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Korpsgeist

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16.12.2002
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Korpsgeist

Post mortem

Post mortem

Das Ganze war von Anfang an eine überaus vertrackte Situation.
Der erste Eindruck wäre der wichtigste, hieß es, und der war alles andere als gut.
Er ahnte sofort worum es ging, das machte alles so schwierig für ihn, ließ ihn das Schlimmste befürchten.
Von einer Verkettung besonders unglücklicher Umstände konnte jedenfalls keine Rede sein - nicht wenn sich sein Verdacht bestätigte.
Und das sollte er.

Kriminalhauptkommissar Klein blieb lange vor dem leblosen Körper stehen. Der Schrecken in des Toten Gesicht machte ihn nachdenklich. Obwohl das Zimmer mittlerweile gut durchlüftet war, hing ein schwerer Geruch nach verbranntem Kunststoff und alten Zeiten im Raum. Gerüche vergisst man nicht. Sie lassen uns erinnern, unbewusst, an Gutes und an Schlechtes.
Er drehte sich um, zerlegte das Umfeld in Bilder. Jedes einzelne Bild klopfte er nach Widersprüchen ab, überprüfte die Stimmigkeit. Passte auch alles zusammen? Oder störte etwas diese Momentaufnahme? Er trat an den Camcorder, sah die Rauchspuren, sah sich den verbrannten Kassetten-Einschub an, roch daran.

„Weiß jemand wie der Tote heißt?“, rief er in den Raum hinein.
Ein uniformierter Polizist kam zu ihm.
„Ein gewisser Harfourg wohnt hier, aber ob das der Tote ist ...“
Klein überlegte eine Weile.
„Harfourg … Harfourg … ich hatte mal was mit einem Julius Harfourg zu tun …“
„Ja, das ist der Name.“
Der Kriminalhauptkommissar schüttelte ungläubig den Kopf.
„Das hier soll Julius Harfourg sein? Seid ihr sicher?“
Sein Assistent, Kriminalkommissar Zimmer, kam zu ihm und reichte ihm einen Personalausweis.
„Nicht Julius, das hier ist Jens Harfourg.“
„Stellen Sie fest in welcher Beziehung beide stehen“, wies er seinen Assistenten an, „und auch wo sich Julius Harfourg momentan aufhält.“
Ein junger Mann näherte sich ihm. Offenbar der Notarzt. Sein forsches Vorgehen ließ darauf schließen, dass es einer seiner ersten Einsätze war. „Wir müssen den Toten noch untersuchen.“
„Tun Sie es.“
„Dazu müssen wir ihn mitnehmen.“
„Ich glaube nicht, dass es notwendig sein wird!“
Warum erwischte es immer nur ihn! So viele Polizisten tappten völlig unnötig in der Gegend herum, aber wenn es einen erwischte, dann ihn. Immer er.
Klein wünschte, er hätte beizeiten seinen Abschied vom Dienst genommen, oder zumindest Urlaub.

Mitnehmen würden sie ihn, so oder so, aber sie durften die Leiche auf gar keinen Fall obduzieren. Er musste Zeit gewinnen, musste sicher sein, dass es nicht so war wie er befürchtete.

Hier, an diesem Tatort, schien jeder Probleme zu haben. Die des Arztes lagen in seiner Jugend und in seiner Unerfahrenheit. Auf einem Lehrgang hatte er gehört, es gäbe ab und zu besserwisserische Polizisten, da dürfe man nie klein beigeben. Es käme allein darauf an, was der Arzt vor Ort schrieb, und sonst auf nichts. Nun musste er es in die Praxis umsetzen. Aber das hier schien ein besonders hartnäckiges Exemplar eines Polizeibeamten zu sein.

„Wir müssen die Todesursache eindeutig klären.“
„Müssen Sie nicht!“, sagte dieses Exemplar zu dem Arzt, „ Das müssen Sie nur bei begründetem Verdacht auf ein Verbrechen tun. Haben Sie einen?“
„Das nicht“, räumte der Arzt ein, „aber ich bin mir über die Todesursache nicht im Klaren.“
Aber ich, dachte Klein. Und ob ich die kenne. Und ihm war durchaus nicht wohl dabei.
„Wollen Sie wirklich jeden Toten obduzieren, bei dem Sie nicht sicher sind woran der gestorben ist? Wer soll denn für den ganzen Aufwand aufkommen?“
Die Polizei hatte alle Räume inspiziert. Nirgends waren Anzeichen gewaltsamen Eindringens zu erkennen. Zimmer kam zurück und erzählte seinem Vorgesetzten, es sei ein Neffe von Julius Harfourg, so viel stand schon mal fest. Klein setzte sein Wissen umgehend ein.
„Der Mann hier hat sich im Haus seines Onkels ein Video angesehen und einen Herzschlag bekommen. Glauben Sie mir, es sieht nicht nur so aus, es ist auch so.“
Der Notarzt ließ nicht locker.
„Woran wollen Sie erkennen, dass er an einem Herzanfall gestorben ist? Sind Sie Arzt?“
„Glauben Sie einem alten, erfahrenen Mann, der kurz vor seiner Pensionierung steht. Oder haben Sie Hinweise auf Fremdeinwirkung gefunden?“
„Das reicht mir nicht. Ich werde ...“
„ ... mir einen Totenschein geben, auf dem Herzversagen steht. Andernfalls ...“
„Andernfalls?“
„ ... bekommt Ihr Arbeitgeber eine gesalzene Abrechnung von uns über geleistete Mehrarbeit und bleibt auf seinen eigenen Kosten sitzen, so einfach ist das. Es sei denn Sie können wirklich etwas anderes nachweisen.“

Der junge Arzt griff zum Handy.
Erstaunlicherweise war sein Vorgesetzter sofort erreichbar. Der Arzt in Not schilderte sein Dilemma.
„Im Prinzip haben Sie zwei Möglichkeiten,“ erklärte ihm der Mann, der sonst nie Zeit für seine Leute erübrigen konnte: „Entweder es war ein natürlicher Tod, dann machen Sie das Kreuz in das entsprechende Kästchen und die Angelegenheit ist damit erledigt. Oder es war keiner, dann müssen Sie als Todesursache ungeklärt ankreuzen. Und beides müssen Sie, der Aussteller, verantworten, und sonst keiner.“ Er ließ etwas Zeit zum nachdenken, bevor er fort fuhr: „Wer ist denn von der Polizei anwesend?“
Der Doktor lief mit dem Handy am Ohr in der Wohnung auf und ab, während er seinem Chef erzählte: „Klein.“
„Kriminalhauptkommissar Klein?“, vergewisserte sich dieser.
„ Ja.“
„Und was hält der von der ganzen Sache?“
Der junge Mann kam leicht ins Trudeln, als er schilderte was bisher vorgefallen war.
Der Chef versuchte ihn zu beruhigen: „ Nur keine Panik. Machen Sie das Kreuz dorthin, wo es hingehört. Ich setze mich gleich mit dem Staatsanwalt in Verbindung.“

Kurz darauf läutete Kleins Handy.
„Michael, was ist los?“
„Tag Hans, hab mir schon gedacht, dass du dich melden wirst. Der Tote ist Jens Harfourg, Neffe von Julius Harfourg.“
Dem Teilnehmer am anderen Ende der Verbindung war dieser Name durchaus ein Begriff. Für einen Moment war Funkstille. Dann fragte der Staatsanwalt mit belegter Stimme: „Hat das was zu bedeuten – ich meine für uns?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber es sieht so aus, als hätte Julius auf seine alten Tage noch seine Fähigkeiten ausgespielt. Nur verstehe ich nicht warum? Und dann auch noch gegen die eigene Familie … Eines dieser Geräte, mit denen wir herumexperimentiert haben steht hier im Wohnzimmer.“
„Bist du sicher?“
„Im Moment deutet jedenfalls alles darauf hin. Sieht alles so aus wie damals bei Leffe.“
„Diesem dänischen Leutnant“?
„Den meine ich.“
„Scheiße!“ entfuhr es dem Staatsanwalt höchst unstaatsmännisch.
Klein hatte sich während des Gesprächs etwas abseits gehalten. Am anderen Ende des gar nicht so umweltfreundlichen Gespräches sagte die Stimme: „Meinst du es war Absicht?“
„Schlecht vorstellbar. Ich kann mir beim besten Willen keinen Reim darauf machen.“
„Mensch, Michael, das darf auf keinen Fall an die große Glocke gehängt werden. Wenn die Presse davon Wind bekommt, haben wir ein Problem. Was macht denn der junge Arzt?“
Klein warf einen Blick in die Richtung des Arztes: „Der schreibt.“
„Hoffentlich das Richtige. Wir dürfen es nicht zu einer Obduktion kommen lassen. Na ja, warten wir es einfach mal ab. Halt mich bitte auf dem Laufenden, wir hören uns … “ Dann beendete der Staatsanwalt das Gespräch.

