitende Menschen anzupöbeln? Soll es doch selbst arbeiten, dieses faule Pack! Die Polizei hätte er rufen sollen, statt das ewige Nichtstun des Alten auch noch zu unterstützen.
Doch die silberne Münze ist längst unwiderruflich in den bettelnden Becher gefallen und der Obdachlose lacht zufrieden. Seine kleinen braunen Finger verschwinden in dem Pappbecher und fischen angestrengt nach dem glänzenden Geldstück. Der Fang wird bedächtig beäugt und immer wieder zwischen den Fingern hin und her gedreht. Gestanzte Buchstaben umranken einen silbernen Lebensbaum: LIBERTÈ, EGALITÈ, FRATERNITÈ
Der alte Mann versteht den Sinn dieser, in seinen Augen verwirrenden Schriftzeichen nicht, kichert aber vergnügt, und entblößt dabei hemmungslos eine Reihe brauner, löchriger Zähne. ,, Señor, warten Sie einen momentito! “, ruft er dem Mann nach, der sich bereits ärgerlich zum Gehen gewandt hat und im Begriff ist weiter zu hasten. Dieser dreht sich ungehalten noch einmal um.
,, Schauen Sie dort“, tönt es ihm entgegen und der Alte weist mit seiner knochigen Hand auf die Mitte der Fußgängerzone. Die Augen des Mannes gleiten kurz suchend über das Pflaster, doch nehmen sie nichts als graue, unebene Steine und den wohl bekannten Müll der Einkaufsstraße wahr.
Der Fingerzeig des Alten aber verharrt fordernd auf das Pflaster gerichtet. ,,Señor, sehen sie doch, die Sonne scheint! Der Alligator, er liegt wieder da und sonnt sich!“
Der gepflegte Mann wird zornig, seine Mundwinkel beginnen gereizt zu zucken. Ein Alligator in der Fußgängerzone! Nein, er hat es nicht nötig, sich von dem verrückten Alten auch noch zum Narren halten zu lassen!
Doch dieser hat sich mittlerweile mit den Worten: ,,Warten Sie, ich zeig es Ihnen!“, erstaunlich behände aufgerappelt und springt nun, mit den Armen wild in der Luft rudernd in der Mitte der Einkaufsstraße umher. ,,Schwachsinniger Kerl!“, denkt der Herr, da fällt sein Blick plötzlich auf den grauen Schatten, den der große Betonkomplex der Karstadtfiliale und ein knorriger Nadelbaum auf den Gehweg werfen. Eine seltsame Gestalt nehmen die zwei ineinander verschmelzenden Schatten an, die beinahe, ja, ganz bestimmt sogar, der eines großen Krokodils ähnelt. Der Wind, der die Zweige des Baumes hin und her schwingen lässt, haucht dem Tier einen lebendigen Atem ein, lässt das große Maul mit den spitzen Eckzähnen immer wieder auf und zu schnappen. Der alte Mann hat mit seinen Armen einen weiteren, wenn auch viel kleineren Krokodilschatten auf das Pflaster gezeichnet und fechtet einen wilden Kampf mit dem großen Schattenungeheuer aus. Auf einmal ganz ruhig, steht der Mann und schaut zu, wie das Krokodil des Alten geschickt den Angriffen des Riesenalligators ausweicht, um kurz darauf wieder eine Attacke seinerseits zu starten. Dabei hüpft der Alte vergnügt über den Gehweg. Nur wenn Passanten neugierig gaffend stehen bleiben, hält er kurz inne, um ihnen alberne Grimassen zu schneiden.
Da plötzlich geschieht etwas Besonderes: Der elegante Herr lacht. Kein gewöhnliches, lautes Lachen ist es, so wie es der Alte Tag für Tag ungehemmt den Menschen entgegen wirft. Nein, vielmehr ist es ein stilles und unsicheres Kichern, das dem feinen Mann enthuscht. Eine innere Freude hat ihn ergriffen, der es aber kaum gelingt, sich einen Weg zu dem kleinen, verkniffenen Mund zu bahnen. Lediglich ein winziges Zucken umspielt seine Winkel.
