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Kreuztanz I

Seniors
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15.03.2008
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Kreuztanz I

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Sie hustete ab. Stellte sich ihre Lunge vor, deren Farbe nurmehr Marmorierung der schwarzen Teerschicht sein würde, das halb zerstörte Organ einer Krebskandidatin. Rosa setzte sich im Bett auf, zündete eine Fluppe an und rauchte. Die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger haltend, dachte sie, diese Hand hält bestimmt bald ein Röntgenbild oder eine Diagnose. Die Chancen dafür standen gut. Dass klipp und klar wird, Rosa ist krebskrank und stirbt mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 % innerhalb der nächsten fünf Jahre. Ritschratsch ging ein erster feiner Riss durch ihre Welt.

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Rosa saß beim Arzt und wartete. Seit eineinhalb Stunden wartete sie, obwohl sie einen Termin hatte. Ich müsste ärgerlich auf den Arzt sein, überlegte sie, bin aber nur aufgewühlt wegen mir. Sie blätterte Zeitschriften durch, las von den Artikeln kaum die Überschriften und überflog Fotos und Bilder. Irgendwann stand sie auf, sagte der Schwester, dass sie kurz draußen sei, ging vor die Tür und hörte unverschämt gesund wirkende Frauen miteinander klatschen, während sie rauchte.
Sie stellte sich vor, wie ein schwarzrotmarmorierter Krebs ihre Lungenflügel in die Zangen nahm und langsam und stetig winzigkleine Stücke herausschnitt und aufaß.
Aus diesem Bild störte sie die Schwester, die mit hochgezogener Braue auf die qualmende Zigarette blickte und sagte, dass Rosa an der Reihe sei. Sie straffte sich und folgte der Frau, die ihr den Weg zum Sprechzimmer wies.

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Der Arzt gab ihren Befürchtungen das medizinische Siegel von Wahrheit und sagte so Sachen, die Ärzte in solchen Situationen so sagen. Eher etwas nüchterner als er sich vorgenommen hatte. Das war Rosas Schuld, die Schuld des Mädchens. (Er nannte bei sich alle Frauen außer seiner Mutter Mädchen).
Sie lächelte ihn so aufreizend hintergründig an. Als wüsste sie etwas, von dem er keine Ahnung habe, was sie ihm aber nicht sagen würde. Dabei war er derjenige mit der Macht. Er hatte die Diagnose wortwerden lassen und also ein Urteil gesprochen über ihr Leben, dessen Ende mit Sicherheit bald kommen würde. Klippklapp – das Buch des Lebens zugeschlagen, Schluss mit Kunterbunt.

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Aber wie auf ihre Reaktion reagieren, auf dieses gelangweilt wirkende Lächeln: Todesverachtung ist Lebensverachtung, dachte er, die schließt sie und mich ein und gleichzeitg jedes Herankommen aus. Er suchte vertrautes Fahrwasser und hielt einen Monolog, mit dem er Todkranke immer pamperte, einwickelte, versponn. Natürlich ihrem Fall angepasst und mit dem Maß an Variation, dass er über der eigenen Rede nicht einschlief. Mit einer leichten Schieflage in der Stimme, Anzeiger seiner Unsicherheit.
Dann nochmal das Urteil, dass die Krankheit tödlich sei. Vielleicht wiederholte er es wegen ihrem andauerndem Lächeln, mehr für sich, um auf bekanntes Terrain zurück zu kommen, ihr Krebs saß ja nicht in den Ohren. Er urteilte frostig, wie er etwas erstaunt feststellte, kriegte aber auch mit der Wiederholung ihr Lächeln nicht vom Gesicht. Rosa stellte lediglich fest, in etwas gelangweiltem Ton, es sei Zeit, wenn es Zeit sei.

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"Wie meinen?", fragte der Arzt. Sie ließ sich zu einer kurzen Reflektion hinreißen, sprach von Menschen, die kommen und gehen, von Beziehungen, die entstehen und vergehen. Das eigene Leben sei nicht mehr als ein Trabant aus der Sicht der anderen. Und für sie selbst, die für nichts und niemanden Verantwortung trage, sei bedeutungslos, wann sie krepiere, spätestens danach kümmere es sie nicht mehr. Warum also sich davor verrückt machen, lieber zurücklehnen und ein Kippchen rauchen. Es störe ja auch niemand, dass man vor der Geburt nicht existiere. Der Tod werde überschätzt. Rosa halte das für überheblich und albern, der eigenen Existenz diese Bedeutung beizumessen. Sie habe viele Fehler, aber diese beiden Eigenschaften schreibe sie sich nicht zu.
Das rauschte dem Arzt durch seine Gehörgänge, er wartete, ob etwas in seinen neuronalen Netzen hängenbliebe, zu dem er etwas altväterlich Kluges sagen könnte. Der Satz würde mit Mein liebes Mädchen ... beginnen, das war klar, aber wie weiter.

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Er überlegte und überlegte und weil das so lange dauerte, wurde Rosa neugierig, was der Arzt jetzt sagen würde. Wenn jemand so lange schwieg, kommt entweder was Schlaueres als üblich, oder, meistens, gar nichts mehr. Was wird hier der Fall sein?, fragte sie sich. Er gab ihr schweigend und mit gerunzelter Stirn die Visitenkarte einer Betroffenengruppe, Menschen der letzten Tage. Und log sie an, dass sie immer willkommen sei und sich jederzeit, er wiederholte, jederzeit bei ihm melden könne, wenn sie Gesprächsbedarf habe. Das bot er nur Menschen an, von denen er glaubte, dass sie das Angebot nicht annehmen würden, in der Hinsicht war er ein guter Menschenkenner. Er sollte sich auch bei Rosa nicht geirrt haben.

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Lila wartete vor der Praxis und lächelte der herauskommenden Rosa zu. Die zündete sich eine an. "Kein Kommentar", sagte sie und nahm einen tiefen Zug auf Lunge. Später, in Lilas Küche, sagte sie doch noch was. "Ich weiß gar nicht, wie das mit dem Krebs passieren konnte", sagte Rosa und lächelte Lila zu, die Wasser aufsetzte. Lila hatte noch nie so einen Gesichtsausdruck gesehen, kalt überlief es sie, die nicht wusste, wie sie reagieren sollte.
Sie drehte sich weg und goss Wintertee in einer blauen Kanne auf, die mit einer verschneiten Dorflandschaft bemalt war. Sie tranken schweigend und betrachteten die Schatten des Lichtspiels an den Wänden. Das Karussell lief ein bisschen unrund, weil ein paar Flügel zu weit nach oben gebogen waren. Lila justierte sie nach, dann drehte es besser.
Irgendwann begann Rosa zu reden. Dass es nicht zuende gehen dürfe, sie sei noch nicht einmal 35, also furchtbar jung, auch wenn sie sich als Mittdreißigerin in den letzten Jahren immer häufiger alt gefühlt habe. "Ich habe kaum die Hälfte der regulären Lebenszeit hinter mir, das fällt einem erst auf", sagte sie, "wenn der Tod sich ankündigt, oder, wie in meinem Fall, mit einem Mal vor der Tür steht, dann fällt einem erst auf", sagte sie, "ob man gelassen gehen kann oder ob es da etwas in einem gibt, das einen hält. Und ich will nicht gehen!"
Es dürfe nicht sein, sagte sie, das sei einfach nicht fair, irgendeine Lösung müsse es geben. Lila sah sie an und ermunterte sie zum Sprechen, ließ Rosa erzählen, stellte die richtigen Fragen und vermied, das Falsche zu sagen.
Irgendwann öffnete sie das Fenster, weil Rosa die Küche vollgequalmt hatte, kippte zwei doppelte Schnäpse ein, das kappte die Düsternis für den Moment, und brachte Rosa nach Hause.
Die sagte unterwegs, dass es einen Weg geben müsse, ohne von einem Wohin zu sprechen, und sie sich gar nicht vorstellen könne, wie es soweit gekommen sei, ohne das Woher zu bemühen. An der Ecke vor ihrem Haus, neben dem teuren Italiener, zog sie eine neue Schachtel aus dem Automaten und verabschiedete Lila mit einem Küsschen auf die Wange und bedankte sich für den Abend.
Mit einer Herzlichkeit, die Lila von ihr kannte und bei der sie im Laufe der Jahre das Gefühl gewonnen hatte, sie sei wohlkalkuliert. Als erlaube Rosa sich genau das Maß Herzlichkeit, das man braucht, um leben zu können, ohne dass sie das Risiko eingehen müsste, sich so sehr auf etwas einzulassen, dass sie verletzt werden könnte. Rosas Risikomanagement erstreckte sich auf jeden Lebensbereich, aber der Tod ließ sich nicht wegmanagen.

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Zu Hause angekommen, sah Rosa aus dem Zimmer ihres Untermieters schwaches Licht durch das Quadrat aus Milchglas schimmern und sie überlegte, wie lange sie ihn schon nicht mehr getroffen hatte. Zwei, drei Wochen. Obwohl sie beide jede Nacht hier schlafen, haben ihre Leben einen so verschiedenen Takt, dass sie sich selten berühren.
Sie setzte sich in die Küche, jetzt ganz gefasst, und überlegte, was an diesem Tag alles passiert war. Von den Überlegungen bei der ersten Zigarette, über den Arztbesuch bis zu dem Gespräch mit Lila. Rosa ließ das Erzählte Revue passieren und fragte sich, ob das noch sie sei, die so sprach. Sorgenvoll bis ängstlich, hasenherzig und kleinmütig am Leben hängend.

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Lila bereitete nach dem Aufwachen grünen Tee, schnitt einen Apfel auf und aß und trank, dachte an den Traum, machte ein paar Notizen, um Details nicht zu verlieren und danach einen Spaziergang. Am See entlang und durch einen kleinen Park. Sie umrundete einen Teich, der von einer dünnen Eisschicht bedeckt war. Wie lange die sich halten wird, dachte Lila, wir haben schon Plusgrade. Als ihre Wangen vor Kälte glühten und die Füße kalt wurden, fuhr sie mit einem Bus zurück, auf den sie zwanzig Minuten gewartet hatte, weil die vorherigen Busse ausgefallen waren.
Schmelzwasser lief die Scheiben hinunter und wurde vom Fahrtwind beiseite gedrückt.
Tauwetter, dachte Lila und an eine eingefrorene Beziehung. Ob sie diese Wetterlage als Zeichen verstehen sollte oder ob der Versuch einer Wiederbelebung nur zu Störungen ihrer Atmosphäre führen würde. Sie schob den Gedanken beiseite, dachte an Rosa, das war jetzt wichtiger.
Aber irgendwie tauchte sein Gesicht immer wieder auf, oder etwas, das seinem Gesicht nahekommen könnte, Sätze, die er gesagt oder geschrieben hatte.
Sie hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, obwohl es noch gar nicht so lange her war, kam es ihr vor, als wären Jahre vergangen. Und jetzt sah sie durch das Busfenster flauschig wirkende Flocken fallen und zu einer dünnen Schicht Vergessen werden. Die würde morgen Schnee von Gestern sein. Wie immer. Sie wollte das nicht, dass alles immer vorbeiging und zurückblieb, wollte nicht, dass man nichts halten konnte. Dass die Erinnerung wie Schnee in ihrer warmen Hand schmolz. Sein Gesicht hatte sich ja schon fast aufgelöst. Sie wünschte sich kühle Hände, wie er sie hatte. Noch hatte sie ein paar Bilder, die sie halten konnte, aber ihre Hände waren warm, immer schon gewesen, das würde sich nicht ändern und die Bilder würden zerfließen, weniger werden. Und dann verschwinden und dann nichts mehr.

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Warum?, war ihr erster Gedanke, als sie aufwachte. Warum will ich nicht sterben? Das war deutlich. Als hätte sie während des Schlafens nichts anderes getan, als über den Tod und ihre Beziehung zu ihm nachzudenken.
Rosa machte Frühstück. Zwei Scheiben Toastbrot, Orangensaft, Kaffee und eine Zigarette, und blickte rauchend und Kaffee trinkend ein paar Minuten aus dem Fenster, bevor das gestrige Gespräch mit dem Arzt sich mit Macht aufdrängte.
Die Sätze fielen durcheinander und über sie her: sie müssen kämpfen das ist jetzt das wichtigste immer nur auf den nächsten schritt achten jeder gelebte tag ist ein gewonnener tag leben sie jeden tag als könnte er ihr letzter sein (verzeihung, das war unpassend) eine letzte reise wird nicht drin sein tut mir leid das muss ich in aller deutlichkeit sagen ordnen sie ihre angelegenheiten solange sie noch klar sind bald werden sie nicht mehr auf starke betäubungsmittel verzichten können wie lang genau kann ich ihnen nicht sagen in ihrem stadium liegt der klinikinterne überlebensrekord bei sieben monaten das hätte ich ihnen gar nicht sagen dürfen. woran das liegen könnte fragen sie warum gerade ich fragen sie (das hatte sie weder gesagt noch gefragt); dafür wird es keine befriedigende erklärung geben; vielleicht haben sie mal irgendwo gelebt wo asbest verarbeitet wurde oder radon aus dem boden austrat, das ist selten aber solche fälle gibt es. natürlich dürfen sie rauchen, warten sie ich gebe ihnen feuer.