Als sie aus der Haustüre traten, kam ihnen ein junger Mann aus dem Garten entgegen.
„Tut mir leid, ich habe mich übergeben müssen“, sagte er: „Danke, dass Sie gleich gekommen sind. Der komische Geruch und dann dieser Ausdruck in seinem Gesicht, all das hat mir übel mitgespielt.“
Klein sah ihn verwundert an.
„Sie haben die Polizei gerufen?“
„Ja, warum?“
„Sie sind …?“
„Walter Harfourg“
Der Unmut war dem Kriminalhauptkommissar ins Gesicht geschrieben, als er ins Haus brüllte: „Wieso weiß ich nichts davon?“
Wieder an Walter gewandt, schlug er sanftere Töne an.
“Nicht besonders angenehm, der Gestank von verbrannter Elektronik. Das muss schlimm für Sie gewesen sein.“
Walter sagte: „Ja – schließlich ist es meinen Bruder …!“
Das wird ja immer schöner, dachte Klein, nicht nur dass sie ihm einen Zeugen vorenthalten haben, es war auch noch der Bruder des Opfers. Wird Zeit, dass ich aufhöre! Laut sagte er: „Würde es Ihnen was ausmachen morgen zu mir ins Büro zu kommen? Da scheinen doch noch ein paar Fragen offen zu sein. “
„Kein Problem.“
Im Gehen drehte sich Klein noch einmal um.
„Wo sich Ihr Onkel aufhält, wissen Sie nicht zufällig?“
„Doch, auf dem hiesigen Friedhof. Mein Onkel ist tot.“

Michael Klein hasste alles, was seine Pensionierung verzögerte. Und er hasste Schreibtischarbeit. Er und Kriminalkommissar Zimmer arbeiteten noch nicht lange zusammen. Man kannte sich zwar, hatte aber noch nicht so viel miteinander zu tun gehabt. Es sollte auch nur während der Sommermonate sein, denn dann würde er in den wohlverdienten Ruhestand versetzt, und Zimmer würde wieder seinem gewohnten Trott nachgehen.
Sie befragten den Bruder des Toten auf dem Revier.
Walter erzählte den beiden Beamten bereitwillig all das, von dem er annahm, es könnte von Bedeutung sein.

***

Als die Brüder Jens und Walter Harfourg vor einigen Tagen das Krankenhaus betraten, in dem ihr Onkel lag, wussten sie nicht, dass es ihr letzter Besuch bei ihm werden sollte. Niemand konnte das wissen. Und deshalb konnte sie auch niemand darauf vorbereiten. Der alte Mann wurde öfter ohne erkennbaren Anlass ohnmächtig. Er sollte nur für ein paar Tage zur Beobachtung ins Krankenhaus.,
Niemand hätte sich träumen lassen, dass er hier sterben würde. Es war in den Köpfen derer, die ihn hierher geschickt haben einfach nicht vorgesehen.
Es war Hochsommer und entsprechend heiß im Zimmer. Dem Onkel ging es nicht gut.
Er lag da auf seinem Bett, bekam schlecht Luft und sah richtig elend aus.

Jens und Walter – unterschiedlicher konnten zwei Brüder nicht sein.
Jens gehörte zu den Gebeutelten, stets bemüht, nirgends anzuecken.
Im Gegenteil, je intensiver er sich um Anerkennung bemühte, desto mehr Ablehnung erfuhr er durch seine Umgebung.
Walter war das Gegenteil. Seine Wünsche schienen erfüllt zu werden, ehe er sie auch nur ausgesprochen hatte; sobald er einen Raum betrat, war er Mittelpunkt.
Jens war von nicht allzu großer Statur, hatte, wie sein Bruder kräftiges, blondes Haar. Das war aber auch schon alles an Gemeinsamkeit. Denn im Gegensatz zu diesem war er eher schmächtig. Das versuchte er normalerweise durch sein Mundwerk auszugleichen; sympathischer machte es ihn aber nicht. Jens studierte Literatur, Walter hatte seinen Elektrotechniker gemacht.

Auch der alte Julius zog Walter vor, er war sein Lieblingsneffe.
Trotzdem hing Jens an seinem Onkel. Es war eine verkehrte Welt.
Jens versuchte seinem angeknacksten Selbstwertgefühl über die geistig literarische Ebene das zu geben, was sein Onkel ihm durch seine Ablehnung verweigerte. Er las viel, sah sich Filme an und ging in Theatervorstellungen. Auch versuchte er sich selbst als Autor von Kurzgeschichten und Novellen.
Dafür brauchte er Ruhe. Einen Platz wo ihn niemand störte, wo er allein sein konnte.
Raus aus der Welt, in der er lebte. Weg von den Stahlkochern, die ihm die Luft verpesteten. Fort von Presslufthämmern und Straßenlärm.
Und dann fand er ihn: Es war ein wunderschöner alter Bahnhof. Die Gebäude waren nicht besonders gut erhalten, zugegeben, aber wenn er etwas Zeit und Geld investierte, ließe sich bestimmt etwas daraus machen. Vielleicht konnte er seinen Onkel davon überzeugen ihm das Geld zu – leihen?
Er lieh sich einen Camcorder und fuhr in den Hochwald. Er wollte seinem Onkel all die Pracht dieser Idylle so zeigen, wie er sie kennen und lieben gelernt hat. Den ganzen Tag ließ er sich Zeit, bannte jede Einzelheit auf Kassette. Jeden Stein und jeden Maulwurfhügel.

Und nun lag der Onkel da, und es ging ihm sehr schlecht.
Er schickte Jens hinaus, weil er seinen Lieblingsneffen auf etwas vorbereiten wollte – für alle Fälle.
Walter hatte ihm erzählt, dass Jens dringend Geld brauchte für einen Bahnhof, aus dem er einen Ort der Besinnlichkeit machen wollte. Auch ein Video hatte er ihm gezeigt, auf dem die Ruine zu sehen war. Es war zu vermuten, dass Jens sich einer Sekte angeschlossen hatte. Wer sonst meditierte heutzutage noch, wenn nicht die untersten Gruppen von Interessengemeinschaften, deren Gurus es nur auf das Geld der Mitglieder abgesehen haben. Die sollten sein Geld nicht bekommen.
In den Augen von Julius Harfourg war Jens schon immer ein Verlierer gewesen. Ein Träumer, der die Realität unterschätzte. Das kam nur davon weil er sein helles Köpfchen in die falschen Bücher steckte.
Kaum hatte Jens den Raum verlassen, winkte er Walter zu sich: „Komm, Junge, setz dich zu mir, hier auf das Bett“, sagte er. „Hör zu ... hör gut zu: Was auch geschieht, lass die Finger vom Camcorder.“
Walter hörte zu und wunderte sich.
Der Onkel kam gleich zur Sache: „Ich will nicht, dass irgendein blöder Zufall, ob dabei nun nachgeholfen wird oder nicht, einer Sekte mein Eigentum in den Rachen wirft. Wenn du in das Haus kommst, gar nicht erst einstecken das Gerät, gleich weg damit. Das Testament habe ich auch geändert. Du erbst alles.“
„Willst du damit andeuten Jens hätte vor …?“
„Nein, nicht Jens. Das will ich damit nicht sagen, aber ich traue keiner Seilschaft, welches Geistes die auch sein mögen.“

Als Jens den Raum wieder betrat, hörte er wie sein Onkel Walter erzählte, er habe das Testament geändert. Er tat, als hätte er nichts mitbekommen. Aber das wurmte und sollte Folgen haben, auch wenn ihm das im Moment nicht bewusst war. Eigentlich hatte er schon immer geahnt, dass Walter alles erben würde, und sich auch damit auf seine Art abgefunden. Oder auch nicht. Eines war sicher – Jens wusste auch was er wollte. Ehe er diese verletzende Zurückweisung seines Onkels überdenken oder verarbeiten konnte, diese aufkommende Wut auf sich selbst und auf alle, denen Liebesentzug fremd war, speziell auf seinen Bruder, wurde es hektisch.
Alles ging ganz schnell. Der Onkel bekam keine Luft mehr, er war erstickt bevor der Arzt den Weg von der Kantine bis zum Bett des Kranken zurücklegen konnte.
Nicht wie im Fernsehen, wo die Leute noch genug Zeit haben dem Arzt zu erklären was er zu tun hat und was nicht; oder die Schwester nach dem Pastor schickten, weil sie gleich sterben würden; oder ihre am Bett wartenden Angehörigen noch einmal schnell piesackten bevor sie den Löffel abgaben!
Keine Luft, kein dummes Gespräch, kein Weiterleben.

Für Jens brach eine Welt zusammen. Alle Hoffnung mit dem Onkel über den Bahnhof zu sprechen, sich diesen Wunschtraum jemals erfüllen zu können, alles aus und vorbei, denn nun würde Walter alles bekommen, und er nichts.