Nein, die Augen sind es, die den beherrschten Mann verraten. Ein ungewohntes Blitzen in ihnen lässt die harten Züge im Gesicht des Mannes plötzlich weich erscheinen.
Wie lange schon hat er nicht mehr gelacht?
Ein kurzer Blick wandert auf die Uhr, als der Mann die automatische Glasdrehtür passiert. Er ist pünktlich, wie immer. Ein Kopfnicken in die Richtung des Pförtners und sichere Schritte durch die große, marmorweiße und moderne Eingangshalle. Vor den Aufzügen hat sich eine kleine Menschentraube gebildet. Ein prüfender Blick bestätigt dem Mann: Er kennt keinen dieser Männer und Frauen. Seit 7 Jahren arbeitet er Tag für Tag mit ihnen zusammen im selben Gebäude, kämpft mit ihnen für den Aufschwung der Firma. Und doch hat er die meisten von ihnen nie gesehen. Wie sollte er auch? 15 Etagen, 254 Büros bürgen für Anonymität. Der Mann genießt es.
12. Etage, Tür Nr. 28, sein Büro: ein kleines, aber zweckmäßig ausgestattetes Arbeitszimmer. Schreibtisch, Lederdrehstuhl, Rechner, Fensterfront. Eines von 254 Standardbüros. Hier prüft der Mann jeden Tag Bilanzen. Er kontrolliert, berechnet, korrigiert. Er liebt seinen Beruf. Hinter Aktenstapeln und Bilanzdaten verbleiben keine drängenden Fragen über den Sinn des Lebens.
Am nächsten Tag sind die Erinnerungen an den zerlumpten Bettler schon fast wieder verblasst. Die Schritte des Mannes setzen sich automatisch, die Fußgängerzone wird zum gewohnten, lästigen Weg, den er routinemäßig zurücklegt. Geschickt umtrippelt er dabei tückische Schlaglöcher.
Ein Werbeflyer, eine weggeworfene Pommestüte und ein zerplatzter Luftballon gleiten unter seinen Füßen hinweg, werden von ihm wahrgenommen, um gleich wieder vergessen zu werden. In seinen Gedanken ist er längst dabei imaginäre Bilanzen zu prüfen, zu kontrollieren, zu berechnen und zu korrigieren.
Eigentlich müsste er die Stelle wiedererkennen, auf die raue Stimme des Alten vorbeireitet sein. Und doch fährt er erschrocken zusammen, als der Bettler ihm von der Seite erfreut entgegen lallt: ,,Señor, was für eine Überraschung Sie wieder zu sehen!“
Der Mann will peinlich berührt weiter gehen, doch die Stimme des Alten jagt ihm hinterher, nagelt ihn fest. ,,Haben Sie nicht etwas vergessen? Señor, der Euro! Sie haben mir keinen Euro gegeben. Wovon soll ich denn leben? Ya puès, Señor!“ Schon beginnen Passanten sich umzudrehen, um den Alten und den vornehmen Mann mit neugierigen, sensationslustigen Blicken zu mustern. Der Mann wird nervös. Hastig entnimmt er seinem Portemonnaie einen Euro und versenkt diesen in dem Pappbecher des Bettlers. Schweigegeld.
Und wieder ist sie da, die Wut. Warum hat er dem Alten noch einmal ein Geldstück hingeworfen und wieder nicht die Polizei gerufen? Zorn, Verunsicherung.
Der Alte strahlt. ,,Señor, Sie sind ein guter Mensch! Und jetzt schauen Sie, dort! Sehen Sie das kleine Mädchen mit dem viel zu großen Eis?“
Auf der gegenüber liegenden Seite der Fußgängerzone trippelt ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und einem rosa Rüschenkleid unruhig vor dem Eingang der Karstadtfiliale von einem Fuß auf den anderen. In der rechten Hand hält es ein riesiges Eis, die Linke ist in das lange, braun-weiße Fell eines großen Bernhardiners gewühlt. Eine schlanke, junge Frau, vermutlich die Mutter, beugt sich zu dem Kind hinunter und redet auf es ein. Dann verschwindet sie eilig im Kaufhaus.