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Rosa war mit vierzehn Jahren das erste Mal dem Tod begegnet. In Gestalt der im Wohnzimmer aufgebahrten Urgroßmutter. Die hatte Zeit ihres Lebens ein eisernes Regiment über den schwachen Urgroßvater und einen Bauernhof mitsamt Gesinde und Viehzeug ausgeübt, noch mit siebzig Jahren um fünf die Kühe gemolken und Hühner und Schweine selbst gefangen und geschlachtet. Rosa hatte sie als beeindruckende Gestalt erfahren, als eine überlebensgroße Figur, die in jeder Situation ihren Willen durchsetzte. Die von jedem respektiert oder sogar gefürchtet wurde, mit diesen dumpfen Gefühlen, die man Menschen entgegenbringt, für die man keine Worte findet. Dementsprechend groß war die Lücke gewesen, die sie hinterlassen hatte. Die Präsenz ihrer Abwesenheit hatte den ganzen Raum ausgefüllt.
Ihre wächserne Hautfarbe hatte sich Rosa eingeprägt und ein zusammengefallenes Gesicht, das der Schwerkraft keinen Willen mehr entgegensetzte, dessen Züge erschlafft waren, als zerrte der Boden bereits an dem Körper, den er bald verschlucken, gnädig aufnehmen oder für dessen Vergessen er sorgen sollte.
Sie hatte gar nicht an die Alte gedacht, sondern nur daran, dass ihr das auch einmal blühen würde. Wie schnell und sicher alles vergeht. Am Sarg der Urgroßmutter dachte sie für Momente, selbst eine der weißen Lilien mit abgeschnittenem Stängel zu sein, die auf den engen Holzkasten geworfen wurden. Da beschloss sie, unsterblich zu werden. Sie wollte nicht sterben, nie wollte sie zu leben aufhören.
Aus der Distanz einiger vergangener Tage aber wirkte der Wunsch albern, eine Kleinmädchendummheit, und sie hatte eine Idee, die sie für cleverer hielt: Sich mit dem Tod anfreunden und ihn zum Teil ihres Lebens machen.

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Schule, Studium und Job; Kindheit, Pubertät und Frausein; Nichtsein, Leben und Tod. Das gehört zwingend zusammen, ist logische Entwicklung und Folge und liegt so sehr auf der Hand, dass sie mit Jugend- und Schönheitskult nie recht warm wurde. Denn beide taten, als gäbe es genau das nicht, was für jeden unausweichlich ist. Die Einsicht in die Endlichkeit ließ sie voll auskosten, was sie kriegen konnte.
Rosa lebte einen fröhlichen Nihilismus und hing mit Gleichgesinnten nächtelang in schwarz verhangenen Zimmern und auf Friedhöfen herum. Einmal bemalten sie ihre Gesichter mit Kunstblut und vollzogen ein obskures Ritual. Dabei ging es um den Tod und dessen rituelle Vermählung mit ihnen, seinen Jüngern. Der Höhepunkt der Zeremonie bedeutete gleichzeitig den Abschluss dieser Phase, als der Anführer ihres verwirrten Häufleins sie auf einem Grab nageln wollte. Im Traum sei ihm der Teufel erschienen, der sich Rosa als Braut und ihn selbst als Wirtskörper für die erste Nacht auserwählt habe.
Sie hatte den Jungen ein paar Sekunden ungläubig angeschaut, wie er mit erwartungsvollen Augen, blitzend vor jugendlicher Dumm- und Geilheit, darauf wartete, dass sie in seine Arme sank, sich sofort auszog oder nimm mich! rief ... Rosa hatte den Kopf ein Stück zurückgenommen, spöttisch gelächelt und ihn stehenlassen.
Damit war das Spiel mit der Dunkelheit für sie gestorben und sie begann eine seriösere Nähe zum Tod zu leben. Rosa nutzte jede Gelegenheit, in Krankenhäuser zu gehen, um Freunde, Arbeitskollegen oder Verwandte zu besuchen. Machte Praktika in Beerdigungsinstituten und Hospizen. Rosa hörte geduldig zu, erzählte nette und lustige Anekdoten oder hielt einfach nur die Hand, wenn es gebraucht war. Das ging von selbst, darauf musste sie sich nicht einmal konzentrieren. Sie wusste, dass sie immer das Richtige sagte und konnte sich ganz auf die Krankengeschichten konzentrieren, die ihr von den Patienten, froh über ein offenes Ohr, erzählt wurden.
Während sie zuhörte und erzählte, überlegte sie, wie lange die Person, mit der sie sprach, wohl noch zu leben hätte und imaginierte das Gesicht des Todes. Ob es ein entspanntes, zorniges oder trauriges sein würde. Mit der steigenden Zahl der Kranken- und Sterbendenbettbesuche trafen ihre Prognosen immer häufiger ins Schwarze. Sie wurde zum Beerdigungsprofi, warf angemessene Sträuße auf die Särge, suchte von dem Kondolenzkartenangebot zwischen Aufrichtige Anteilnahme, In stillem Gedenken und Das hat ja gedauert für jeden Dahingeschiedenen die passendste aus, und fand nach der Trauerfeier ein paar Worte im richtigen Ton.
Manchmal überlegte sie, wer an ihrem Sterbebett sitzen, was über sie gesagt und wie ihr eigenes Gesicht im Tod aussehen würde. Da fielen ihr viele Varianten und Möglichkeiten ein, aber keine, die sie erschreckte oder vor der sie Angst haben müsste.
Projekt erfolgreich abgeschlossen, dachte sie eines Tages, während sie die Hand eines alten Atheisten in einem katholischen Hospiz hielt und lächelte den Sterbenden bezaubernd an. Den hatten schon die langen Tage im Hospiz mit der ständigen Präsenz christlicher Symbole in seinem Unglauben verunsichtert. Jetzt glaubte er, eine Marienerscheinung zu erleben und starb mit dem Gefühl, aufs falsche Pferd gesetzt zu haben, wenn es im Himmel so schöne Frauen wie die lächelnde Rosa gab. Er lächelte zurück, vielleicht ist es noch nicht zu spät, dachte er und verschied. Rosa fand, dass diese Sterbebegleitung ein gelungener Abschluss war und entschied, mit genug Toten Händchen gehalten zu haben. Das Sterbethema hatte sie für sich geklärt, ihre Hausaufgaben gemacht. Sie konnte ruhigen Gewissens wieder spielen gehen.

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Und jetzt wollte sie nicht sterben. Wie verwirrend. Rosa saß in ihrer Küche und registrierte eine Welt, die von einem Moment zum nächsten, vollständig in Frage gestellt, irgendwie bedrohlich wirkte, irgendwie konnte man gar nicht richtig sagen, was hier geschah, aber es war nicht gut, gar nicht gut.

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Sie musste raus, aus diesen vier Wänden, die vergessen hatten, dass sie Teil ihres Heims waren und auf einmal ganz zudringlich wurden, flinken Flügelschlags von heimelig zu unheimlich, sie bedrängten Rosa, kamen näher, die Decke senkte sich, wie abgeschmackt die ganze Show, aber effektiv.
Sie bekam schwer Luft, was ist das nur, dachte sie, hielt sich am Tisch fest, Sekunden oder Jahre, bis der Schwindel, oder was das war, nachließ, dann riss sie sich zusammen und aus diesem Gefühl, stand auf, stützte sich an den Wänden bis zum Flur, zog sich Mantel und Schuhe an, nahm den Schlüssel vom Bord und ging schnell, rannte fast die Treppen hinunter.
Auf der Straße ermahnte sie sich. Du musst nicht so schnell gehen, redete sie sich zu, das Unausweichliche kommt von selbst, wegrennen kannst du auch nicht. Da ist kein grund so schnell zu gehen laufen rennen hilft nicht keinen grund das ist doch kurz vor der hysterie oder was kann das sein. Puh, Atmen, das ist der Trick.

Sie achtete ein paar Minuten auf ihre Schritte, bis die Konzentration nachließ und sie wieder schnell zu gehen begann, woraus schnell sehr schnelles Gehen wurde, durch irgendwelche Straßen, ohne irgendein Ziel. Das glaubte sie wenigstens, aber auf einmal Lilas Wohnung.
Und sie dachte, dass sie ja doch ein Ziel gehabt hatte, das sie sich aber nicht eingestehen wollte, denn was sollte sie schon bei Lila, außer sich beklagen, was sie nie tun würde, weder bei ihr noch bei sonst jemandem.
Sie drehte sich um und wollte weg, vielleicht weiter durch die Straßen irren, darüber dachte sie jetzt nicht nach, aber Lilas Stimme hielt sie ab, Lila schaute aus dem Fenster und rief sie hoch und kurz darauf summte der Türöffner und Rosa ging hoch. Was sollte sie auch jetzt anderes tun, nachdem sie entdeckt worden war.
Sie entschloss sich, Haltung zu bewahren (oder erstmal annehmen) und so zu tun, als wäre sie Herrin ihrer Sinne und hatte noch keine Ahnung, keine leise Idee, wie sie das bitteschön bewerkstelligen sollte.

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Ihre Augen waren Fenster zu leeren Räumen. Gucklöcher in eine unbehauste Ruine, die bebte, weil das Mädchen vor Kälte zitterte. Kein Wunder, bei knapp über Null kaum bekleidet: Ihre Streichholzbeine steckten in langen Stiefeln, aber der Rock bedeckte wenig mehr als den mageren Arsch und obenrum trug sie unter der offenen Lederjacke ein hautenges Shirt. Ein bisschen tat sie Maerlin leid, etwas mehr tat es ihm um die 30 Euro leid, die der Fick kosten würde.
Sie lächelte ihm zu, in der oberen Gebissreihe fehlte ein Zahn, die anderen Zähne waren gelb oder grau, Maerlin winkte ab. "Lass uns gehen", sagte er. "Sag nichts, lächle nicht."
Er suchte nicht gezielt Minderjährige, so einer war er nicht. Maerlin kannte ein paar Typen, die waren immer auf der Suche nach Frischfleisch, je jünger je geiler, sagten die. Maerlin fand das übertrieben bis -spannt, war da erdverbundener. Ihm ging es schlicht um ein Zwischenspiel in natürlicher Umgebung. Hauptsache warm, feucht und konkav. Wie die jetzt aussieht und wie alt die ist, nebensächlich. Er nahm die Erstbeste oder -schlechteste, allein schon, weil er den Aufwand scheute, das Fleisch zu beschauen und eine Wahl zu treffen. Zipp, schnapp die Nutte und rein ins Stundenhotel, Zapp, Reißverschluss runter und ein halbes Stündchen rein-raus-Spiel. Zappzarapp und ab dafür.

/16
Der eigentliche Verkehr wäre für jemanden mit Erwartungen an etwas wie menschliche Nähe enttäuschend gewesen. Damit hatte Maerlin nichts zu schaffen, aber auch auf der körperlichen Ebene: Wenig geiler als sich einen runterholen, sie wurde nicht feucht und kriegte seinen Schwanz nicht hoch, er musste es selbst machen und das mit geschlossenen Augen, damit er die Lappen nicht sah, die ihre Brüste waren.
Wie hat die sich mit so jungen Jahren so runtergewirtschaftet, überlegte er, während er in sie hineinschwang, hütete sich aber, ihr diese Frage zu stellen. Am Ende hätte er eine Nutte erwischt, die ihn falsch verstand und dachte, dass er an ihrem Schicksal interessiert sei und ihn dort rausholen würde. Besser was reinstecken, für ein Weilchen, er machte mechanische Bewegungen und spritzte den weißen Müll ins Gummi. Zog ihn raus und die Hose wieder über den Arsch und verpisste sich aus dem Blue Hours.