Auf dem Heimweg hatte jeder für sich sein eigenes Stimmungstief. Jens hätte sich mit dem Kopf an eine dieser riesigen Reklametafeln stellen und losheulen können.
Walter war vorgegangen, er selbst hatte noch was zu erledigen.
Als Jens durch die große Eingangshalle des Hauptbahnhofs ging, kamen ihm seltsam fremde Gedanken in den Sinn. Er fegte sie mit einer Handbewegung weg und ging weiter. Er kämpfte sich mit schweren Füßen die Stufen hoch, die zu den Gleisen führten. Oben, am Ende der Treppe dann, hatte es ihn endgültig eingeholt und gepackt. Was wäre, wenn Walter einen Unfall hätte? Wenn der nicht mehr in der Lage war das Erbe anzutreten? Gehörte dann nicht alles ihm? Dann hatte er doch das Geld um sich seine Träume zu erfüllen!

Er hatte noch nicht richtig zu Ende gedacht, da sah etwas, das er schon einmal erlebt hatte. Plötzlich war alle Trägheit wie weggeblasen. Jens wusste in diesem Moment: Das ist es! Es war wie ein kalter Hauch vorausahnender Wahrnehmung; als würde er Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit auf einmal erleben. Die plötzliche Gewissheit es zu tun oder es für immer sein zu lassen. Jetzt oder nie! Nicht einfach aus einzelnen Fakten resultierend, die zwangsweise zu diesem Ergebnis führen; oder aus Stimmungen heraus; oder gar Wunschdenken; sondern als Ganzes. Als etwas, was auf einmal zusammenpasst und Sinn macht.
Das war es!

***

Walter Harfourg stand tief in Gedanken versunken auf dem Bahnsteig, dicht an den Gleisen. Er hörte nichts, er sah nichts, er ahnte nichts. Er wartete, auf seinen Bruder Jens, mit dem er heimfahren wollte. Zu tief hatten die letzten Stunden sein Inneres aufgewühlt, als dass er einfach abschalten konnte. Wer hätte auch gedacht, dass dieser Tag eine solche Wende nehmen würde.
Und der Tag war noch nicht zu Ende - denn in diesem Moment näherten sich Walter ein paar Jugendliche. Trotz der sommerlichen Hitze trugen einige Strickmützen. Sie hatten ein riesiges Kofferradio dabei, aus dem lautes Gedudel ertönte. Einige der jungen Leute pöbelten die Fahrgäste auf dem Bahnsteig mit Sprüchen an, schubsten sich gegenseitig auf die Wartenden.
Noch etwas näherte sich: Ein ICE.
Dann ging alles sehr schnell.
Jens ließ seine Einkaufstüte fallen. Er stieß einen tierischen Schrei aus, der über den Bahnsteig und über die Köpfe der Gäste hallte, die nicht wussten und nicht begriffen, welche Rolle sie in welchem Film spielten.
Gleichzeitig lief Jens los.
Alles passte.
Es waren viele Menschen unterwegs. Das waren viele Augen, viele Ohren, viele Münder. Er musste nur deren Aufmerksamkeit auf die richtige Ebene lenken.
Während der Zug einlief, rammte er dem Jungen in Walters unmittelbarer Nähe die Faust ins Gesicht, was die selbe Wirkung erzielte, wie beim Billard ein Anspiel des weißen Spielballs auf einen Punktball, denn dem Betroffenen blutete nun nicht nur die Nase, er verlor auch sein Gleichgewicht und stieß Walter in Richtung Gleise. Jens trat einem von den Jungs die Füße unter seinem Leib weg; gleichzeitig versuchte er einem anderen an den Hals zu greifen.
Für die Umstehenden musste es so aussehen, als versuche er verzweifelt Walter zu retten. Doch sein Bruder hatte Glück. Er wurde nicht vor den Zug gestoßen, sondern prallte dagegen und wurde auf den Bahnsteig zurückgeschleudert. Er brach sich zwar den Oberarm und das Schlüsselbein und zog sich eine schwere Gehirnerschütterung zu, aber genauso gut hätte er auch tot sein können.

***

„Aber das müssten Sie doch eigentlich alles in den Unterlagen haben, Herr Kommissar“, schloss Walter seinen Bericht, „mein Bruder hat mir erzählt, er hätte hier eine Aussage gemacht.“
Klein sah verständnislos von Walter zu Zimmer.
„Was? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Muss ich mich denn um jeden Mist selbst kümmern? Hoffentlich halte ich das Protokoll bald in der Hand.“
Der Kriminalhauptkommissar war einer von jenen Kerlen, die man allgemein als vierschrötig bezeichnet. Nicht besonders groß, dafür aber, ungeachtet seines vorgerückten Alters, durchtrainiert und gut in Form. Er war trotz der Hitze im Raum korrekt gekleidet.
Anders sein Assistent, der wie ein verspäteter Spätachtundsechziger aussah, in seinen Jeans und seinem Pulli. Seine große, hagere Gestalt, die krumme Nase und sein Lockenkopf ließen eher an einen Südländer denken. Aber Zimmers Familie lebte, seit er denken konnte, im Saarland.
Ein Beamter reichte dem Kriminalhauptkommissar die verlangten Unterlagen.

Die Befragung erfolgte durch Kriminalkommissar Becker und durch Polizeihauptmeister Müller.
Klein liest laut vor:
„Der hier anwesende Herr Jens Harfourg … geboren am … wohnhaft in … gibt folgendes zu Protokoll: …“
Becker: „Ist Ihr Name hier ordnungsgemäß wiedergegeben?“
Der Befragte: „Ja.“
Becker: „Herr Harfourg, was ist passiert?“

***

Jens schaute die beiden Beamten an: „Ein vorhersehbarer Unfall, oder kann man das auch anders sehen?“
Becker schüttelte leicht den Kopf: „Wenn das vorhersehbar war, wieso ist es dann überhaupt so weit gekommen?“
Jens war auf diese Frage vorbereitet: „Weil ich es nicht mehr verhindern konnte.“
Müller versuchte es andersherum: „Verstehe ich Sie richtig: Sie sind der Meinung, die Jungs, mit denen Sie sich geprügelt haben ...?“
Jens fiel dem Beamten ins Wort: „Nein, der Meinung bin ich nicht. Mich hat nur so wütend gemacht, dass die Jungs die Menschen durch ihr unüberlegtes Verhalten so sinnlos gefährdet haben.“
„Taten Sie das durch Ihr Eingreifen nicht auch?“
Jens ließ sich nicht beirren: „Mag sein ich habe etwas überreagiert; können sie sich denn nicht vorzustellen, wie ich mich gefühlt habe? Das erste Mal in meinem Leben habe ich dabei zugesehen wie jemand stirbt? Jemand, der noch dazu wie ein Vater zu mir war? Und dann geschieht so etwas?“
Müller machte auf eine Möglichkeit aufmerksam: „Wollen Sie Anzeige erstatten?“
Jens tat so, als denke er nach und sagte dann abwinkend: „Nein.“
Becker versuchte es noch einmal: „Ihr Bruder war vor Ihnen auf dem Bahnsteig. Waren Sie nicht gemeinsam unterwegs?“
Jens war seine Erschöpfung anzusehen, als er sagte: „Ja, wir sind gemeinsam mit dem Zug gekommen, und wir wollten auch gemeinsam heimfahren. Aber weil wir noch etwas Zeit hatten, habe ich mir unterwegs noch schnell was zum Abendessen besorgt. Walter wollte nicht warten und ging vor.“
Becker beendete die Befragung: „Das war’s auch schon. Falls noch Fragen aufkommen …“
„Selbstverständlich. Tut mir leid, dass ich vorhin patzig war.“

***

Klein legte die Unterlagen auf den Tisch.
„Moment“, sagte Zimmer, „Da ist ein Punkt, den ich nicht ganz verstehe. Woher wollen Sie das alles so genau wissen? Ich meine was ihr Bruder so dachte, bevor es zu diesem Unfall kam, das können Sie doch gar nicht wissen!“
Auch Klein schien sich das zu fragen. Er sah bei dieser Frage neugierig zu Walter hin.
„Jens hat mich im Krankenhaus besucht, um sich seinen Kummer von der Seele zu reden. Ich meine - wir sind trotz allem Brüder, und ich denke schon, dass es eine Überreaktion unter einer enormen psychischen Belastung war. Wir haben uns ausgesprochen, und damit hatte es sich.“
Klein lehnte sich in seinem Sessel zurück: „Bitte fahren Sie fort, Herr Harfourg …“

***

Walter hatte längere Zeit im Krankenhaus verbracht. Deshalb konnte er nicht an der Beerdigung seines Onkels teilnehmen. Die Trauergemeinde war auch nicht besonders groß und der Pfarrer schnell fertig. Denn was wusste man schon von Julius Harfourg, außer, dass er irgendwann konvertiert war, und manchmal dem Gottesdienst beiwohnte?
Nach dem Spaten Erde und dem Weihwasserkreuz gingen die Leute vom Friedhof zum Gasthof, in dem der Leichenschmaus - umgewandelt in Kaffee und Kuchen - gereicht wurde, und das war’s.