,, Passen Sie auf, was passiert! Ich kenne Nora. Sie ist so ein gutes Kind, sie teilt einfach alles.“, brabbelt der Alte.
Und tatsächlich: Kaum hat sich das Mädchen davon überzeugt, dass seine Mutter im Kaufhaus zwischen Regalen mit Parfümkokons und Duschgelflaschen verschwunden ist, beugt es sich zu dem großen Hund herunter und hält ihm das Waffelhörnchen vor die Schnauze. Der Bernhardiner wedelt freudig mit dem Schwanz und fährt mit seiner roten, feuchten Zunge gierig über die angebotene Eiskrem. So stehen sie da, Mädchen und Hund, und lecken abwechselnd an dem Eishörnchen. Einen wahrlich komischen Anblick bieten sie. Der Bettler lacht ein triumphierendes, aber warmes und ehrliches Lachen.
Was bloß ist das Besondere an dem Lachen des Alten? Ansteckend ist es und erweckt Heiterkeit in jedem, zu dem es dringt. Ohne es selbst zu bemerken, beginnt auch der mürrische Herr plötzlich zu lächeln. Ja, der Anblick des Kindes und des großen Hundes bereitet ihm Freude.
Eine leere Colaflasche, ein kleines Schlagloch, zwei schmutzige, festgetretene Kaugummis, ein Paar unsichere Füße in High-heels.
Sicher gezielte Schritte tragen den Mann über das tückische Pflaster. Geschickt weicht er dabei den Unebenheiten des Kopfsteinpflasters aus. Gedanken in seinem Kopf, denen er nicht entfliehen kann. Diesmal konnte er den Alten nicht vergessen. Genau erkennt er heute die Stelle, an der der Bettler kauert. Wie war es gestern passiert, dass er über ein unerzogenes Mädchen und einen verfressenen Köter lachen konnte? Warum eigentlich war er überhaupt stehen geblieben, als der Alte auf das Mädchen deutete? Und wieso um alles in der Welt ist ihm der Alte auf unerklärliche Art und Weise sympathisch geworden? Vorwurfsvolle Fragen. Peinliche Fragen. Gnadenlos ist er seinem eigenen Spott und Hohn ausgeliefert. Er kennt die Antworten, doch er will sie nicht wahr haben. Längst weiß er, dass er den Alten wieder sehen möchte.
Ein Hosenknopf, ein großes Schlagloch, abgewetzte Turnschuhe- Nervosität.
Seine Schritte werden langsamer. Warum will er einen Obdachlosen treffen, einen Taugenichts, einen Penner? Nein, mit solch einem Typen und seinen albernen Spielchen will er nichts zu tun haben. Einen Umweg wird er heute nehmen und ihm aus dem Weg gehen!
Ein Papiertaschentuch, ein Kassenbon, ein Pappbecher, automatische Schritte- Wut.
,,Señor, buonas dias, guten Morgen! Einen Euro haben Sie doch sicher auch heute für mich!“ Der Alte sitzt an der selben Stelle, wie immer. Fast scheint es, als würde er diesen Ort nie verlassen.
Ein glänzendes Geldstück fällt in den fordernden Becher des Alten, ein Lächeln zaubert dieser dafür auf die Lippen des verschrobenen Mannes. Mehr als ein Dienstleistungsverhältnis.
Ausgetretene Zigarettenkippen, buntes Konfetti, ein halbes, hartes Brötchen- Neid.
Und wieder drängende Gedanken in dem Kopf des Mannes. Warum hat er über die Späße eines Penners geschmunzelt?
Aber was für ein herrliches Gefühl war es gewesen– zu lachen. Diese Leichtigkeit, Freude, das innere Beben des Körpers, das nicht beherrschbare Zucken der Mundwinkel. Längst ist das Lachen eine Droge geworden, nach der er sich sehnt. Doch selbst kann er sie sich nicht beschaffen. Der Alte ist sein Dealer.