/17
Auf die Straße fielen die ersten Schneeflocken des Jahres. Er überlegte, zu den japanischen Kirschbäumen zu gehen, die waren am schönsten, wenn sie von ein paar verlorenen Flöckchen umwirbelt wurden. Entschied sich aber aus Faulheit dagegen, kaufte beim Fidschi ein paar Bier und hockte sich zu Hause vor den Fernseher.

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Sein Mitbewohner kam bald darauf, setzte sich dazu und versuchte ein Gespräch, fragte, was er tags gemacht habe. Maerlin erzählte die Episode mit dem Mädchen. "Warum gehste immer wieder hin?", fragte der Mitbewohner.
"Ich kann es mir leisten. Und besser als wichsen ist es schon." Er fragte nicht, was sein Mitbewohner gemacht habe und hob die Hand, als der ungefragt erzählte. "Ich will das nicht wissen. Echt, es interessiert mich nicht", sagte Maerlin und lächelte schmal, als der aufstand. Von dem hatte er genug erfahren, der variierte immer nur das Altbekannte. Der kreiste immer um die gleichten Themen, der suchte nur jemanden zum Ohrabkauen.
"Mit dir geht es nicht mehr lange gut", orakelte sein Mitbewohner.
Maerlin lachte ein raues Bellen, und sagte, er solle das schnell in sein Buch der Prophezeiungen schreiben, bevor die Welt untergehe. Sein Mitbewohner sah aus, als wollte er etwas erwidern, drehte sich dann aber doch nur weg und ging grußlos.
Maerlin zappte zwischen einer Dokumentation von den Färöer Inseln, einer politischen Runde und Rambo III, trank drei Bier und wechselte gegen Mitternacht von der Vertikalen in die Horizontale.

/18
"40 €. Mehr gibts nicht." Maerlin hielt dem Mädchen zwei Scheine auf der offenen Handfläche hin und schloss die Hand und zog sie weg, als das Mädchen danach greifen wollte. "Erst das Handy", sagte er. "Du willst was von mir, Süße", erinnerte er. Sie sah ihn an, kurz flackerte eine Mischung aus Ärger und Ekel auf, bevor die Augen trübe ihr Fügen spiegelten. Das Mädchen gab ihm das Handy, bekam die zwei Blauen. Lächerlich wenig, das musste reichen.

Das ist eben so eine kleine Nebentätigkeit, nichts besonderes. Wie für die Kumpels Dope verkaufen, das macht ja jeder mal. Ein in gewisser Hinsicht prekärer Job, ja, aber schließlich lebte er auch von Prekären umgeben, da bietet man an, was gebraucht wird. Hehler- und Vermittlerei, bisschen Hasch schieben. Aber selbst schön auf dem Teppich bleiben, das ist gesünder.

Mit der Vermittlung kleiner Mengen und dem Geschacher mit Elektronik, was die trickreichen Taschendiebe eben so anschleppen, plus Hartz und etwas Hinzuverdienst für achtzig Stunden ehrliche Arbeit im Monat, zur Abwechslung und um die Sprache der Normalen nicht zu verlernen, kommt man problemlos und risikoarm auf 500 die Woche, das ist okay.

Jetzt klingelte sein Telefon. Maerlin ging ran, einer wollte Katrin treffen, also Kokain kaufen, dieses edle Pülverchen, das es für Straßengören allerdings nur in Straßenqualität gibt, soll heißen, gestreckt bis zum Letzten, etwas günstiger als echtes Kokain, aber immer noch wahnsinnig überteuert und fast ohne Wirkung, wie man von diesem Zeug süchtig werden konnte, verstand Maerlin nicht, das war ein Witz. Deswegen aus der Kurve fliegen, das war lachhaft.

/19
Hauptsache sein Rennen läuft wie es soll, straight nach vorne, niemand will ihn von der Bahn drängen oder an die Karre pissen, weil er schlechtes Zeug vertickt, weil jeder schlechtes Zeug vertickt. Die an der Strecke stehen, die immer in der Ecke stehen, wo sollen die sich beschweren. Bei Stiftung Warentest Mangelhaft haben folgende Kokainmarken abgeschnitten: Weißwieschnee, Wünschdirwas, Maerlins Magische Mische haben 3% oder weniger Konzentration und sind mit besonders schädlichen Mitteln gestreckt oder einer Genussmittelbehörde Sie haben das Deutsche Reinheitsgebot für Coke verletzt, das gibt eine saftige Strafe, vielleicht wird ihnen die Lizenz entzogen.
Ne, das passte alles schon, sollen die Geschäfte im Schatten bleiben. So lange sie illegal sind, kann man sich eine hübsche Nische in der Parallelkultur suchen, stoffgeile Mädels für ein paar Pillen bumsen, sich einen Haushaltssklaven für ein Gramm Dope am Tag halten. Mit rumhartzen und bisschen Organisches und Chemo und Elektro verticken lebt man wie ein Asifürst, ziemlich weit oben in der Hierarchie des Sozialhilfeadels, aber ohne lästige Verantwortung. Man muss es halt nur einigermaßen clever anstellen, damit die liebe Polizei ...

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Er traf sich später mit dem Kokainfreund, ein Intravenöser, Tin, der mit erstaunlicher Geschwindigkeit abnahm. Sein BMI wurde von Treffen zu Treffen optimierungswürdiger, er wog weniger als sechzig Kilo bei ein Meter achtzig Körpergröße, wie er vor kurzem erzählt hatte. Maerlin hatte ihn mit einem Blick zum Weiterreden ermutigen wollen, dreckige Details interessierten ihn, aber Tins Mitteilungsbedürfnis oder -möglichkeit hatte sich in dieser Feststellung oder Behauptung erschöpft.

300 gab ihm Tin für ein Interview mit Katrin, er schien eine Menge Fragen zu haben. Maerlin ging drei Straßen weiter, holte das Zeug und gab es fünf Minuten später an Tin weiter. Schnelle Wege, niemand kennt ihn anders als vom Sehen, alles läuft weitestgehend reibungslos, so lässt er sich das gefallen.
Später saß Maerlin in einem Cafè und fragte sich, was mit den Menschen los war, den Kaputten und den Glücklichen und denen dazwischen, was ihr Geheimnis war. Aber er kriegte das einfach nicht auf den Schirm. Mein blinder Fleck, die Menschen, dachte er.

/21
Es hatte Maerlin gereicht, die endlosen Litaneien seines Mitbewohners, dessen steter Versuch, ihn zu einem Leben in Gemeinschaft zu bringen. Als der ihm vor ein paar Abenden auf die Pelle gerückt war und wieder einmal anfing, über Badputzen und Mülldienst zu reden, war Maerlin wütend geworden. Er hatte seine Überheblichkeit für einen Moment verloren und ihm zugezischt, er solle sofort verschwinden, sonst geschähe ein Unglück.

Der Mitbewohner hat den Ernst nicht erkannt, die Lage einseitig betrachtet und nur registriert, dass er dem Typen am Ende der Leitung erstmals eine Ansage machte, die ankam. So funktioniere Zusammenleben nicht, hatte er weitergefunkt, Sauberkeit und Ordnung seien das Einmaleins, aber Maerlin müsse auch mal zuhören und reden, wenigstens ein bisschen, sonst würden sie bald ernste Probleme miteinander bekommen, das habe er schon erlebt, das geschehe, wenn man nicht miteinander spräche. Schweigen gebiere Missverständnisse und Hirngespinste würden mitunter zu handfesten Problemen. Ende der Durchsage.
Da war der Mitbewohner mit fliegenden Fahnen durch die Bresche in Maerlins Schlechtelaunefestung geritten. Und stellte erst fest, als sich das Tor hinter ihm schloss, dass Maerlin die Idee, fremde Hirngespinste mit Handfestigkeiten zu vertreiben, keine schlechte fand.
Er habe Recht, diese Probleme seien jetzt da, und dass sie handfest seien, davon könne er, der Mitbewohner, sich gleich überzeugen, sagte Maerlin.
Stand auf und schlug mit gezielten, knappen Schlägen gegen ein paar strategisch günstige Punkte in des Mitbewohners Gesicht. Beim ersten kreischte der Mitbewohner im Falsett wie ein hysterisches Kind, danach schluchzte er wie ein Großmütterchen, zum Schluss lag er schnaufend auf dem Boden, auf dem Rücken wie ein Maikäfer und schaute Maerlin mit großen Augen an.

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Drei hätten gereicht, dachte Maerlin, für dieses ... Aber er hatte jeden einzelnen genossen, fünf waren also gut gewesen, nur dass das breiige Gesicht kein schöner Anblick war. Auch wenn man die Ästhetik des Hässlichen bemühte, gefiel ihm das schiefe Gesicht nicht, der ausgerenkte Kiefer, das anschwellende Auge, diese Asymmetrie. Da bin ich vllt altmodisch, dachte Maerlin.
Maerlin knackte mit den Knöcheln und sah sich im Zimmer um, von dem er sich ohne Wehmut verabschieden würde und rief vom Handy des Mitbewohners den Vermieter an. Ob der noch ein anderes Zimmer frei hätte.

In diesem Haus, das eher eine Mietkaserne war, fluktuierten die Mieter aus dem Irgendwo und zurück. Osteuropäer kamen aus dem Heimatland, verließen das Viertel nach ein paar Monaten und kehrten ein paar Monate später wieder. Andere wurden von der Polizei mitgenommen oder zogen in ein besseres Haus, wo Zimmerpflanzen im Treppenhaus standen und Herzlich Willkommen auf den Fußmatten. Mietnomaden fanden bei der Rückkehr ihre Bude mit einem Schloss gesichert, zu dem ihr Schlüssel nicht passte und suchten andere Wohnoasen. Schnippschnapp, die Fäden zerschnitten, fielen die Puppen von der Bühne, Gesichter fehlten, Menschen verschwanden. Buden wurden frei.

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Maerlin würde jetzt das dritte Mal innerhalb des Hauses umziehen, der Vermieter war ein alter Fuchs, der wusste, dass er seine Miete rechtzeitig zahlte, der würde ihm das ermöglichen und nicht ernsthaft nach Gründen fragen. Maerlin hatte auch schon ein Zimmer im Blick, die Einraumwohnung im Keller, aus der vor zwei Wochen die alte Frau mit dem Krankenwagen abgeholt worden war. Die Vorstellung, im Keller zu wohnen, umgeben von Stein und Erde, gefiel ihm. Allein. Ohne Ratschlag vom nähesuchenden Artgenossen. Für Abstand hatte er mit schlagenden Argumenten gesorgt.
Er habe unüberbrückbare Differenzen mit seinem jetzigen Mitbewohner, sagte er zum Vermieter, und wolle umziehen. Nein, das sei nicht zu richten. Wie gehe es eigentlich der lieben Frau Weißkopf? Oh, die Nachkommen regelten bereits ihre Angelegenheiten? Das sei ja furchtbar! Ob er ihre Wohnung haben könne? "Sie wissen ja, auf pünktliche Zahlung können sie sich bei mir verlassen", sagte Maerlin.

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Jetzt zog er also das dritte Mal innerhalb eines Jahres im selben Haus um, er brauchte nicht mal eine Stunde, um sein Zeug von Zimmer zu Zimmer zu tragen. Gerade trug er die letzte Kiste die Treppen hinunter und reflektierte. Er hatte in den vergangenen Monaten versucht, sich in normalere Kreise zu sozialisieren, angefangen, sich mit häufiger behandelten Themen zu beschäftigen und mit anderen darüber zu schwafeln, unlustige Comedy-Shows geguckt (deutscher TV-Humor ist der ödeste des Planeten, ärgerte er sich, hoffte er) und mit anderen darüber gelacht. Er war sogar mit jemandem zusammengezogen, der richtig arbeitet und übers Morgen nachdenkt. Na ja, dem hat er jetzt die Jacke vollgehauen, wenn das mal kein Nachspiel haben wird.
Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, dachte Maerlin. Dieses Sozialisierungs-Projekt betrachtete er als gescheitert. Es reichte nicht, Worte, Gesten und das Verhalten der Menschen zu imitieren. Es funktionierte nicht, Menschsein wie einen Mantel überzuwerfen. Auch die Nähe zu seinen Artgenossen half nicht, er identifizierte sich nicht, da übertrug sich nichts. Mehr noch: Die Unterschiede wurden mit der Zeit nur deutlicher. Er fühlte sich bei der Annäherung an andere Menschen eher wie ein Insektologe, der Käfer ausforschte. Aber den Traum des Forschers, einmal selbst in der Haut seines Forschungsobjektes zu stecken, konnte er anscheinend vergessen. Er würde nie eines Morgens aufwachen und ein Käfer sein.