Als Jens damals seinem Bruder Walter von dem alten Bahnhof erzählt hatte, hielt dieser die Idee schlichtweg für schwachsinnig. Aber seine Neugierde war geweckt. Im Krankenhaus hat man viel Zeit zum Denken. Sein Onkel hatte eine wunderschöne alte Spiegelreflexkamera; so eine, bei der man oben einen Deckel hochklappen musste, und dann die Welt vor sich sah, in dem man nach unten guckte. Es war eine verkehrte Welt aber auch Liebe auf den ersten Blick. So eine Kamera hatte er sich schon immer gewünscht, er hatte es nur nicht gewusst.

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, ging Walter sofort in das Haus seines Onkels und durchsuchte es sorgfältig. Er fand die Autoschlüssel des Ferrari dort, wo er sie am wenigsten vermutet hätte: am Schlüsselbrett. Die Kamera lag in einer Art Dunkelkammer im Keller, die eigentlich ein Waschraum war. Aber hier ließ sich alles so verdunkeln, dass man auch Bilder entwickeln konnte. In den Schränken standen die notwendigen Utensilien. Er packte alles in den Sportwagen und fuhr los. Schön langsam. Gib einem Mann ein Spielzeug in die Hand, und das Kind in ihm erwacht. Walter brachte die Musik auf eine Lautstärke, die einem alten Mann das Gebiss vibrieren ließ, damit ihn ja auch jeder hören konnte, bevor er ihn sah. Und die neidischen Blicke bestätigten seine Erwartungen. Er hatte Zeit. Unterwegs machte er Halt und kaufte einen Film für den Fotoapparat. Am Losheimer Stausee drehte er eine Ehrenrunde, bei voll aufgedrehter Musik versteht sich. Es war ein schöner Tag und viele Spaziergänger unterwegs. Das waren auch viele Bewunderer.
Schließlich fuhr er zu dem alten Bahnhof. Er brauchte nicht lange zu überlegen was er mit diesem alten, eingefallenen Gemäuer anstellen würde. Jens hatte kein Geld um sich diesen Luxus zu leisten. Außerdem würde er es sowieso nicht erleben. Aus diesem Gelände ließ sich ein wunderbarer Erlebnispark für alte Eisenbahnfreaks mit Geld machen. Die würden sich darum reißen ein paar Meter mit einer alten Dampflok zu fahren. Auch die hatte er schon gefunden. Er würde sie hierher bringen lassen und alles restaurieren und aufeinander abstimmen. Die reichen Opis würden sich die Klinke in die Hand geben.
Walter ging in die alte Abfertigungshalle, oder was noch davon übrig war und fotografierte was das Zeug hielt; hinaus auf den Bahnsteig, ging ein paar Meter auf der alten Strecke. Und als der Film voll war, setzte er sich noch auf einen Stein und hing seinen Träumen nach. Sobald die Bilder entwickelt waren, würde er ein Architekturbüro aufsuchen und sich Vorschläge machen lassen. Glücklicherweise hatte ihm Onkel Julius gezeigt, wie Bilder in einer Dunkelkammer entwickelt wurden.

Walter ging in das Haus seines Onkels und sah die Post durch. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Wie um alles in der Welt hatte das passieren können? Und dann auch noch einem, der von allen erwartete überaus korrekt vorzugehen, der anderen Leuten beim kleinsten Fehler die Hölle heiß machte? Der alte Schussel hatte das neue Testament nicht ordnungsgemäß unterschreiben lassen! Wo gab es denn so was? Sollte er durch so einen saublöden Formfehler das ganze Erbe mit seinem Bruder teilen müssen - ? Nie im Leben! Er fand den Camcorder in des Onkels privater Asservatenkammer. Von wegen wegwerfen! Schließlich konnte man nie wissen, wann etwas noch mal gebraucht wurde. Mit ein paar Handgriffen öffnete er das Gerät und sah was er sehen wollte. Die Änderungen an der Elektronik waren nicht zu übersehen. Er brauchte nur noch alles hinzustellen und das Antennenkabel am Kopf des Parabolspiegels abzuziehen. Der Rest würde sich von alleine erledigen. Und so kam es auch.

Jens Harfourg riss die Fenster weit auf. Es war Spätsommer und ein unangenehmer Mief hatte sich über die Tage aufgestaut. Der Wind blähte die Gardinen, versuchte sich seinen Weg in die dicke, abgestandene Luft des Wohnzimmers zu bahnen.
Er sah sich im Haus seines verstorbenen Onkels um; fand verschiedene Whisky-Sorten, nichts zu Knabbern und alles pikobello aufgeräumt und geputzt. Alles in allem also richtig ungemütlich.
Das Einzige, was nicht hierher passte, war der Camcorder auf dem Fernseher. Eine alte Leidenschaft des Hausherrn. Überall wo der war, sah er sich die Welt durch das Objektiv dieses Gerätes an - mit einer Ausnahme, und das war der Sucher der Spiegelreflex, deren Filme er dann zu Hause selbst entwickelte. Nachdem ihm ein Fotolabor einen ganzen Film versaut hatte, nahm er es lieber selbst in die Hand. Wenn die Bilder fertig waren, versuchte er sich zu erinnern wo er überall war.
Der Neffe schaltete den Fernseher ein. Er gehörte zu den Leuten, die es nicht mochten, wenn sie einen toten Bildschirm vor sich hatten, das löste Unbehagen in ihm aus. Ein Bildschirm musste flackern und flimmern. Auch wenn nichts Anständiges geboten wurde. Aber es war gar nichts zu sehen, außer Schnee und Rauschen, deshalb schaltete er den Camcorder ein. Im Regal direkt daneben stapelten sich haufenweise VHS-Kassetten. Alles war archiviert und deshalb mit einem Code beschriftet. Wahllos ergriff er eine der Kassetten, legte sie ein und drückte den Wiedergabeknopf des Camcorders.
Der Fernsehsessel gegenüber lud zum Ausruhen ein; in ihm konnte man es einigermaßen aushalten.
Bewusst hatte er sich die letzte Zeit von diesem Haus ferngehalten, erinnerte ihn doch alles hier an die erfolgreichen Schleimereien seines Bruders und seiner eigenen Kurzschlussreaktion.

Ein Gewitter braute sich zusammen. Es wurde schwülwarm. Jens bekam Durst. Er stoppte den Kassettenrekorder sofort wieder um sich etwas zu erfrischen. In der Küche konnte er nichts finden, also ging er in den Keller. Ein Himmelreich für eine gut gekühlte Flasche Bier! Der Onkel hob so etwas bevorzugt im Keller auf, der auch im Sommer schön kühl blieb. Er hielt inne. Ein Geräusch aus der Wohnung, als sei jemand gegen etwas gestoßen, ließ ihn aufhorchen. Wahrscheinlich nur der Wind, der ein Fenster zugeschlagen hat. Sie waren immer noch weit geöffnet. Er durchsuchte alle Kellerräume und wurde schließlich fündig. Hier unten war es angenehm. Warum sollte er wieder in die Schwüle des Wohnzimmers, wenn er an diesem Ort auch alles hatte um sich wohl zu fühlen. Gemütlich trank er die Flasche Bier. Sein Blick fiel auf verschiedene Gegenstände, die sein Onkel hier verstaut hatte. Ein seltsamer Kauz; sammelte Material von Kriegsschauplätzen, wie andere Briefmarken. Jens begann in den Sachen zu kramen und vergaß die Zeit dabei.
Der Brief eines Notars fiel ihm in die Hände. Jemand hatte die ganze Korrespondenz des Onkels in eine Kiste geworfen und in den Keller getragen.
Unwillkürlich wurde Jens aus seinen Gedanken gerissen. Er meinte wieder ein Geräusch wahrgenommen zu haben, und auch einen Schatten am Kellerfenster. Er sprang auf, öffnete das Fenster, steckte den Kopf so weit es nur ging hinaus, konnte aber nichts und niemanden sehen. Er vertiefte sich wieder in den Brief. Der Notar schrieb, das von Julius Harfourg handschriftlich geänderte Testament, in dem sein Neffe Walter Harfourg als Alleinerbe eingesetzt wird, sei nicht gültig, weil es nicht von zwei unabhängigen Zeugen, unter Angabe ihrer Personalien, unterschrieben war. Datiert war das Schreiben auf den Todestag von Onkel Julius. Er konnte also den Brief nicht geöffnet haben, und warum hätte es die Putzfrau tun sollen? Er selbst war heute das erste Mal wieder in dem Haus – dann konnte es eigentlich nur noch Walter getan haben.
Nach der dritten oder vierten Flasche Bier wurde ihm kalt und er ging wieder hoch. Die Fenster waren alle geschlossen. Der Camcorder war eingeschaltet. Aber hatte er auch die Kassette eingelegt, die da lief? Es war eine, die er vor ein paar Wochen selbst aufgenommen hatte, mit dem japanischen Gerät eines Freundes, als der Onkel noch wohlauf war. Jens nahm einen ungewohnten Geruch war. Er schnupperte herum und er fühlte sich plötzlich wie ein Nichtraucher, der auf nüchternen Magen eine Zigarette raucht. Zuerst merkte er es in seinen Beinen. Und dann spielte etwas in seinem Kopf nicht mehr mit. Das konnte unmöglich von dem bisschen Bier kommen. Er schaffte es gerade noch bis in den Sessel.

