Krücken
Krücken
Wir heißen Li und Re, unser Name ist hinten auf der Unterarmschale durch kleine, beschriftete Aufkleber vermerkt. Beide sind wir Baujahr neunzehnhunderteinundachtzig, aus solidem Alurohr. Unsere Griffe sind aus hellgrauem Kunststoff ergonomisch geformt, wie auch unsere Unterarmschalen. Wir sind höhenverstellbar! Wir sind Serienprodukte, um das Wort Massenware zu umgehen.
Wir sind leicht gebraucht, dennoch gut im Schuss. Wir sind Partner, Re und ich, seit sechsundzwanzig Jahren.
Damals wurden wir aus dem Magazin geholt und unserer „Hüfte“ übergeben. Auch unsere Namen bekamen wir damals, denn unsere „Hüfte“ hatte behauptet, wir seien nicht gleich und er käme durcheinander, wenn er uns am laufenden Band verwechseln würde.
Tatsache war, er hatte recht! Re war um etwa drei Millimeter kürzer wie ich, dafür hatte ich etwas Spiel in der Höhenverstellung, was bei mir mit jedem Aufsetzen meines Fußes durch ein „Klick“ zu hören war.
„Hast du nicht auch das Gefühl, lieber Re, dass unsere „Hüfte“ in den letzten Jahrzehnten deutlich schwerer geworden ist?“ „Absolut, lieber Li, schwerer und schwerfälliger!“
„Und grau ist er geworden, Falten im Gesicht und sonst wo!“ Li nachdenklich.
„Aber, er hat uns am zweiten Tag nach seiner Operation in die Hand genommen, uns weggeholt, dort an der Wand zwischen Kleiderschrank und Krankenbett und ist los marschiert mit uns, den Flur entlang zum Aufzug!“ „Und Li, hast du gesehen, wie er mich genommen hat und ich durfte mit meinem Gummifuß auf den Schalter für den Lift drücken?
„Ja und dann, die erste Zigarette unten am Nebeneingang, die tollen Gespräche mit unseren Kolleginnen, die mit den eingearbeiteten Katzenaugen und den popigen Farben, der Silikonbereifung? Mein Gott, wie lange mussten wir darauf warten!“
„Ich hatte mir richtig Sorgen um ihn gemacht. Ich sah ihn vor meinen Augen unseren „Untapferen“, unser „Sensibelchen“, wie sie ihm die Spritze, die dicke, große, hinten in das Rückenmark verabreichten, wie er wegsackte in das Land der Träume, wie sein Blut floss beim ersten Schnitt, wie sie mit Klammern das OP-Feld offen hielten, wie oszillierende chirurgische Sägen den Oberschenkelknochen durchtrennten und den verbrauchten Hüftkopf freigaben.
Ich konnte das freigesetzte Knochenmehl riechen, ich hörte wie sie in seinem Beckenknochen die Halbschale für die Hüftpfanne herausschabten, wie das Knochenmark aus seinem Oberschenkel entfernt wurde und der neue Hüftkopf aus Titanstahl mit Hammerschlägen und Kunststoffzement seinen neuen Platz im Oberschenkelknochen erhielt. Und nicht zuletzt, sie haben sein Bein nach einem Vierteljahrhundert um viereinhalb Zentimeter verlängert, verlängert, du hörst richtig. Die Muskeln gedehnt, die Sehnen gespannt wie Klaviersaiten, die Nerven gezogen, wie eine zu schwache Angelschnur.
Auf dem Op-Tisch wurde er herumgeworfen, wie wenn du ein Stück Fleisch filetieren möchtest und dabei suchst, von welcher Stelle aus du das Messer endgültig ansetzen möchtest.!“
Re – „Li, bist du sicher, dass das alles so war, wie von dir gerade eben beschrieben?“ Li- „Überlege doch mal, seine Beiden Beine sind gleich lang, richtig? Seine Hüfte besteht seit zwei Tagen aus einer TEP, einer Total-Endo-Prothese, richtig? Seit zwei Tagen braucht er uns wieder und zwar überall, richtig?“
Was soll an meiner Geschichte falsch sein?
Man hört es wieder, das Geräusch auf dem langen Flur des Krankenhauses -
„Klick“ – „Tock“, „Klick“ – „Tock“, Sie sind gemeinsam unterwegs die „Hüfte“ mit Li+ Re! © GRIFFEL