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Und entschied, als er die letzte Kiste in seinem Kellerloch absetzte, dass er seine Feldforschung eine Weile ruhen lassen und sich verstärkt darum kümmern würde, Geld zu verdienen, um in ein, zwei Monaten einen ausgedehnten Sex- und Drogenurlaub in Thailand verbringen zu können.
Denn das war alles was ihn reizte, wenn er mal gezielt nachdachte. Fleischeslust, warm und konkav, wir erinnern uns, gepflegte, gefahrlose Räusche, und ab und an ein warmes Essen.
Das war ihm in aller Deutlichkeit klar, da machte er sich nichts vor, er hielt sich nicht für etwas besseres, als er war, und auch nicht für jemand schlechteren: Impulsgesteuert in einer Umwelt, die in Opfer und Raubtiere aufgeteilt war. Kultiviertheit und Mitgefühl, worauf sich Mitteleuropäer eben was einbilden, sind nur dünner Firnis. Man sieht die Risse in der feinen Schicht, wenn große Gesten gemacht werden.

Er rückte den Sessel in die Mitte der Kisten und herumstehenden Möbel und betrachtete die Beine der vorbeigehenden Passanten durch das Kellerfenster. Maerlin schloss den MK II an, legte die Druqks von Aphex Twin unter den Arm des Plattenspielers, die schwarzen Spuren kreisten unter der Nadel, und er beschloss, sich ausnahmsweise mal ein paar weiße Spuren zu gönnen, vom privaten Vorrat. Zur Feier des Tages oder für den Kontrast. Schnelle Blutverteilung lancieren, bon appetite.

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"Muss ich jetzt sterben?" Tin konnte den Kopf nicht bewegen, die Kraft fehlte, aber indem er die Augen so weit wie möglich verdrehte, konnte er dem Sanitäter in die Augen sehen. Die sprachen von Mitleid und Abscheu. Des Sanitäters Mund aber blieb stumm, bis er eine Weile erfolglos an Tins Venen in der Armbeuge herumgefingert hatte, dann sagte er, das könnten sie vergessen, die seien alle zerschossen, hier könnten sie die Infusion nicht legen.

/27
Tin fragte sich, warum sie immer im Kreis fuhren, mit der Sirene, aber im Kreis, sie fuhren schon das dritte Mal denselben Weg, Tin war sich ganz sicher, denn er sah sich in einem dachlosen Krankenwagen liegen, aus der Vogelperspektive, und erkannte also ganz deutlich, dass sie zum dritten Mal dieselben Straßen entlangfuhren.
Und dann wurde der Wagen zu seiner Frage und er sah diesen Satz, muss ich jetzt sterben, durch die Straßen fahren, durch einen immer kleiner werdenden Kreis oder vielleicht wuchs auch diese Frage, wurde immer größer und nahm immer mehr Raum ein, bis der erste Buchstabe an den letzten stieß und die Frage sich selbst erreichte, als wäre sie gar kein Satz, sondern Ouroboros, der Weltenwurm, das Unendliche und wolle sich selbst genügen oder fressen, wer weiß das schon.

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Tin spürte irgendwann einen kleinen Pieks in der Leiste, wo sie ihm die Infusion legten und dann etwas angenehm Kühles, das in seinen Körper floss, wenig später, höchstens ein paar Jahre darauf, wurde seine Trage angehoben und durch einen mittelmäßig schönen Tag in ein Asklepios-Krankenhaus getragen.

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Aber auch wenn sich das jetzt nicht wie Leben anfühlte, war er nicht tot. Also war die fette Frau, die in einem geblümten Arbeitskittel Zigarette rauchend durch die Tür in sein Krankenzimmer watschelte, und einen unwahrscheinlichen Sprung auf seine Brust machte, auch nicht wirklich der Teufel, sondern eher eine Halluzination.
Tin bekam kaum Luft, so schwer war das Trugbild, vielleicht auch nur belastend, er wollte sie von sich herunterschubsen, konnte aber die Arme nicht heben. Mit Mühe und Konzentration gelangen ihm Atemzüge. Die Teufelin griff nach seinem rechten Arm und umfasste den Unterarm mit der Hand, hielt seinen Arm, ein Ärmchen eher, hoch und schüttelte den Kopf. "Nur Haut und Knochen", sagte sie. "Das ist mir zu mager. Ich komm wieder, wenn an dir was dran ist."
Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und ließ Tin zurück, der sich etwas verkrampft aufs Atmen konzentrierte. Er hing stärker an dieser lebensverlängernden Gewohnheit, als er gedacht hätte. Die Illusion einer Freiheit, nichts verlieren zu können, löste sich plopp auf wie eine Seifenblase, die einen Nagel küsst.
Durch einen kleinen Spalt in der Tür luscherte der Arzt und wettete mit sich, dass dieser Klient heute nacht abnippeln würde.

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Lila hatte nur kurz aus dem Fenster geschaut, nur Lust auf einen Blick in die Welt. Dass da Rosa unterwegs war, hatte sie nicht ahnen können. Jetzt war Rosa auf dem Weg zu ihr, die Treppen kam sie hinauf, Rosa, um die musste sie sich jetzt kümmern. Den eigenen diffusen Rändern Kontur verleihen und die nebelhaften Vorstellungswelten der Sehnsucht wegpusten.
Profil und klare Ränder, um greifbar zu sein für Rosa, mal wieder stark sein, dieses Mal für eine, die eigentlich selbst stark war, Rosa, aber jetzt, diese Situation. Wenn ich nicht so oft für andere stark sein müsste, überlegte Lila, mit dem Türgriff in der Hand, und bevor der Gedanke weiterführte, öffnete sie und vor ihr stand Rosa.
Erstaunlich gefasst. "Du, danke fürs Hochrufen", sagte Rosa, "aber ich will gleich weiter, war wirklich nur zufällig in der Gegend." Lila nickte ernst und sagte, dass es schade wäre, wenn Rosa gleich wieder ginge, sie könnte einen Tee machen, wenn sie schon mal hier sei ...

Da blieb Rosa nicht viel anderes, sie kam rein, zog sich die Schuhe aus, fühlte sich bedrängt von den vier Wänden, genötigt von der Freundin, aber vorher verloren mit dem vielen Himmel und allein schon kurz vor der Hysterie (oder was war das nur gewesen). Also blieb sie. Erstmal, dachte sie. Trank Tee mit Lila, beide sahen sich an, führten ein Gespräch, das keins war, sondern nur ein Reden. Der Fluss krängte bei jedem kurzen Wortwechsel aus dem Fahrwasser, drohte auf Klippen zu stoßen, die unsichtbar wie unausgesprochen knapp unter der Oberfläche lauerten. Das Todes- oder das Liebesthema.
Wie ist das denn, wenn zwei reden, die über das Eigentliche nicht reden wollen können zu reden bereit sind. Diese Simulation von Gesprächen, zwei imitieren zwei, die miteinander reden, eher nebeneinander, dann doch besser gegeneinander, aber nein. Beide spürten die Nähe dieser rasiermesserscharfen Klippen, die ihnen die Bäuche aufschlitzen würden, wenn ihr Gespräch diese Untiefen nehmen würde. Bäuche wie Schiffsbäuche, wenn man sich das, was sie sagten, als Schiffe vorstellte, was die Metaphorik des vorhergehenden Satzes halbwegs reparierte. Nicht ein Gesprächsfluss, das sagt man nur so, da floss ja nichts. Aber so, mit reparierten Bildern, könnte das Gespräch einen ordentlichen Schiffbruch erleiden, gemeinschaftlich, beide absaufen. Doch wozu heile Metaphorik, wenn Lunge kaputt, und abgezählt die Tage, wenn sein Bild mit dem Schmelzwasser die Straßen herunter und in den nächsten Gully rinnt.
Für Ehrlichkeit oder wenigstens den Versuch noch lange kein Grund. Wir wollen doch unsere sorgfältig gepflegten Beziehungen an den Untiefen vorbeilotsen und uns die Bäuche flicken. Aus Angst, alles Gefühl fällt raus, bevor es siebenmal wiedergekäut und verdaut ist.

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Lila überredete Rosa, den Kontakt der Selbsthilfegruppe anzurufen, Menschen der letzten Tage, mit denen solle sie sich mal austauschen, das werde nicht so verkehrt sein. Rosa tippte die Nummer in ihr Mobiltelefon. Dachte einen Moment, als sie das Handy an ihr Ohr hielt, sie wäre sechzehn und wolle sich mit ihrem Schwarm zum Blackmetalhören und Rummachen treffen. Es meldete sich aber ein AB, und der sagte im Dreifrauenchor Wir sind die Menschen der letzten Tage und dass sie ihre Nummer hinterlassen solle, sie werde umgehend zurückgerufen. Die klingen nett, dachte Rosa, und lustig, wie Freundinnen, die gemeinsam in einer Fotofixkabine stecken. Sie hinterließ Namen und Telefonnummer, bat aber nicht um Rückruf.

Kreuztanz II

Selbsthilfeparty

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Maerlin bekam echt Lust auf etwas Gesellschaft, jemanden, mit dem er seine Gedanken teilen könnte, ein Impuls, so stark wie selten, der ihn auf die Straße trieb, durch die Straßen.
Unterwegs sah Maerlin einen Mann mit Dreitagebart und einer weißrosa Mütze mit Katzenohren, der seinen Blick unsicher erwiderte, als ob er mit der Art, wie er seine Individualität ausdrückte, noch nicht ganz im Reinen wäre. Vor dem Hauptbahnhof traf Maerlin noch mehr Anime-Fans, vierzig bis fünfzig Leute in fantastischen Kostümen, eine Insel Bunt, mitten in Hektik, Schmutz und Kälte.
Und irgendwo dabei Tin in einem Häschenkostüm. Der stand in der Nähe von ein paar Mädchen, die irgendwie auch bunnylike geschminkt und aufgestylt waren, und versuchte sich zugehörig zu fühlen. Den Kopf mit den langen weißen Ohren trug er unter dem Arm.

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Tin war kurz vorher bei dem Versuch gescheitert, Bier und Schokoriegel zu kaufen und danach sowas wie geflohen und am Bahnhof gelandet.
Das war so gelaufen: Tin, in einem dieser engen Büdchen, Bier und zwei Snickers in der Hand. Ihm gegenüber, hinter der Kasse, ein Verkäufer, der ihn mit einem Auge ansah, während das andere Auge an Tin vorbeistarrte.
Tins Blick wanderte zwischen dem gesunden und dem fehlgestellten Auge hin und her, er wusste nicht, welches er fixieren sollte und legte Bier und Riegel auf den Kassentresen. "Noch was?", fragte der genervte Verkäufer.
Tin schüttelte den Kopf und anstatt wegzuschauen, wechselte er den Fokus nur noch schneller zwischen beiden Augen, bis der Verkäufer sagte, er überlege, sich ich bin sehbehindert auf die Stirn zu tätowieren, dann wüssten die Leute wenigstens, wo sie hinstarren sollten. Ob das eine gute Idee sei, fragte er Tin, was er überhaupt davon halte, schließlich sei er auch einer dieser Bastarde, die jede Erziehung vermissen lassen und ihn anglotzen, als wäre er, der Verkäufer, eine Attraktion in einem Panoptikum.

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Das hatte Tin ein bisschen überfordert, er hatte sich wortlos umgedreht und war aus dem Kiosk geeilt und trieb schon ein paar Stunden durch die Straßen, bis er auf die Kostümierten traf. Zu denen hatte er sich hingezogen gefühlt, mit seiner Hasengestalt.
Aber bald musste er feststellen, dass er ihre Sprache nicht sprach, ihre Zeichen nicht kannte etc ... So bestätigte jedes Wort und jede Geste nur sein Anderssein und er hatte sich auf wortloses Abseitsstehen verlegt. Bevor er von seinem Pusher aufgegabelt wurde, hatte er gerade Mut gesammelt, um in einem anderen Kiosk sein Glück zu versuchen.