***

Nach dem Gespräch mit Walter hingen die Beamten ihren Gedanken nach. Klein fragte sich wieso der alte Harfourg so leichtsinnig mit den Sachen umgegangen ist, was überhaupt nicht seinem Charakter entsprach. Seinen Assistenten beschäftigte die Frage, wieso der Fernseher nicht ging. Alte Leute schauten immer in den Fernseher.
Zimmer unterbrach die Stille: „Geht es Ihnen genauso? Ich meine - entweder hat der uns nicht alles gesagt, oder nicht die Wahrheit. Es ist alles zu glatt, keine Ecken, keine Kanten ... Oder?“
Klein stand auf, ging ans Fenster.
„Sie haben Recht, da stimmt einiges nicht. Warten wir mal ab was er macht, dann knüpfen wir ihn uns noch einmal vor.“

***

Einen Tag nachdem Walter bei der Polizei seine Aussage gemacht hatte, ging er zurück in das Haus seines Onkels.
Er inspizierte die Räume und staunte nicht schlecht. Wie gründlich alles wieder hergerichtet war.
Draußen war es mittlerweile dunkel.
Vom Vortag waren keine Spuren mehr zu sehen. Er ging in den Keller um endlich den Film zu entwickeln, den er mit der alten Spiegelreflex „verschossen“ hat. Vorher aber gönnte er sich einen guten, alten „Paddy“. Sein Onkel hatte eine ganze Sammlung von Whisky-Sorten. Walter bevorzugte irischen. Er füllte sein Glas bis zum Rand und nahm es mit in den Keller.
Walter verdunkelte die Fenster. Aus den gut bestückten Schränken entnahm er all das, was er für die Entwicklung brauchte. Er fand eine Dose mit Keksen, die in Folie eingeschweißt waren. Wenn er das Etikett richtig verstand, war das ein jugoslawisches Produkt – mit Vitamin K. Wofür das allerdings wieder gut sein sollte, konnte er sich keinen Reim drauf machen. Er nahm gleich zwei in den Mund und begann zu kauen. Er verzog das Gesicht, aber er kaute weiter, spülte mit einem Schluck Whisky nach. Komischen Geschmack hatten die da unten. Er machte sich an die Arbeit. Nach einer Weile gönnte er sich wieder einen Schluck Schnaps. Diesmal schmeckten die Kekse gar nicht mal so übel, das heißt: Er war sich gar nicht sicher ob sie überhaupt Geschmack hatten? Egal, er aß noch drei. Dann ging er zu den Wannen und fischte sich ein Bild raus.
Er fühlte sich etwas seltsam, aber beschwingt. Es gelang ihm ein paar Bilder aus einem Bad zu nehmen und auf die Keramikplatte zu legen.

Das erste Bild zeigte den Bahnhof von außen, das zweite den Schalterinnenraum, das dritte die Gleise in Nahaufnahme. Und das vierte ihn selbst. Das fand er lustig – er hatte sich doch gar nicht fotografiert! Überhaupt fühlte er sich gut, so außerirdisch leicht. Er hatte keinen Bezug mehr zu dem Raum, in dem er sich befand. Er war hier und er war dort. Das Bewusstsein war frei und überall. Walters Körper rutschte an der Wand entlang auf den Boden, sackte in sich zusammen. Er hatte ihn abgelegt, hatte ihn links liegen lassen, er brauchte ihn im Moment nicht.
Er glaubte einen Zug zu hören, glaubte sich vom Zug erfasst, mitgerissen in einen Tunnel. Und dann war der Zug weg. Er schwebte durch den Tunnel und erschrak. Wenn er jetzt ein Licht sah, war alles aus. Nicht durch den Tunnel! So weit konnte er noch denken. Er versuchte sich dagegen zu wehren, wurde aber trotzdem in die Röhre gesogen. Die Finsternis am anderen Ende traf ihn umso härter, hatte er sich doch vollkommen auf grelles Licht eingestellt. Auf nichts konnte man sich mehr verlassen. Er hörte ein Geräusch als versuchte eine Lok zu bremsen, ein lautes Pfeifen und Quietschen. Das Geräusch wurde lauter und lauter.
Unverhofft tauchte aus der Schwärze ein Kobold mit erhobenem Mittelfinger vor Walter auf und lachte durchdringend. Immer mehr dieser kleinen Gesellen strömten herbei, verspotteten ihn mit rüden Sprüchen und bespuckten ihn mit Feuer.
LICHT dachte Walter verzweifelt, denn er hatte irgendwo einmal gelesen, dass Rettung in einer solch verzweifelten Situation nur möglich sei, wenn man sich voll auf das konzentrierte, was jedes Wesen zum Leben brauchte. Aber so einfach war das anscheinend doch nicht. Bei ihm funktionierte es jedenfalls nicht. Ganz im Gegenteil, jetzt ging der Zirkus erst richtig los!
Walter hatte den Herbst des Hochwaldes in all seiner Pracht eingefangen. Rund um den Bahnhof stiegen leichte Nebelschwaden auf. Die Bäume begannen ihre verfärbten Blätter abzustoßen. Pilze schossen aus dem Boden, Vögel spielten Fangen.
Ansonsten eine friedliche Stimmung.
Doch dann begannen sich die Nebelschwaden zu Gestalten zu verdichteten, die langsam den Bahnsteig bevölkerten. Aus der Unordnung formte sich Ordnung. Aus dem umherirren wurden gezielte Bewegungen. Eine Silhouette war dicht an dem Gleis zu sehen.
Eine Dampflok näherte sich in voller Fahrt.
Plötzlich tauchte eine Gestalt auf und bewegte sich auf die Silhouette nah am Gleis zu. Gleichzeitig formte sich ein Schatten, der sich mit ungeheurer Geschwindigkeit den beiden von hinten näherte. Instinktiv erkannte Walter, dass der Schatten mörderische Absichten hatte, die Silhouette sollte Opfer des ICEs werden und die Gestalt hinter ihm den entscheidenden Stoß ausüben.
Walter sah in das traurige Gesicht des Opfers und erschrak: Es war sein eigenes!
Alle Gestalten auf diesem Bahnsteig hatten inzwischen charakteristische Züge angenommen. Er sah einen Frosch mit Krücken auf sich zukommen, dem ein Bein fehlte. Es war das eine, das ihm Walter experimentell während des Biologieunterrichts entfernt hatte, ohne ihn vorher zu betäuben. Die Schnecke, die er bei lebendigem Leib geröstet hatte kroch auf ihn zu, einen Schwall aus Feuer und Rauch hinter sich herziehend. Er sah den Jungen aus der ersten Klasse, den er öfter mal verprügelt hat; ein Mädchen, das er zusammen mit einer Meute Jungs immer ärgerte, bis sie weinend nach Hause lief.
Und dann sah er sich selbst vor der Lok, spürte den Aufschlag, das Brechen seiner Knochen. Immer und immer wieder.
Genauso plötzlich verschwand alles. Walter wurde von einer ihm unbekannten Energie auf ein Licht zu transportiert. Er sah einen silbernen Faden. War der vorhin auch schon da? Alles begann sich zu verdichten, der Tunnel war gar keiner mehr, das Licht war freundlich und alle Angst wich. Der Silberfaden wurde schwächer, löste sich schließlich ganz auf. Walter wurde ins Licht gehoben.