Ein Bonbonpapier, zwei Zigarettenkippen, eine zerknüllte Zeitung- Abhängigkeit.
Warum eigentlich kann er Geschehnisse in der Fußgängerzone, wie der Bettler sie ihm zeigt, nicht selbst entdecken? Sollte ihm der dreckige, zerlumpte Aussteiger womöglich überlegen sein? ,Nein, das kann nicht sein!’, fährt es dem Mann zornig durch den Kopf. ,Was der Alte kann, das kann ich allemal!´
Ganz langsam hebt der elegante Mann den Kopf, entreißt sich erst wenig, dann endgültig dem ewigen Laufband des Kopfsteinpflasters und schaut auf.
Und plötzlich beginnt der Mann seine Umwelt anders wahr zu nehmen, als je zuvor:
Er sieht den alten Eisverkäufer und die lärmende Schar von Kindern, die sich um seinen bunten Eiswagen gebildet hat. Er beobachtet zwei Tauben, die sich auf der bunten Werbereklame der Drogerie ein Nest gebaut haben. Zum Trotz von zerbogenen, langen Eisennägeln, die das Schild vor den grauen Vögeln und deren weißen Exkrementen schützen sollen, haben sie ihr Nest so geschickt in die Drahtstäbe geflochten, dass diese als zusätzlicher Halt dienen. Zärtlich picken sich die zwei Vögel gegenseitig das Gefieder. Der Mann spürt die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und ist auf unerklärliche Weise glücklich.
Es geschieht schnell, unvermittelt. Der schwarze Lackschuh des Mannes gerät in ein Schlagloch, verhakt sich unter einem Stein, der Mann verliert das Gleichgewicht, stürzt. Fluchend erhebt er sich. Der empfindliche Stoff der Anzughose ist zerrissen, legt ein zerschrammtes, blutiges Knie frei.
Das aufgeschlagene Bein hinterlässt einen brennenden Schmerz, doch er lässt sich ertragen. Der eigentliche Schmerz sitzt tiefer.
Ein Kinderschnuller, ein bronzefarbenes Geldstück, eine plattgetretene Getränkedose
-Kopfsteinpflasterkino.
,,Lassen Sie mich los! Nein, nein!“ Die Stimme des Alten dringt an das Ohr des Mannes. Verändert klingt sie. Ein ängstlicher Unterton ist dem vergnügten Klang seiner Stimme gewichen. Der Mann bleibt stehen, schaut auf. Um den Platz des Penners hat sich eine Traube neugierig gaffender Menschen gebildet. In ihrer Mitte ringen zwei uniformierte Beamte mit einem, panisch um sich schlagenden, Gliederbündel. Doch nur wenige Minuten dauert es und sicher angesetzte Polizeigriffe haben dem Alten die Arme auf den Rücken gedreht und erlauben keinen Widerstand mehr. Schluchzend sackt dieser in sich zusammen ,,Ich will hier bleiben. Ich tue niemandem etwas. Ich will nur bleiben. Ich bin doch hier zuhause!“
Die sensationslustige Menschenmenge billigt die Verzweiflung des Alten mit Genugtuung, findet sie sich doch in all ihren Erwartungen bestätigt. ,, Recht geschieht es ihm!“ ,, Was sitzt er hier auch rum und pöbelt rechtschaffende Menschen an!“ ,, Ist doch alles vom gleichen Schlag dieses Pack!“ ,, Gut, dass endlich hart durchgegriffen wird!“, ereifern sich aufgebrachte Stimmen.
Der Mann wendet den Blick ab und geht schnell weiter. Für ihn gibt es nichts mehr zu sehen. Das vertraute, endlose Laufband der Fußgängerzone gleitet unter seinen Füßen hinweg:
Glasscherben, Schlaglöcher, eine zertretene Eistüte, eine tote Taube- Schuldgefühle.