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Woher er das Häschenkostüm habe, fragte Maerlin und ob alles in Ordnung sei. Ohne Antwort abzuwarten, zog er Tin weg, durch die Straßen, bot ihm eine Zigarette an, beide rauchten, Maerlin redete, über irgendwas, dann ins Haus.
Im Hausflur trafen sie Rosa, die Maerlin erkannte und ihm zunickte - sie hängte gerade einen Zettel auf, der eine Feier ankündigte. Sie fragte Tin, ob alles in Ordnung sei. "Klar, wieso nicht?", fragte er.
Rosa dachte, dass sie am Abend eine Party mit einer Selbsthilfegruppe feiern würde, die Menschen der letzten Tage hieß, warum also sollte mit ihm irgendwas nicht in Ordnung sein, nur weil er ein Häschenkostüm trug. Er und dieser Maerlin, dachte sie, könnten doch gut in den Abend passen.
"Kommt doch vorbei", sagte sie und zeigte auf den Zettel mit der Ankündigung. Maerlin warf einen flüchtigen Blick darauf, nahm Tin an der Pfote und zog ihn in sein Kellerloch.

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Dort reichte er ihm die Platte mit einer weißen Spur, die in einer Spurrillen-Spirale dreimal das Vinyl umkreiste, und nickte Tin aufmunternd zu. Der ließ sich nicht lange bitten und kürzte die Monsterline um einiges. Bald nachdem der bittere Geschmack die Speiseröhre herunterlief, schlich sich ein unglaubliches high an, dessen erste Schritte schon in Tins Ohren dröhnten. Das kündete von einer heftigen Dröhnung, wenn sich der volle Effekt erstmal einstellte. "Woher ich das Kostüm habe?", griff Tin Maerlins Frage auf. Der nickte eifrig. "Das ist vom Himmel gefallen, hihi", sagte Tin. Maerlin nickte eifrig. "Und ob alles in Ordnung ist, hast du gefragt", stellte Tin fest. "Ich versuche die Fragen in der Reihenfolge zu beantworten, niemand soll sagen, preußische Tugenden und Werte zählen für niemanden mehr", – Maerlin nickte eifrig -, "nun, dein Scheißzeug hat mich ins Krankenhaus gebracht und ich habe vor ein paar Stunden tatsächlich gedacht, ich muss sterben, aber eine fette Frau, die vielleicht der Tod war und die auf meiner Brust saß, hat gesagt, dass sie mich nicht haben will, weil an mir nichts dran ist.
Ich bekam kaum Luft, wäre fast erstickt, die ganze Nacht lang, bis ich in den frühen Morgenstunden wieder halbwegs atmen konnte. Dann habe ich mich selbst entlassen, mit diesem nervigen Infusionsständer am Arm und diesem weißen Kittel mit kaum was drunter, der ist auch noch zum hinten zuknöpfen, weiß der Teufel wieso ... (schnelles Vorspulen >>) dann bin ich in einem Kiosk, mit diesem dämlichen Kostüm und jemand labert mich ... aber egal, jetzt, im Moment, geht es mir ganz hervorragend, danke der Nachfrage."
Maerlin nickte eifrig und sagte, dass es toll sei, wie schön sie sich unterhielten, aber nun hätten sie doch langsam alles bequatscht. Tin dürfe sich als erforscht betrachten, aber auch als eingeladen, zu einer Kokain-Flatrate und der Party von dieser Rosa.

Bei Rosa

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Sie hielten die Zigaretten zwischen spitzen Fingern. Nichtraucher eben. Aber als Todkranke wollten sie diesen Genuss mitnehmen, nichts auslassen von dem, was das Leben zu bieten hat. Torsten sprach von ritueller Begleitung der Todkranken, indem man das gleiche tue, was sie in diese missliche Lage gebracht habe. "Wir bejahen deine Verneinung und nehmen dich mit ihr an!", sagte er. Rosa sah auf ihre glimmende Zigarette und fragte, ob er meine, Rauchen habe etwas mit Lungenkrebs zu tun. Oben ohne hustete bei diesem Satz, aber sie hustete allgemein ganz fürchterlich, nach der dritten Zigarette wurde es erst besser. Torsten hatte einen Schluckauf, jedesmal, wenn er an der Zigarette zog.

Darmkrebs erinnerte sich an ihre letzte Zigarette, die sie vor fünf Jahren ausgedrückt hatte, vor allem der Gesundheit wegen, aber die sei eh im Arsch, was sollte es also. Rauchen habe auch einiges zu bieten, das würde in dem Anti-Raucher-Palaver sträflich vernachlässigt, die strukturgebende und soziale Komponente dieser Angewohnheit. Der Stil. Torsten hatte immer noch Schluckauf, wirkte auch etwas blässlich, man sah, wie schwer ihm das Rauchen fiel. Stil, dachte Rosa, na ja.

Maerlin sah die Gruppenmitglieder nacheinander an und flüsterte grummelte sagte zu niemand besonderem "Menschen der letzten Tage ... faszinierende Exemplare" und schüttelte den Kopf, wie einer, der sein Glück nicht fassen kann. Vielleicht wie ein Insektenforscher, der prächtig bunte Käfer gefangen hatte und jetzt überlegte, wie er sie am besten präparieren und katalogisieren könnte. "Seit wann rauchst du, lieber Maerlin?", fragte Darmkrebs, die mit der Aufzählung der Vorteile des Rauchens anscheinend nicht weiterkam.
Maerlin musste sich erstmal sammeln, er hatte das Wort lieb schon länger nicht mehr in Verbindung mit seinem Namen gehört. "Seit ich vierzehn bin", sagte er dann. "Seitdem keinen Tag nicht geraucht. Auch wenn es mir schlecht ging, wenn ich beispielsweise krank war, ich habe jeden Tag geraucht."

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Tin ging durch den Flur zu den Resten des Buffets in die menschenleere Küche, aß aber nichts, ging zurück und stand vor dem Zimmer von Rosas Mitbewohner. An dessen Tür stand Nicht stören! Aus dem Wohnzimmer hörte er an- und abschwellendes Gerede und -lächter. Tin drückte den Türgriff herunter, zu seiner eigenen Überraschung.

Da saß jemand mit dem Rücken zu Tin am Schreibtisch vor einem kleinen Notebook und tippte. Tin räusperte sich, keine Reaktion. Klopfte noch einmal von innen, klopfte lauter, klopfte Rhythmus, keine Reaktion. Unheimlich. Tin fühlte sich wie in einem dieser alten Horrorfilme, wo jemand mit dem Rücken zur Kamera und zum Protagonisten steht und man genau weiß, das wird der Schockmoment, da verbirgt sich wer Böses, oder etwas, und dazu das unablässige Tastentippen, das hatte schon was Besessenes, Furchteinflößendes. Tin hörte aber auch die leisen Hintergrundgeräusche der Normalität, die Party, das vertrieb diese Geisterfilmassoziationen, er ging einen Schritt auf den am Schreibtisch Sitzenden zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte "Hey, wie gehts?"
Der Angesprochene drehte sich wie von der Tarantel gestochen um und sah Tin aus weit aufgerissenen Augen an und keuchte, dass Tinker gerade versucht habe, sich umzubringen, aus dem Fenster sei sie gesprungen, aus dem fünften Stock, sie habe den Bürgersteig verfehlt und sei auf ein Blumenbeet vor dem Haus gefallen, da liege sie nun, mit zerschmetterten Beinen und sicherlich auch inneren Verletzungen und er wisse nicht, ob er sie noch retten könne.
Der Typ hielt Tins Arm umklammert, dessen Hand auf seiner Schulter lag und schüttelte den Kopf und sagte leise "Tinker" und drehte sich dann wieder zum Bildschirm, ohne weiter auf Tin zu achten und begann wieder zu tippen. "Ich schreib erstmal anderswo weiter", sagte der Typ. "Das mit Tinker muss sacken sickern sich setzen."
Tin spürte durch das dünne weiße Hemd mit dem steifen Kragen hindurch die Wärme der Haut des Typen, aber keine verräterische Hitze, und Tin ging eilte ließ den Mann allein. Kurz bevor er die Tür hinter sich schloss, sie war nur noch einen kleinen Spalt offen, fragte der Typ, ob Tin wisse, dass er ein Hasenkostüm trage. Tin bejahte. Dann sei ja alles okay, sagte der Typ, sonst hätte er ihn darauf aufmerksam gemacht, manchmal gucke man ja nicht so genau hin, was man anziehe. Er selbst sei dann immer dankbar für Hinweise, wenn er die Hose vergessen habe oder so. Währenddessen tippte der Typ weiter, Tin sah ihn noch einmal über die Schulter an, überlegte, ob der jetzt einfach vorlas, was er schrieb oder mit ihm sprach, als ob das dies Wissen für irgendwas wichtig wäre.

/39
"Ich finde total toll, dass du den Mut aufgebracht hast, dich bei uns zu melden", sagte Oben ohne.
"Und ich freue mich sehr, dass ihr gekommen seid", antwortete Rosa.
"Wie lange weißt du es denn schon?"
"Es?", nachfragte Rosa.
"Na, das Sterbenmüssen."
"Seit gestern erst. Aber das hat mich total umgehauen."
"Kann ich verstehen. Das erste Mal ist am schwersten."
"Erstes Mal?", fragte Rosa.
"Kleiner Scherz", kicherte Oben ohne.
"Ob das so scherzhaft gemeint war, na? Naaaa?", Darmkrebs wackelte mahnend mit dem Zeigefinger. "Oben ohne hat vielleicht ein paar Bücher zu viel über Wiedergeburt und Reinkarnation gelesen? Kann sein, oder? Kann es sein, dass Oben ohne zu viel darüber gelesen hat, na? Naaaaa?"
Oben ohne verschränkte die Arme. "Darüber diskutiere ich mit dir bestimmt nicht! Du bist doch die mit den seltsamen Interessen."
"Na, na. Das ist schon was anderes", sagte sie. "Die Symmetrie der Natur-Devas spricht uns ganz direkt an, da gibt es Kanäle im Menschen, die sind offen dafür. Die geben jedem genau das, was ihm fehlt. Dieser Wiedergeburtgedanke aber ist gefährlich, der bringt dich dazu, den Blick vom Tod abzuwenden, und dir etwas vorzumachen. Dann wirst du deine letzte Reise unvorbereitet antreten. Das ist wie auf seiner Hochzeit keine Hose anhaben und dass ich dazu nichts sagen soll, ist, als wünschtest du, ich würde tun, als sähe ich es nicht."
"Aber meine Damen!", mischte sich eine Frau ein, die Rosa bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Irgendwer musste sie reingelassen haben. "Jedem Tierchen sein Plaisierchen! ... Ich bin übrigens die Kristallfrau", stellte sie sich vor und reichte Rosa eine Hand.
"Kristallfrau?", fragte Rosa, ratlos wie ein Fußballer beim Elfer, dem ein Federball auf den Elfmeterpunkt gelegt wurde, und griff nach der Hand. Warm und trocken, angenehm fester Druck.
"Ich habe den ganzen Laden", sie machte eine Bewegung, die alles in Rosas Wohnzimmer umfasste, "einst ins Leben gerufen", Rosa machte eine Geste der Verständnislosigkeit, "die Menschen der letzten Tage", verdeutlichte die Kristallfrau.
"Dann können sie mir vielleicht sagen", mischte sich Lila ein, "was zum Henker diese ganze Show soll? Zuerst fand ich die Idee ja ganz nett, so ein kleines Kennenlerntreffen und bisschen feiern, nicht so jammerige Therapiesitzungen abzuhalten, aber irgendwie habt ihr alle kräftig einen an der Waffel, oder? Gibt es irgendein Konzept, das über seltsame Rituale und absurde Gespräche hinausgeht oder ist diese ganze Therapienummer nur ein Trick, um den Inhalt fremder Kühlschränke mit dem Wein anderer Leute runterzuspülen?"
"Wer ist diese Person?", fragte Kristallfrau.
"Eine Freundin", sagte Rosa, "... und, kannst du ihre Frage beantworten?"
Kristallfrau kriegte einen spitzen Mund und reckte ihr Kinn ein paar Zentimeter, als sie antwortete,
war ihre Stimme aber butterweich. "Also, das Ganze machen wir, um für positive Schwingungen zu sorgen, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Orbs wohlfühlen, wohin sie gern kommen. Nicht zum Selbstzweck."
Lila schwenkte ihr Glas. "Orbs?", fragte sie.

"Ja, Orbs!", rief Torsten. "Orbs, die helfen und sind gut für euch! Deswegen bin ich auch hier, ich bin gar kein Todkranker!", rief er. "Ich fotografiere Auren und Orbs! Man kann ja heutzutage von seinem erlernten Beruf nicht mehr leben!" Er holte eine stinknormal aussehende Digitalkamera aus seiner Hosentasche und knipste Rosa mehrmals. "Die sagen dir, was wir machen können, um dein Schicksal zu wenden! Kristallfrau deutet dann die Zeichen! Ich zeig dir das mal! Ich bau mal meinen Computer auf!", sagte sang intonierte er.