***

Als Klein sich in seiner üblich gründlichen Art am Fundort umgesehen hatte, sah er den jungen Arzt fragend an: „Sieht man so aus, wenn man das Verfalldatum von Keksen nicht beachtet?“
Walter Harfourg saß mit vornüber geneigtem Kopf in einer Ecke. Der Brustbereich war voller Erbrochenem. Die Augen offen, der Mund verzerrt.
Der Doktor überhört es einfach, würdigte Klein keiner Antwort.
Zimmer kam rein.
„Weiß man schon was passiert ist?“
Klein zuckte mit der Schulter und schaute demonstrativ zur Decke, der Doktor tat beschäftigt.
Zimmer forderte eine Antwort. „Herr Doktor …?“
„Wir müssen den Toten noch untersuchen!“
Keiner widersprach.
Zimmer schüttelte den Kopf: „Ich kann mir nicht helfen, für mich sieht es so aus, als hätte der einen Horrortrip hingelegt …“
Der junge Arzt wirkte verunsichert, schließlich bemerkte er: „Die Vermutung liegt nahe, aber um das festzustellen müssen wir noch ein paar Untersuchungen machen.“
Klein sah den Arzt an: „Warum lassen sie die Finger nicht weg von dem Zeug, wenn sie es nicht vertragen. Bitte schicken Sie uns so schnell es geht einen Bericht, ja?“
Kopfschüttelnd packte der Arzt seine Sachen zusammen. Er verstand die Welt nicht mehr. Aber erstens kam es immer anders, als man sich vorher zusammenreimte, und zweitens: wer weiß, vielleicht hatte er doch einen besseren Eindruck hinterlassen, als er dachte …

Während Zimmer sich die Bilder ansah, ging Klein in den Garten raus. Er wählte die Privat-Nummer des Staatsanwaltes: „Hallo Hans, Julius hat wieder zugeschlagen.“
„Julius? Post mortem?“
„Ja, Post mortem! Walter Harfourg ist tot.“
„Nimmt das denn gar kein Ende?“
„Kann ich dir noch nicht sagen, werde aber Herrn Zimmer damit beauftragen nach weiteren Verwandten zu forschen.“
„Wie ist es denn diesmal passiert?“
„Er hat sich Kekse einverleibt, die nicht für ihn bestimmt waren.“
„Und was sagt der Notarzt diesmal?“
„Der junge Mann und Zimmer denken an Drogen. Er wird ihn daraufhin untersuchen.“
„Und – wird er was finden?“
„Ketamin wird er finden und Alkohol und er wird zufrieden sein. Das führt zu Atemlähmung und verläuft normalerweise tödlich.“
„Können wir den Fall dann endlich abhaken?“
„Wenn unsere Leute diesmal gewissenhafter beim Reinemachen vorgehen, glaube ich das schon.“
„Das werden sie, verlass dich drauf, dafür werde ich persönlich sorgen. Schönen Feierabend auch noch.“
„Moment, was ist mit seinem Bruder?“
„Wir haben die Leiche zur Bestattung freigegeben.“
„Einfach so?“
„Warum nicht? Ich bin der Staatsanwalt.“
„Dann entschuldige bitte die Störung. Dir auch noch einen schönen Feierabend.“

Klein ging sichtlich erleichtert und frohgelaunt in das Haus zurück. Manchmal lösten sich die Probleme von selbst, man brauchte nur lange genug zu warten. Besser hätte es nun wirklich nicht kommen können. Er sagte zu Zimmer: „Das wär’s dann wohl, oder sind Sie anderer Meinung, Herr Kollege?“
Erfreut über diese Anrede schüttelt er den Kopf: „Komme schon.“
Klein machte sich auf den Weg zum Auto.
Zimmer gehörte zu den Leuten, die nirgends an Süßigkeiten vorbeigehen konnten, ohne sich was zu nehmen. Er konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen und griff sich noch im Vorbeigehen zwei Kekse.

Unterwegs fragte der Assistent seinen Vorgesetzten: „Woher kannten Sie eigentlich Herrn Harfourg, Herr Klein?“
Der Kriminalhauptkommissar sah keinen Grund es ihm nicht zu erzählen „Wir haben uns bei einem Anti-Terror-Einsatz in Mazedonien kennen gelernt. Julius Harfourg war unsere Kontaktperson zu den militärischen Einheiten.“
„Darf ich fragen, was Sie dort gemacht haben?“
„Sie dürfen, Herr Zimmer. Wir haben mit den Dänen und Holländern Halluzinogene im Einsatz gegen den Terror getestet. Nachdem damals in Russland der Einsatz von Betäubungsgas derart daneben gegangen ist, haben wir nach milderen, kontrollierbaren Alternativen gesucht.“
„Erfolgreich?“
„Kommt drauf an was man unter einem Erfolg versteht. Wer diesem Zeug ausgesetzt wird, hat so viel Probleme, wie sein Gewissen hergibt. Schließlich weiß man nicht mehr welcher Konfession man angehört.“
„Soll das heißen, die Terroristen lachen sich krank, und brauchen nur noch eingesammelt zu werden ...?“
„Die Betroffenen begreifen gar nicht was mit ihnen geschieht. Es gab damals noch Komplikationen mit der Dosierung. Aber mittlerweile, denke ich, haben die Jungs alles im Griff.“
Zimmer war zwar nicht besonders neugierig, aber einmal begonnen wollte er das Thema auch zu Ende führen.
Er sagte: „Worin lagen denn diese Komplikationen? Hat es Tote gegeben?“
Leider ja, dachte Klein, leider.
Sie waren gerade dabei einen Versuch aufzubauen. Einer von den Dänen hatte es nicht mehr erwarten können und hatte, entgegen allen Sicherheitsvorschriften, alleine weitergemacht. Dabei hatte er das Halluzinogen, wahrscheinlich ohne es selbst gemerkt zu haben, freigesetzt. Als die anderen am nächsten Tag kamen fanden sie ihn mit vor Schreck verzogenem Gesicht vor und ein unangenehmer Geruch hing in der Luft, wie bei Jens Harfourg. Nun war guter Rat teuer. Von den Dänen waren nur die beiden Polizisten da, und die kannten sich im militärischen Bereich nicht so gut aus. Der junge Leutnant hatte eine viel versprechende Karriere vor sich, war frisch verheiratet; seine hochschwangere Frau erwartete ihn lebend zurück. Aber das war alles für die Versuchsteilnehmer nur in zweiter Linie von Bedeutung. Viel wichtiger war es nicht auf diese Experimente aufmerksam zu machen. Ein holländischer Stabsarzt, der Leffe untersucht hatte, sagte, man könne von plötzlichem Herzversagen ausgehen. Aber das war keine Lösung. Es waren immer zu viele Fragen offen, die die Vorgesetzten stellen würden. Julius Harfourg hatte sich etwas verspätet. So bekam er Gelegenheit die rettende Idee zu haben. Auf dem Weg zu dem Versuchsgelände wurde er darüber informiert, dass ganz in der Nähe dieses militärischen Sicherheitsareals eine Abfahrtsstraße frisch vermint worden ist, und man dabei war die zuständigen Stellen zu informieren. Alle sahen sich an und waren sich ausnahmsweise sofort einig. Sie setzten Leffe in seinen Jeep, fuhren ihn zu der Straße und ließen ihn in das Minenfeld rollen. Noch einmal war ihnen das Glück hold, das Fahrzeug erwischte eine Mine und löste eine Kettenreaktion aus. Es blieben nur noch Fetzen übrig. Ein Holländer schüttelte den Kopf und sagte: ‚Schlechtes Werk, so legt man keine Minen.’ Jedenfalls war nun die Todesursache klar, die Witwe versorgt, und sie kamen nicht in Erklärungsnot. Warum er ausgerechnet um diese Zeit diese Straße benutzte, das war schließlich Leffes Angelegenheit. Auch ob der das jemals jemandem erzählen würde?
Aber das geht dich alles einen feuchten Dreck an, dachte Klein. Trotzdem sagte er: „Ja.“
Zimmer bohrte weiter: „Was ist passiert?“
Klein sah ihn von der Seite an, konnte sich dann aber die Bemerkung nicht verkneifen: „Die pulverisierte Form von Ketamin ließ sich in den Keksen so schlecht dosieren …“
Das Beifahrerfenster öffnete sich und zwei Kekse fanden ihren Weg in die dunkle Nacht.

 

Hallo CharlyM!

Leider hat mir deine Kurzgeschichte nicht so zugesagt. Der Anfang gefiel mir zwar noch recht gut und ich las die Story zu Beginn mit Interesse; das hat dann aber immer mehr nachgelassen und ich muss zugeben, dass die Geschichte auf den Schluss hin etwas langwierig für mich geworden ist und die Konzentration beim Lesen nachgelassen hat, sodass ich den Inhalt auch nicht ganz verstanden habe.

Zumindest ist die Geschichte aber sprachlich in Ordnung und flüssig zu lesen.

Ein paar Kleinigkeiten noch:

Auch nahm er einen eigenartigen Geruch war
wahr
Er wählte neu, sprach etwas in die Hand an seinem Ohr, lauschte wieder mit versteinerter Mine
Miene
Der Pfarrer saget
sagte

Vielleicht helfen dir meine Anmerkungen ja trotzdem ein wenig weiter.

Viele Grüße,

Michael :)

 

Hallo Michael,
vielen Dank. Das hilft mir auf jeden Fall weiter.
Gruß Charly

 

Hallo Leute!
Geschafft!
Die ganze Geschichte ist total überarbeitet. Würde mich freuen, wenn mir jemand sagt, ob sie besser geworden ist. :cool:
Gruß Charly

 

Hallo Charly!

Wie versprochen hab ich mir den Text noch einmal genauer angesehen. Und du hast ja wirklich noch einiges geändert!

Die nachbearbeitete Version gefällt mir um einiges besser, allerdings muss ich auch gleich dazu sagen, dass mir die Zusammenhänge noch immer nicht ganz klar sind, obwohl ich den Text diesmal aufmerksamer gelesen habe.

Der Anfang ist noch in Ordnung. Jens ist in der Wohnung seines verstorbenen Onkels und schiebt eine durch einen Kamcorder aufgenommene VHS-Kassette in den Videorekorder.
Dann folgt der Rückblick am Krankenbett, in dem der Onkel stirbt und Jens glaubt, dass sein Bruder Walter alles erben wird. Auch erzählt er ihm von den Kamcorder.
Als nächstes kommt der Traum, und da blicke ich schon nicht mehr ganz durch. Ich interpretiere den weiteren Verlauf der Geschichte mal so:
Jens braucht Geld, das er – aus welchem Grund auch immer – in den Bahnhof investieren möchte. Dieses möchte er sich von seinem Onkel ausleihen. Da dieser allerdings verstorben ist, geht das nicht mehr. Also muss er sich das Geld anderweitig besorgen.
Schließlich kommt die Stelle am Hauptbahnhof. Jens rempelt ein paar Leute an, und ich vermute mal, er wollte dadurch erreichen, dass auch Walter geschubst wird, und zwar direkt vor den Zug. Wodurch Jens als Alleinerbe übrig bleiben würde.
Aber es kommt anders, Walter wird "nur" verletzt und Jens muss sich vor Hauptkommissar Klein verantworten.
Nächste Szene: Klein und sein Assistens kannten Jens Onkel zufällig und sind daher auf seiner Beerdigung, wo das Gespräch mit dem Anti-Terror-Einsatz aufkommt. Es ist von einer Korpsgeisteinheit die Rede, vom Einsatz von Betäubungsgas, und an dieser Stelle verstehe ich mal wieder die Zusammenhänge nicht ganz.
Weiter: Zurück bei Jens, der sich noch immer die VHS-Kassette ansieht. Er geht in den Keller, um sich ein Bier zu holen und entdeckt ein ungültiges Testament. Wer dort als Erbe drin steht, geht, glaube ich, nicht aus dem Text hervor.
Irgendwie wird Jens als nächstes unwohl. Und das scheint nicht (nur) vom Bier zu kommen, wodurch sich für mich der Gedanke ergibt, dass das irgendetwas mit dem Betäubungsgas und den Halluzinogenen zu tun hat.
Dann folgen die Videoaufnahmen, und hier war ich dann völlig verwirrt. Ich lese heraus, dass Jens' verstorbene Angehörige ihn vor den Zug geworfen haben. Überraschenderweise taucht dann Walter auf.
An dieser Stelle kapier' ich den Dialog irgendwie nicht. Jens muss doch erschüttert von den Videoaufnahmen sein; trotzdem ist es Walter, der "Keine Zeit!" ruft. Kommt mir irgendwie so vor, als ob bei dem Gespräch die Personennamen vertauscht sind.
Am Ende ist Jens tot. Warum? Hat Walter herausgefunden, dass Jens ihn umbringen wollte (falls es so war)? Und wieso will der Hauptkommissar nicht, dass die Todesursache geklärt wird? Außerdem, was hat das alles mit dem Kamcorder und Korpsgeist zu tun?

Jedenfalls lässt die Geschichte noch einige Fragen für mich offen, die leider bis zum Ende unbeantwortet blieben. Weiß nicht, in wieweit ich mit meiner Interpretation richtig liege, ich habe versucht, den Inhalt mal aufzuschlüsseln; würde mich mal interessieren, was von meinen Vermutungen stimmt und was nicht. Ich hoffe, du kannst meine Gedankengänge folgen.

Sprachlich ist die Geschichte jedenfalls, wie schon in meinem ersten Posting erwähnt, gut geschrieben und im Großen und Ganzen ansprechend ausgearbeitet.

Aufgefallen ist mir, dass du sehr viele Semikolons gesetzt hast. An den meisten Stellen halte ich sie für unnötig. Einfach Kommas hätte es m. E. auch getan.

Ein paar Dinge im Einzelnen:

"Komm, Junge, setz dich zu mir auf das Bett.", sagte er.
Zeichensetzung: "... auf das Bett", sagte er. (ohne Punkt nach Bett)
Als Jens den Raum mit einer Flasche eisgekühlter, brauner Brause in der Hand wieder betrat, konnte er gerade noch hören, wie sein Onkel dem Walter erzählte, er hätte das Testament geändert
Diesen Satz finde ich nicht so passend. Immerhin vermutet Jens das bloß. Und da es nicht wirklich so war, kann er es auch nicht wirklich gehört haben, oder?
Vorschlag: "Als Jens den Raum mit der Flasche ... wieder betrat, glaute er zu hören, wie sein Onkel dem Walter erzählte, ..."

Wörter wie "Not-Ruf-Knopf" und "Haupt-Kommissar" würde ich als geschlossenes Wort ohne Bindestriche schreiben, was, wie ich glaube, üblicher ist. Ist aber natürlich dir überlassen.

Auch dass Jens Harfourg durch die Eingangshalle des Hauptbahnhofs geschlendert, gemütlich die Stufen hochgegangen ist, die zu den Gleisen führten – ihm kam es vor, als wäre es erst gestern gewesen.
Irgendwas passt an dem Satz nicht. Liest sich etwas holprig.
Dem Walter näherten sich ein paar Jugendliche. Und obwohl es Hochsommer und sehr heiß war, trugen einige Zipfelmützen
Die Zipfelmützen erscheinen mir irgendwie etwas unpassend. Da muss ich zwangsläufig an Zwerge denken ... :D
Jens Harfourg: "Hier in der Gegend nicht."
Haupt-Kommissar Klein: "Konrad Harfourg ...?"
Jens: "Mein Onkel."
Haupt-Kommissar Klein: "Oh - wie geht es ihm denn?"
Jens: "Besser, hoffe ich. Er ist heute im Krankenhaus gestorben."
Haupt-Kommissar Klein: "Es tut mir aufrichtig Leid um ihn, Herr Harfourg. Zurück zum Bahnsteig: Was ist passiert?"
Jens: "Ein vorhersehbarer Unfall."
Zimmer: "Warum ist es dann so weit gekommen?"
Jens: "Weil ich es nicht mehr verhindern konnte."
Haupt-Kommissar Klein: "Sind Sie der Meinung, die Jungs, mit denen Sie sich geprügelt haben ...?"
[und so weiter]
Die solchen Darstellungsweisen der Dialoge gefallen mir nicht so gut und kommen mir etwas einfallslos vor. Liest sich ein wenig wie in einem Drehbuch. In einer Kurzgeschichte würde mir aber die allgemein übliche Variante wie "...", sagte Klein usw. besser gefallen.

An ein paar Stellen passt meiner Meinung nach die Kommasetzung nicht ganz.

Hier mal zur Abwechslung ein paar Sätze, die mir gut gefallen haben:

Ein Himmelreich für eine gut gekühlte Flasche Bier!
:)
alles pikobello aufgeräumt und geputzt. Alles in allem also richtig ungemütlich
:D
Etwas in seinem Gehirn verschwamm
Diesen Satz finde ich nicht so treffend ausgedrückt. Als ob sich die Gehirnmasse bewegen würde ... :D
Vorschläge:
"Ihm wurde schwindelig."
"Er fühlte sich benebelt."
"Alles verschamm vor seinen Augen."
Aus dem umherirren wurden gezielte Bewegungen
Umherirren
Gut das du kommst
dass
Walter sagt: „Du bist es."
Jens schreit: „Ach so, und wie soll ich das verstehen?"
sagte / schrie
"Dazu müssen wir ihn mitnehmen."
"Wofür soll das gut sein?"
"Wir müssen die Todesursache abklären."
Ich glaube nicht, dass ein echter Kommissar so etwas sagen würde. Müsste es ihm nicht klar sein, dass der Notarzt den Leichnam mitnehmen muss, um die Todesursache herauszufinden?
Der Verunsicherte lief in der Wohnung auf und ab, während er seinem Chef erzählte, was bisher vorgefallen ist
war
Was der denn davon hält?
hielt

Puh, das müsste es gewesen sein. :)

Fazit:
Eine interessante, aber (zumindest für mich) erklärungsbedürftige Story.