Sie sahen zu, wie er die Bilder von der Digi-Cam rüberschaffte und durch ein Programm laufen ließ, das checkOrb hieß. "Hier, hier und hier", sagte er, ohne die an Hysterie grenzende Euphorie, "diese Flecken auf den Digitalfotos kennt ja jeder", sagte er, "was aber kaum jemand weiß, das sind Signale von Wesen höherer Ebenen, von Engeln, Erzengeln und Meistergeschöpfen, von Lichtwesen und noch weiter transzendierten Entitäten, von denen wir weder Namen noch Gestalt kennen. Und die beobachten uns, es gibt für jeden von uns hier unten ein Wesen da oben, dem unser Schicksal am Herzen liegt. Und das sich kümmert, und gerade in solchen kritischen Situationen", sagte er, "wie einer schweren Krankheit oder dem Verlust eines geliebten Menschen oder wenn einer den Kontakt zu seinem astralen Führer zu verlieren droht, dann wollen die uns helfen. Aber wegen des Unterschieds zwischen unseren Dimensionen können die nicht einfach auftauchen, mit den Fingern schnippsen und sagen, das und das musst du machen. Die können sich nur mittelbar verständlich machen!" Beim letzten Satz stand er auf, schnippste mit den Fingern und sagte "Aber wir haben einen Weg gefunden, die Flecken zu übersetzen!"

/40
Rosa war wenigstens neugierig geworden – was würden Erzengel und Lichtgeister raten? Oben ohne fand das ganz aufregend, wie immer, wenn die Kristallfrau das erste Mal im Leben eines anderen herumluscherte und -stocherte. Sie zündete eine an, die schmeckten immer besser, guckte ob einer guckte, nahm sich das Zigarettenpäckchen vom Tisch und steckte es in ihre Arschtasche. Lila fragte sich, ob das, was sie eben gehört hatte, wirklich gesagt worden war.
Das toppte ja jedes Klischee. Der Typ hatte komplett Amok geredet. Kriegten die so ihre Kunden, war das so ein Identifikationsding? Der eine weiß nicht, wovon er redet, ist davon aber voll überzeugt und der andere geht voll drauf ab, weil der versteht ohnehin nicht, wovon die Leute reden. Aber hier sagt jemand ein paar Sachen, die ein irgendwie gutes Gefühl von Hoffnung machen.

Maerlin unterhielt sich mit Darmkrebs, aus irgendeinem Grund waren sie auf Jugendsünden gekommen. Genau sein Thema, er musste einfach die Wahrheit sagen, die glaubte eh keiner. Jetzt erzählte Maerlin, wie er in einem aus dem II.WK-Museum geklauten Sherman-Panzer eine Kleingartenanlage niedergewalzt hatte, "weil der Obermacker oder Verwalter, das Arschloch, das da aufpasst, der Gartenzwergkönig, verstehst? Weil der meinen Hund vergiftet hat."
"Das ist ja furchtbar!", sagte Darmkrebs, gut trainierte Tränendrüsen nässten ihre Augen. "Das finde ich aber schön, dass du dir das nicht einfach so hast gefallen lassen. Du musst deinen Hund sehr geliebt haben."
"Es war mein Hund. Wenn einer meinen Hund vergiftet, dann ich."
Darmkrebs beendete die Tränenproduktion und saugte sich eine Geschichte aus den Fingern, in der sie einen Fuchs fing und in den Hühnerstall des Nachbarn sperrte, weil der ihre Katzen immer fütterte, obwohl sie sich das verbeten hätte. Maerlin nickte ernst und eifrig, fragte ein paar Details nach und heftete Darmkrebs unter mittelmäßige Lügnerin ab.
"... und das hier, das ist das Zeichen des Krebses!", rief Kristallfrau und zog Maerlins Aufmerksamkeit auf sich. "Da und da und da, seht ihr?", fragte sie. "Der Fleck bezeichnet den Ort, der den Weg und der das Ziel!" Maerlin beugte sich näher zum Notebook. Den Bildschirm füllte ein Foto mit einer schlecht getroffenen Rosa, halb geschlossene Lider, Anflug eines verlegenen Grinsens, drumherum verschiedenfarbige Flecken, auf die Kristallfrau zeigte. "Der Eingang zu dem Reich des Todes, das sich Rosas Reich des Lebens einverleiben will, liegt hier, in diesem Haus, im Keller! Da ist vor kurzem jemand gestorben, das ist der Übergang in das Reich des Krebses. Den müssen wir killen, dann wird Rosa leben!"
"Also", näherte sich Lila, "mal zum Mitschreiben, für weniger astral begabte: Das Ziel ist der böse Krebs, der irgendwo – in was überhaupt, einer Art Unterwelt? - haust und gleichzeitig Rosa von innen auffrisst. Der Ort, das ist dieses Haus, der Keller, logischerweise der Eingang zur Unterwelt, so ein Keller ist ja schon mal unter der Oberfläche. Und der Weg ist dann ...?"
"Na, das dazwischen!", triumphierte Kristallfrau.
"Sag mal, Maerlin, ich hab dich doch vorhin in den Keller gehen sehen", sagte Rosa. "Hast du da einen Eingang zur Unterwelt, ein Höllenportal oder wie man das nennt?"
"Ja, so ein Zufall, ich habe hinter einem muffigen Wandteppich eine Tür gefunden, auf der steht Eingang zum Reich der Riesenkrebse. Kann schon sein, das dahinter eine Unterwelt liegt, man weiß ja erst, was hinter einer Tür liegt, wenn man sie aufmacht. Haha." Niemand lachte. "Ich mach uns mal ein paar Drinks, zur Stärkung vor dem langen Marsch", sagte Maerlin grinsend.

"Wir suchen und zerstören die Riesenkrebse!", rief Darmkrebs und Torsten: "Ich habe hier so zufällig ein Arsenal verschiedener Feuerwaffen in meiner Reisetasche gefunden! Das wusste ich gar nicht mehr, dass ich die dabei habe! Ich muss vergessen haben, die auszupacken!."
Oben ohne und Kristallfrau riefen "Wuuhuuu" und klatschten auf Überkopfhöhe ab. "Wir retten Rosa vor der Tyrannei böser Krebse!"

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Lila schüttelte den Kopf und sagte, dass das alles Bullshit sei, man möge ihr diesen Ausdruck verzeihen, aber sie habe noch nie, nicht ein einziges Mal in ihrem Leben, so einen Riesenhaufen Schwachsinn auf einem Haufen gehört, sie wisse nicht, aus welcher Anstalt die angebliche Selbsthilfegruppe ausgebrochen sei, werde aber gleich mal die Medien durchforsten, irgendwo liege bestimmt die Nachtschicht einer geschlossenen Psychiatrie gefesselt und geknebelt in der Besenkammer übereinandergestapelt, während sich die einstigen Insassen anscheinend vorgenommen hätten, so lange auf die Pauke zu hauen, bis die Trommelfelle der Normalität platzten.

Oben ohne fingerte eine Zigarette aus der plattgedrückten Schachtel, zündete sie an und starrte mit glühendem Blick auf die glühende Spitze. "Das!", sagte sie, "ist eine Frechheit. Ich muss mir sowas nicht anhören. Wenn ich nicht erwünscht bin, gehe ich!"
"Bitte nicht aufregen, meine Damen", sagte Kristallfrau, "das ist doch eine gesunde Skepsis, die Frau Lila an den Tag legt. Wir sollten aber versuchen, darüber zu reden, ohne den anderen gleich zu verurteilen oder einfach wegzulaufen."
Maerlin ging mit Tin in die Küche. Sie machten ein paar dieser hübschen Cocktails, so mit orangener Farbe und Fruchstück am Glasrand. Maerlin rieselte in jedes Glas eine Prise Privatvorrat. Die Kokainmarke für den Mann von Welt, wie er in einem Anflug von Irgendwas dachte. Noch Strohhalme rein, damit nicht die Hälfte des Pulvers als Bodensatz im Glas zurückbleibt. Sie brachten die Cocktails auf zwei Tabletts ins Wohnzimmer, mitten in das Gespräch, das eher eine heftige Diskussion auf dem Weg zum offenen Schlagabtausch war.
Lilas Einwände waren fundamental und feurig, die Kristallfrau hielt mit Engelsgeduld und einem teuflischem Sortiment sachlicher Argumente dagegen, die immer ein bisschen neben der Spur schienen, aber nie so weit, dass man sie zu fassen kriegte. Maerlin spitzte die Ohren, klassifizierte die Kristallfrau als Exemplar der Gattung Küchenpsychologin, moderatives Wesen, und beobachtete, wie sie sich in dieser Ausnahmesituation verhielt. Da zeigten sich die Menschen ja erst, das ganze Geplänkel, drauf geschissen, das bewies gar nichts.
"Coktails für alle!", sagte Maerlin und grinste von einem Ohr zum anderen. Für einen Moment kehrte Ruhe ein, jeder nahm sich seinen Drink, auch Lila, sie war eigentlich überhaupt nicht in Stimmung, aber so als einzige nichts trinken wollte sie auch nicht, und eigentlich nur nippen, um nicht als Trotzkopf dazustehen, aber das schmeckte gut, so richtig nach frischer Orange und gar nicht nach Alkohol, deswegen trank sie doch mehr, aber nicht mehr, als drin war.

/42
"Wir brauchen einen Anführer, wenn wir in das Reich der Riesenkrebse vordringen!", rief Torsten. "Das kann ich machen! Ich bin Sportler! Ich bin voll stark und habe tolle Reflexe und kann so Sachen wie das hier," er ging in die Hocke und hüpfte und federte zurück in die Hocke und wieder hüpfte wieder, wobei er die Arme ausstreckte, als wolle er etwas von einem Baum pflücken. "Und Krebsgang!" Er drehte sich auf den Rücken und krebste vor der gemischten Gesellschaft auf und ab. "Falls man da mal undercover unterwegs sein muss! Das kann ich dann auch machen!" "Aber auch ... Moment ...", er ging in Liegestützposition, machte drei normale, hielt die linke Hand dann hinter den Rücken und versuchte zwei Einhändige, aber da hatte er sich zu viel vorgenommen. Torsten bekam Schlagseite und kippte beim zweiten Versuch um.
Maerlin war mit ein paar schnellen Schritten bei ihm, fasste ihn unter den Arm und half ihm auf. "Klar, kannst Anführer sein", sagte er und zwinkerte ihm zu, "Und, Torsten, eins muss ich dir noch sagen: Du hast wirklich schöne Arme." Torsten sah auf einmal viel weniger nach Ausrufungszeichen aus, machte sich hektisch los, wischte Maerlins Hand von seinem Arm, als wäre sie eine fünfgliedrige Giftspinne und flüchtete zu Notebook und Reisetasche.
"Kristallfrau und Rosa?", fragte Maerlin. "Torsten kann doch Anführer sein, oder habt ihr was dagegen?"
Die beiden machten vage Gesten, die in Schulterzucken und Kopfwiegen mündeten. "Joar", sagte die Kristallfrau und hielt sich an Rosas Schulter fest. "Von mir aus, das fühlt sich richtig an, ich bin gerade so besonders beseelt, das muss ein Zeichen höherer Mächte sein, die sind mit der Entscheidung, Torsten zum Anführer zu machen, einverstanden."
Maerlin nickte, so beseelt, das war mal eine hübsche Formulierung für voll auf Sendung. Mit etwas Glück gibt die heute noch Funksignale von ganz oben durch, dachte er. Das ist wie mit den Mönchen im Mittelalter, erst ins Weinfass fallen, dann bisschen heilige Schrift machen. "Entschuldigung", sagte Rosa, "ich möchte nicht zu neugierig erscheinen, aber darf ich die Handfeuerwaffen mal sehen?"
"Natürlich, natürlich!" Torsten schien sich von dem Kontakt mit Maerlin erholt zu haben. Er griff in seine Reisetasche und legte mehrere kleinkalibrige Pistolen auf den Boden, zwei Maschinenpistolen und ein Gewehr mit Zielfernrohr. "Das ist ja praktisch, dass ich die nicht ausgepackt habe!", freute er sich. "Und ich habe mich schon die ganze Zeit gewundert, was ich mit mir rumschleppe und warum die Tasche so schwer ist!" Er schlug sich gegen die Stirn. "Ich bin ja so ein Dussel manchmal. Das sind die Waffen vom letzten Einsatz gegen die Riesensalamander! Natürlich." Er wühlte noch ein bisschen in der Reisetasche und förderte zwei Kosmetiktuben zu Tage. Eine braune und eine dunkelgrüne, "für Tarnflecken und -striche", klärte er auf.
Sie bemalten gegenseitig ihre Gesichter, tauschten sich über ihr seltsames Körperempfinden aus und dass das ein Zeichen sei, eine höhere Macht heiße die Aktion gut. Dann suchte jeder eine Handfeuerwaffe aus, Torsten nahm das Gewehr, weil er Anführer war. Und funkelte Maerlin warnend an, der winkte.
Dann polterten sie die Treppe hinunter, es war tierisch laut, wie das eben bei einer Abendgesellschaft ist, die mit Feuerwaffen und auf Kokain unterwegs ist, um Riesenkrebse zu jagen, kennt man ja. Aber niemand beschwerte sich. Rosa befürchtete zwischendurch schon, dass gleich einer der Alten seinen alten Schädel aus einer Tür schieben und sich beschweren würde, und legte vorsichtshalber schonmal eine Entschuldigung zurecht. Aber nichts dergleichen, sie kamen unbehelligt bis zum Keller, gingen in Maerlins Wohnung und standen dort herum, im Raum verteilt, zwischen unausgepackten Umzugskisten und dem Sessel, der in der Mitte des Raumes neben dem Plattenspieler stand, verteilten sich alle und standen so rum, erwartungsvoll Maerlin ansehend.
"Wo ist denn jetzt der Eingang zum Reich der Riesenkrebse?", fragte Torsten, er wirkte irgendwie hibbelig, spielte auch so komisch mit dem Gewehr rum. Maerlin lachte, "Ja, weiß auch nicht. Vorhin war er noch da." Er zeigte auf eine leere Wand, die wahrscheinlich einst weiß war. "Ich denke, da hing ein Wandteppich", sagte die Kristallfrau. "Aber die Wand ist gleichmäßig ... gelbgrau. Da hing im Leben kein Wandteppich."
"Hm", sagte Maerlin, "vielleicht die andere Wand?" Er suchte die Wände ab, eine nach der anderen, aber da hatte nirgendwo ein Wandteppich gehangen. "Okay, okay, ich habe geflunkert", sagte er, "es gibt hier keinen Eingang zum Reich der Riesenkrebse. Aber das kann ja wohl auch niemanden überraschen, ich mein, wie bescheuert und verdorben durch die Popkultur kann man eigentlich sein, um jetzt ernsthaft zu erwarten, dass vier bis sieben Leute mit Knarren gegen ominöse Riesenkrebse in die Schlacht ziehen."
"Warum hast du das getan?", schluchzte Oben ohne. "Das ist Rosas letzte Hoffnung, die du hier mit Füßen trittst, was bist du nur für ein Unmensch, was hast du nur davon?"
Maerlin setzte sich in seinen Sessel, legte die Druqks wieder auf, einen richtig kranken Track, zündete sich eine an und guckte aus dem Fenster, also eher auf ein Stück Glas mit Dunkelheit dahinter. Maerlin erschien es in dem Moment wie das vollkommene Schwarz. "Ich fand die Idee interessant: Ein paar Menschen (Superspinner), die so beseelt (voll auf Sendung) und bewehrt (richtige Knarren, Alter!) sind und ein gemeinsames Ziel (Riesenkrebse jagen, ja, genau) verfolgen, in einem Kellerloch (umgeben von Erde und Stein, wir erinnern uns) stranden zu lassen, auf einmal ist das Ziel flöten, aber die Extraportion Seele noch da und eigentlich sind wir uns fast alle fremd, aber dafür ist jeder bewaffnet - und was jetzt passiert", sagte Maerlin und paffte ein paar Rauchkrebse, "ist doch das eigentlich spannende an diesem Abend."

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Kristallfrau sah ihn an, mit einem Blick, überirdisch, als würde sie das erste Mal an diesem Abend etwas wirklich sehen. Mit vollem Durch-, also Röntgenblick, direkt in Maerlins schwarzes Herz oder in den für Blutverteilung zuständigen Pumpmuskel. Maerlin registrierte ihren Blick und sah zu Boden, zog ein paar Mal an der Zigarette, hob die Diamantnadel des Plattenspielers und setzte sie ein paar Rillen weiter. Jetzt lief ein ruhigeres Lied, Klänge, die an Tiefsee denken ließen und vielleicht an einen Pottwal, der auf dem Weg zu den Riesenkalmaren tief und tiefer taucht, durch Blau und Dunkelblau ins Schwarz. Der Beute macht und wieder aufsteigt, den langen Weg zur Oberfläche, dann der Blas, wie eine Freudenfontäne.
Kristallfrau ging zu der Wand, auf die Maerlin zuerst gezeigt hatte und lehnte sich flach dagegen, legte ein Ohr an die Tapete, klopfte sie mit den Fingerknöcheln der rechten Hand ab und nickte bedächtig mit dem Kopf. "Hinter dieser Wand befindet sich ein astraler Hohlraum", verkündete sie. "Maerlin hatte Recht."
Sie schob zwei Kisten aus dem Weg, stellte sich in eine Position, die entfernt an den Kranich des Yoga erinnerte, breitete die Arme aus und sang. "Geisterwesen, euch zum Gruße/ seid uns Besen, vergesst die Muße/ fegt den schnöden Stein/ hinfort von diesem Kellerort/
Und jetzt alle!", rief sie und begann ekstatisch von einem Bein aufs andere zu hüpfen. Wie ein Kranich mit problematischem Koffeinkonsum und leichtem Entscheidungsproblem. Die Menschen der letzten Tage und der Aurenfotograf stimmten in den Refrain ein. "Hört die Menschen der letzten Tage!/ Darmkrebs, Torsten, Oben ohne/ Wir sind gläubig, keine Frage/ Bezweifeln nix, nicht die Bohne." Kristallfrau holte eine Handvoll Zauberpulver aus ihrer Jackentasche und warf den leuchtenden Staub gegen die Wand. Etwas mehr als mannsbreit und -hoch zeichneten sich rot schimmernde Umrisse ab. "Diesen Stein sollt ihr forttragen/ Wir wolln Riesenkrebse jagen/ Eure irdischen Patenkinder/ Killen krasse Menschenschinder." Dann wieder der Refrain, also siehe oben.

Danach trugen himmlische Hände oder wie man so was nennt, die Mauer im rot markierten Umriss ab. Dahinter war eine Treppe zu sehen, die erstaunlicherweise nach oben führte. Kristallfrau machte sich gerade. Man sah richtig den Ruck durch sie gehen, als hätte der große Marionettenspieler einmal die Fäden ordentlich angezogen. Das war ihr Auftritt. Sie entsicherte die Knarre, machte den anderen Menschen der letzten Tage, Darmkrebs und Oben ohne, Torsten, dem Aurafotograf, Lila und Rosa, und Maerlin und Tin, ein Zeichen, ihr zu folgen. Wie wenn jemandem mit der Hand bedeutet, dass er einem folgen möge, nur eben mit Knarre anstelle der Hand, muss man sich vorstellen. "Das gibts doch gar nicht!", sagte Lila. "Warum fehlt denn da ein Stück Wand und warum ist dahinter eine Treppe und ..."
"Wenn es das nicht gibt", sagte Rosa, "kann ja auch nichts passieren, wenn wir gehen."
Tin zeigte mit der Pfote aufgeregt auf den Durchschlupf oder das Dimensionsportal. "hrmpf hrrhrhrmmpfpff, HMMPRFRR, hrrhrmpfhrhrmpfhrhrmpf!", kam aus dem Hasenkopf. Niemand kümmerte sich darum. Kristallfrau ging voraus, die anderen hinterher, folgten ihr wie Gössel der Gans, nacheinander verschwanden sie durch das Portal. Die Treppe hinauf, in die Unterwelt.

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"hrmpf, hrmpfpf, hrhrhrmpf! HRMPF!", sagte Tin. Maerlin nahm ihm den Hasenkopf vom Kopf.
"Du, dich versteht niemand, wenn du in diesem Kopf redest. Das musst du doch merken, wenn niemand reagiert."
Tin ließ den Kopf hängen, verschwitzte Strähnen hingen in seine Stirn. "Aber da kann man nicht durchgehen", sagte er, "das ist wie das Tor zur Welt oder eins zu höheren Bewusstseinsebenen, sowas lässt sich nur symbolisch verstehen, da kann man eigentlich gar nicht durchgehen. Das wollte ich denen nur sagen."
Maerlin nickte. "Schlaues Kerlchen", sagte er, "ich stimme dir auch voll zu, aber die sind mittlerweile alle weg. Wahrscheinlich wussten die nicht, dass man da nicht durchgehen kann."
"Ich hätte merken müssen, dass ich meinen Hasenkopf aufgesetzt hatte und mich niemand verstehen konnte", sagte Tin und schüttelte den Kopf.
"Na, na", sagte Maerlin, "jetzt sei mal nicht so streng mit dir! Weißt du", sagte er, "das sind Menschen, die machen alle, was sie wollen. Und was sie wollen, das wissen sie nicht. Dafür musst du dich nicht verantwortlich fühlen. Setz dich mal einen Augenblick", sagte Maerlin und schubste Tin Richtung Sessel, drückte ihn aufs Polster und legte eine andere AFX Twin Platte auf, die Selected Ambient Works.
Maerlin zündete eine Zigarette an und sagte "Weißt du, Tin, mit den Menschen ist das so eine Sache. Du bist jetzt traurig, weil du ihnen nicht helfen konntest, weil dir dieser dumme kleine Fehler unterlaufen ist, dass du nicht bemerkt hast, dass du deinen Hasenkopf noch trägst, aber das, mein schmaler Freund und Drogenabnehmer, kann jedem passieren und außerdem denke ich, dass selbst wenn sie dich verstanden hätten, sie möglichweise, wahrscheinlich sogar, trotzdem durch dieses Tor gegangen wären ..."
"Ja stimmt!", unterbrach Tin.
"Na, na", sagte Maerlin, "jetzt rede ich", er mölte aus einer Umzugskiste Zettelblock und Stift raus und warf beides auf Tins Schoß. "Wenns wirklich wichtig ist, notiers! Besser wäre es aber, einfach nur zuzuhören."
Tin nickte.
"Wo war ich stehengeblieben?", fragte sich Maerlin, "Ah ja, bei diesen drei Auslassungspunkten. Stimmt. ... Also du kannst Menschen in verschiedene Kategorien einteilen: Stell dir einfach vor, es gibt eine riesige Kommode, und in dieser Kommode ist eine fast genauso riesige Schublade, und in dieser Schublade steckt jeder Menschentyp, vom Massenindividualist über den Scheiterer bis zum Ohrenzeugen, und alles dazwischen natürlich, was nichts anderes bedeutet, als dass jeder andere auch in dieser Schublade steckt; und um diese ganzen verschiedenen Menschentypen perfekt manipulieren und für deine Zwecke nutzen zu können, das können durchaus auch altruistische oder sonstwie scheißfreundliche Motive sein, vor denen ich mich natürlich verwahre, man hat ja als so genannter Sogenannter einen Ruf zu bewahren; dieses Imageding macht ja vor auch vor dem letzten Dreckloch nicht halt, man hat auf dieser gottverlassenen Erde ja nirgendwo mehr Ruhe, auch in den letzten Drecklöchern wollen manche Stars und Sternchen sein, wobei die natürlich nur die Hässlichkeit ausleuchten, die aber viel hübscher von Schatten betont wird, aber es ist ja überall, als verstünden die Menschen nichts von irgendwas; du verstehst ..." Maerlin überlegte, ob das letzte Semikolon nötig gewesen war. "... entschuldige meine kurze Abschweifung", hob er an, "also du musst wissen, dass die eben durch den magischen Durchschlupf gegangenen Exemplare deiner eigenen Art alle in völlig verschiedenen Einzelkategorien zu klassifizieren sind. Da gibt es Ähnlichkeiten und Verwandschaften, aber nichts, worauf du den Finger legen kannst und sagen DA!, der ist so und so und deswegen muss ich jetzt das und das machen, damit der auf diese oder jene Art und Weise reagiert;" Maerlin überlegte einen Moment, "das ist ein Problem", gab er zu, "man muss sich diesem Thema von der anderen Seite nähern: Du musst dich mit dem Werkstoff vertraut machen, aus welchem Holz ist die Kommode geschnitzt, in der die Schublade steckt, in der alle drin sind, das ist ein wichtiger Punkt, ja, die Idee ist gar nicht schlecht, gut sogar, möglicherweise ist es eine ausgezeichnete Idee, du tätest gut daran", sagte er, "diesen Punkt, dass man die Holzart der Kommode bestimmen sollte, aufzuschreiben." Tin machte einen Stichpunkt. "Das muss man natürlich im übertragenen Sinn sehen, da wird von dir auch etwas Transferleistung verlangt, das ist nicht immer unbedingt einfach, in diesem Falle sogar einigermaßen kniffelig, das will ich zugeben; wenn es dir nicht gelingt, sei nicht traurig, befindest du dich in quantitativ guter Gesellschaft, das gelingt den meisten nicht, nur um das nochmal zu verdeutlichen, da ich dich schon im Verdacht habe, das nicht leisten zu können, will ich nochmal sagen, dass du mit diesem Schicksal, so nenne ich es mal, nicht alleine bist, ganz im Gegenteil, wenn du es könntest oder sogar gut könntest, stündest du mit wesentlich kleinerer Gesellschaft zusammen - dafür sind die in der Regel besser angezogen, aber das ist nur wieder eine kleine Abschweifung, beachte das gar nicht. Wo war ich stehengeblieben, ähem, Moment ..." Maerlin setzte sich auf eine Umzugskiste, lehnte den Ellbogen auf das Knie und das Kinn auf die geballe Faust und schloss die Augen. Ungefähr fünf Minuten später fragte Tin, ob da jetzt noch was nachkomme oder ob Maerlin wenigstens sagen könne, wie lange die Pause dauere, er würde sich sonst gern was zu trinken holen. Sein Mund sei etwas trocken und er spiele ehrlich gesagt auch mit dem Gedanken, den anderen zu folgen. Dazu habe auch Maerlins Rede beigetragen, die sei ungeheuer motivierend gewesen und erkläre vieles, das Tin bisher nicht ganz verstanden habe.
Maerlin öffnete ein Auge, das linke, und sah, sozusagen, Tins letzten Satz in seinem Arbeitsspeicher. "Also weißt du, was ich meine?", fragte er. Tin nickte eifrig, klar wisse er, was Maerlin meine. Das habe er selbst schon gespürt, aber nicht die richtigen Worte gefunden. Maerlin schüttelte den Kopf. "Das wird ein Irrtum sein", sagte er, "Du musst mich falsch verstanden haben ... Aber vielleicht sollten wir trotzdem den anderen hinterher, sonst verpassen wir noch den besten Teil der Geschichte."