Viele Grüße,

Michael :)

 

Hallo Michael,

zunächst einmal vielen Dank für die Rezension! :thumbsup:
Du interpretierst den Text vollkommen richtig.
Aber ich stelle mir das so vor: Ein Halluzinogen ist kein Betäubungsmittel, es ist ein Rauschmittel bei dem es zu extremen Angstzuständen kommen kann, und je nachdem was beigemischt wird, ist ein Horrortrip eine Erholung dagegen.
Das soll jetzt keine Belehrung sein. Es gibt bestimmt Leute, die mehr Ahnung davon haben, als ich. Ich lasse mich zu diesem Thema gerne belehren.
Jens stirbt an einem Herzinfarkt. Würde ein Rechtmediziner ihn untersuchen, würde er zwangsweise zu diesem Schluss kommen.
So eine Geschichte sollte tatsächlich keine Fragen offen lassen. Deshalb ist es so wichtig, zu erfahren was durch einen Text vermittelt wird, und was nicht. Das erfordert kompetente Gegenleser, wenn man nicht auf die Nase fallen will. Genau das ist es, was der kreative Mensch braucht, um aus seinem Text eine Geschichte zu machen.
Gut – ich habe Arbeit. Aber die nehme ich gerne auf mich. Ich werde deinen Kommentar auf jeden Fall berücksichtigen.
Jetzt noch etwas, was ich überhaupt nicht gerne mache: Erklärung zu einem Text abgeben. Denn normalerweise bedarf ein guter Text keiner Erklärung. Er muss halt so oft überarbeitet werden, bis alle Unklarheiten beseitigt sind.
Aber ich denke, im Rahmen einer Rezension ist das in Ordnung.
Richard Harfourg will, dass Walter alles erbt. Damit Jens sich nicht über Walters Ableben an die Erbschaft machen kann, baut er eine böse Falle ein. Walter warnt er davor. Aber du hast recht – warum tut er das? Irgendetwas muss da passiert sein. Das fehlt. Und das Motiv des Haupt-Kommissars könnte ich unter Umständen über den Staatsanwalt zu verdeutlichen versuchen. Walter will das Erbe nicht mit Jens teilen. Walter hat den Brief des Notars gelesen, und er denkt, dass der Unfall auf dem Bahnhof gar keiner war. Er hängt das nicht an die große Glocke, er regelt das selbst.
Dieser Teil kommt also auch nicht raus… Aha.
Zu den Einzelheiten: Wenn du mich so fragst… Ja, da werde ich noch einiges überarbeiten müssen!

Viele Grüße
Charly

 

Hallo noch mal!

Schön, dass ich dir weiterhelfen konnte und mit meinen Vermutungen einigermaßen richtig lag. Ein paar Erklärungen zu den Dingen, die für mich nicht rüber kamen, kannst du ja noch in dem Text mit einarbeiten. Viel Spaß dabei!

Viele Grüße,

Michael :)

 

Hallo, alle miteinander,
Hallo Michael!
Habs noch einmal versucht. Die Geschichte ist überarbeitet und ergänzt worden. Aber der Fehlerteufel ist allgegenwärtig, deshalb ist es nicht auszuschließen, dass sich trotzdem noch einige eingeschlichen haben.
Bin für jegliche Rückmeldungen dankbar.

Herzliche Grüße
Charly

 

Hi Charly!

So, endlich komm' ich dazu, dir noch ein paar Zeilen zu schreiben.

Ich finde, der Text ist mittlerweile verständlicher geworden. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich den Inhalt hundertprozentig kapiert habe, aber zumindest lässt er nicht mehr so viele Fragen offen und die Zusammenhänge ergeben jetzt eher einen Sinn. Allerdings ist meine Meinung nun natürlich ein wenig voreingenommen, da ich bereits die beiden früheren Versionen gelesen habe. Am besten wäre es wohl, wenn sich noch ein weiterer Leser mit dem Text befassen würde.

Fehler sind mir soweit keine mehr aufgefallen.

Viele Grüße,

Michael :)

 

Hallo Michael,
vielen Dank für deine Rezension und die Geduld, die du aufgebracht hast und dich immer wieder durch den Text durchgearbeitet hast. So etwas ist nicht selbstverständlich. Und nur durch Rückmeldungen dieser Art wird einem beim Schreiben von Texten geholfen. Der Schreiber selbst kann halt am wenigsten angemessen neutral an den eigenen Text gehen. Du hast mir sehr geholfen!
Herzliche Grüße
Charly

 

Hallo Leute,
Hallo Michael (du wirst wahrscheinlich automatisch über eine Änderung benachrichtigt),
es hat mir keine Ruhe gelassen.
Mit Säge, Hackebeil und Feile, Heftpflaster und Kleber habe ich meine alte Geschichte Korpsgeist auseinandergenommen und als "Post mortem" wieder zusammengefügt.
Die Geschichte ist lang - ich weiß!
Vielleicht hat trotzdem mal einer von euch Zeit und Lust reinzulesen. Bin jedenfalls für jede Rückmeldung dankbar.
Gruß Charly

 

Hi Charly!

Ich kann zwar noch immer nicht voll und ganz behaupten, dass ich den kompletten Inhalt verstanden habe, aber das liegt vermutlich daran, dass ich die verschiedenen Versionen gelesen habe und nicht mehr ganz unvoreingenommen an die Kurzgeschichte herangehen kann wie andere Leser, die nur die aktuelle Version kennen.
Der Storyablauf kommt mir jetzt jedenfalls geordneter vor, die inhaltlichen Umschlichtungen und Ergänzungen halte ich für sinnvoll.
Der neue Titel (»Post mortem«) gefällt mir auch besser.

Eine Dinge im Detail:

Der Unmut war dem Kriminalhauptkommissar ihm ins Gesicht geschrieben
"ihm" streichen
gewandt,schlug
Leerzeichen fehlt
Walter war vorgegangen, er selbst hatte noch was erledigen
was zu erledigen
Ist ihr Name hier ordnungsgemäß wiedergegeben?“
Ist Ihr Name ...
dass die Junges die Menschen durch ihr unüberlegtes Verhalten so sinnlos gefährdet haben
Jungen od. Jungs
Jemand,, der noch
Komma zuviel
Leichenschmaus - umgewandelt in Kaffee und Kuchen
Mag subjektiv sein – kommt mir aber etwas makaber vor

Bemerkenswert finde ich, wie eingehend du dich mit dem Text befasst :thumbsup: – so intensiv befassen sich nur die wenigsten Autoren bei kg.de mit ihren Geschichten!

Also, ich hoffe, dir noch mal weitergeholfen zu haben. Gut fände ich es, wenn noch jemand anders die nachbearbeitete Version der Story liest – das wäre dann sicherlich eine objektivere Meinung als meine.

Viele Grüße,

Michael :)

 

Hallo Michael,
sich bei so großen Texten durchzuarbeiten ist nicht jedermanns Sache. Du hilfst mir jedenfalls mit deinem Kommentar weiter.
Hab Dank dafür.
Gruß Charly

 

Hallo Leute,
das ist jetzt aber wirklich das letzte Mal, dass ich diese Geschichte überarbeitet habe.:D
Gruß Charly

 

Einmal geht´s noch, einmal geht´s noch leicht ...


Hallo zurück, CharlyM.

Ich muss ehrlich gestehen, dass ich mich nicht sonderlich in der Geschichte auskenne. Ich hab sie ja nur ein Mal durchgelesen, und du wirst es mir hoffentlich verzeihen, bei der Länge. Zudem muss man Krimis doch penibel durchlesen, oder.
Ich fand die Beschreibung, als halluziniert wird, besonders gelungen. Und sonst kann ich dazu nur sagen, dass die Geschichte eben zum Krimi-Genre gehört, das mir eher fernliegt.
Aber ich bin erst eingeschlafen, nachdem ich sie gelesen habe, wollte ich dir nur mal sagen, was nicht immer bei mir vorkommt.


Die Plattitüde würde ich weglassen, wo es heißt:

"Gerüche vergisst man nicht. Sie lassen uns erinnern, unbewusst, an Gutes und an Schlechtes."


Ein paar Korrekturvorschläge meiner Wenigkeit:

"Er ließ sich etwas Zeit zum Nachdenken, bevor er fortfuhr ..."

"Ja - schließlich ist es mein Bruder ...!"

"Vielleicht konnte er seinen Onkel davon überzeugen, ihm das Geld zu - leihen?"

"Er hatte noch nicht richtig zu Ende gedacht, da sah eretwas, das er schon einmal erlebt hatte."

"Wahrscheinlich nur der Wind, der ein Fenster zugeschlagen hatte."

"Warum sollte er wieder in die Schwüle des Wohnzimmers, wenn er an diesem Ort auch alles hatte, um sich wohl zu fühlen."

"Aus dem Umherirren wurden gezielte Bewegungen."

"Der Doktor überhörte es einfach, würdigte Klein keiner Antwort."


Ein klasse Motiv find ich, dass Jens versuchte seinem angeknacksten Selbstwertgefühl über die geistig literarische Ebene das zu geben, was sein ...


Lg vom kleinen Rasta-Narren


PS: Ich kann auch ein Lied davon singen, dass, sobald man eine Story abgeschlossen sehen will, wieder und wieder Fehler aufgedeckt werden.

 

Hallo kleiner Rasta-Narr,

vielen Dank fürs Lesen.
Nun habe ich es mir doch noch einmal anders überlegt und werde diese Geschichte noch einmal überarbeiten.
Vielen Dank auch für deine Korrekturvorschläge, ich werde sie brücksichtigen.

Gruß Charly

 

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