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Maerlin stand auf, nahm die Pistole aus seiner Hosentasche, drückte den Entsicherungshebel nach unten, zog den Schlitten nach hinten und ließ ihn zurückschnellen. Und ging durch das Tor, das eigentlich nicht da sein konnte. Tin watschelte hinterher.

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Die Treppe war nicht sehr leicht zu besteigen, der Höhenunterschied zwischen den einzelnen Stufen war ziemlich groß, als wäre die Treppe für Zweimeterfünfzigmenschen gebaut worden. Tin fand es mit dem Hasenkostüm schwierig, die Stufen hinaufzugehen und musste die Treppe regelrecht erklettern. Das war besonders anstrengend, weil er den Hasenkopf wieder aufgesetzt hatte, denn mit dem Kopf unter dem Arm konnte er nicht klettern. Die Treppe war etwas mehr als zehn Meter breit, schätzte Maerlin, und hatte eine glatte weiße Oberfläche. Im grob behauenen Fels am Rand der Treppe staken Fackeln, sie flackerten in einem leichten Wind und gaben diffuses Licht.
Maerlin war nach seiner Rede über die Menschen in ein entspanntes Schweigen geraten. Er überlegte, was er gesagt hatte und sah, das gut war, was er gesagt hatte. Komme was wolle, dachte er und strich mit beiläufiger Zärtlichkeit über den Stahl in seiner Hand, während er alle paar Stufen auf Tin wartete.
Nach einer halben Stunde Aufstieg sah Maerlin weit oben die letzten Stufe zwischen runden Säulen, die mannsdick in eine Höhe ragten, die von den Fackeln nicht mehr erhellt wurde.
Bis dorthin brauchten sie fast eine weitere halbe Stunde. Maerlin griff nach Tins Pfote und zog ihn mit Schwung die letzte Stufe hinauf.
Sie sahen die Treppe hinunter, deren Stufen sich irgendwo in der Tiefe verloren, Tin meinte, er verstehe jetzt, was die Kristallfrau mit beseelt gemeint habe. "Man fühlt sich irgendwie fester mit einem Ziel und erhaben, wenn man was erreicht hat. Ein gutes Gefühl, hier oben zu stehen."
"Blödsinn", sagte Maerlin, "das ist das Kokain. Ihr seid einfach keinen guten Stoff gewöhnt." Er spuckte auf die Treppe, drehte sich um und ging. Nach dem ersten Säulenpaar folgten weitere, eine lange Säulenallee auf ihrem Weg. Tin fand eigentlich nicht richtig, was Maerlin sagte, konnte aber nicht sagen warum. Er wendete das Gefühl hin und her und kam letztlich zu dem Schluss, Maerlin müsse recht haben. Wer bin ich schon, dachte er, was weiß ich.

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"Der König der Welt!", jubelte Torsten, kletterte auf den Felsen, hinter dem er sich bis eben verborgen hatte und streckte die Arme in der Pose von Siegern in die Luft. "Ich bin der König der Unterwelt! Wir haben den Tod besiegt! Das war das letzte Monstrum!", rief er. "Wir haben die Riesenkrebse erledigt!" Kristallfrau spähte vorsichtig über das Heck des ausgebrannten Autos. Keine Bewegung. Zwischen ihren verschiedenen Deckungen und dem dunklen Wasser, aus dem die Riesenkrebse gekommen waren, lagen acht oder neun tote Schalentiere. Besonders groß waren die eigentlich nicht, dachte Kristallfrau. Sie hatte einmal in einem Tiefseeaquarium Krabben gesehen, die größere Spannweiten hatten. Enttäuschend.

/47
Lila und Rosa sahen sich an. "Geht es dir besser?", fragte Lila. "Spürst du was, eine Veränderung?"
Rosa schüttelte den Kopf. "Ich bin etwas müde. Mehr nicht."
Oben ohne und Darmkrebs gingen zu den Krebsen, ihre Pistolen auf die toten Tiere gerichtet. "So sehen die Mistviecher also aus", sagte Darmkrebs und trat gegen eine Zange. Kristallfrau eilte in gebückter Haltung dazu. "Unterweltkönig!", jubelte Torsten.
"Halt mal die Klappe und komm her", schimpfte Kristallfrau. "Wir müssen überlegen, was jetzt zu tun ist." Torsten sprang vom Felsen und lief zu den anderen. "Lila?", fragte Kristallfrau. "Rosa, kommt ihr?"

/48
Jetzt fehlen nur noch Maerlin und Tin, dachte der Arzt. Er hatte die Menschen der letzten Tage und ihre Begleiter auf dem Schirm und beobachtete, wie sie sich berieten. Jetzt nichts übereilen, dachte er. Es war schwierig genug gewesen, die Selbsthilfegruppe mit den ganzen Todeskandidaten hierherzulocken, die sich mittels Besprechung, Kraftübertragung von ihren Astralführern und ähnlichem Hokuspokus erstaunlich erfolgreich gegen das von ihm diagnostizierte Ende gewehrt hatten. Placebo-Effekt, dachte er. Der Arzt hatte erst Torsten in die Selbsthilfegruppe schmuggeln müssen, allein hätten die sein Versteck nie gefunden.
Er saß im Kontrollzentrum des Superkrebs 2000, trommelte mit den Fingern auf das Metall des Steuerpults und wartete. Ohne Maerlin und Tin wäre der Erfolg nicht perfekt. Gegen den Menschenforscher hatte er eine persönliche Abneigung, Maerlins leidenschaftsloses Menschenbild machte ihn wütend. Tin war ihm in der Klinik von der Schippe gesprungen, strenggenommen waren Drogensüchtige zwar nicht sein Ressort, aber wenn man Ungeziefer platt machen kann, muss man das tun. Ich werde versuchen, Lila zu verschonen, die könnte eine gute Gefährtin für mich abgeben, dachte er, nahm eine Cola Zero aus dem kleinen Kühlschrank, öffnete sie und trank einen großen Schluck.

/49
Das Ende war absehbar. Maerlin und Tin waren den letzten beiden Säulen mit jedem Schritt nähergekommen und einer dahinterliegenden Landschaft, die fahl und matt leuchtete. Der lange Weg die Treppe hinauf und durch den immergleichen Säulengang hatte ein paar seltsame Fragen aufgeworfen. Zum Beispiel, was Maerlin in einer Umgebung tue, die es nicht geben dürfte. Oder warum er eine Pistole dabei habe, obwohl er Schusswaffen noch nie hatte leiden können. Woher Tin dieses bescheuerte Kostüm habe. Ob er sich, wenn er aus dieser Geschichte draußen wäre, umschulen lassen sollte. Eine Frau suchen, Kinder zeugen, einen Job annehmen, irgendwas anständiges, an der frischen Luft, im Garten- oder im Straßenbau vielleicht. Das wäre sicher gesund. Wie es eigentlich um sein Seelenheil stünde, schließlich waren sie hier in der Unterwelt, in welcher auch immer. Was, wenn Menschen wirklich nach dem Tod an ihren Taten gemessen werden und er für seine Sünden in die Hölle kommt.
Irgendein Ort, wo er in einem Reihenhaus leben müsste, mit einer Frau und einer Horde von Rotzbengeln und Prinzessinnen, die seine Kinder zu sein behaupteten, wo die einzige Abwechslung vom Alltagswahnsinn ein öder Job im Straßen- oder Gartenbau wäre. Wo den ganzen Tag DSDS in Endlosschleife gespielt wurde und die tumben und freundlichen Nachbarn jeden Abend zum Backgammon spielen vorbeikamen.
Scheiß Runterkommen, dachte Maerlin und suchte die Taschen nach etwas Privatvorrat ab, aber den musste er neben dem Plattenteller liegen gelassen haben.
"Du musst einfach mitsingen und -tanzen!", sagte Tin, der den Hasenkopf wieder unter dem Arm trug.
"Bitte?", fragte Maerlin.
"Wenn du DSDS hörst. Das ist das beste Mittel gegen solche Lieder. Mitsingen und -tanzen!", wiederholte Tin.
"Mir war gar nicht bewusst, dass ich laut gesprochen habe", sagte Maerlin. "Aber einfach mitmachen, das ist ja ein toller Rat. Dadurch wird der Mist auch nicht besser. Und warum folgst du den eigenen klugen Ratschlägen nicht?", fragte Maerlin. "Oder bist du dir zu fein, dich zu sozialisieren?"
"Ich treffe nie den richtigen Ton, komme aus dem Takt, vergesse den Refrain", sagte Tin. "Das war schon im Kindergarten so, da habe ich als einziger Alle meine Entchen nicht ordentlich mitsingen können, und wer nicht singen kann, der kann nicht tanzen, und wer nicht tanzen kann, der kann auch nicht leben. Dieses Alle meine Entchen-Trauma zieht sich durch mein ganzes Leben, ein Riss, der immer weiter aufklaffte und zu dieser unsäglichen Situation geführt hat: Ich, in einem Hasenkostüm, von dem ich nicht weiß, woher es kommt, versuche den schmierigen, klugscheißenden Dealer zu trösten, dessen Zeug mich vor wenigen Stunden fast ins Grab gebracht hätte."
Maerlin hatte während Tins Worten still angefangen, heiße Tränen zu weinen, und konnte nichts erwidern, weil sein Hals so eng war. Tin sah die Tränen Maerlins Gesicht herunterlaufen und klopfte ihm auf die Schultern, sagte, dass Maerlin nichts dafür könne, dass Tin nicht singen kann und Maerlins Zeug sei zwar scheiße, aber besser als das der anderen, die ihre Kügelchen auf der Straße verkauften. Außerdem habe Maerlin einen guten Musikgeschmack. Er solle bitte wieder lächeln, das stehe ihm viel besser.

/50
Dann standen sie mit einem Mal in der Höhle, beide waren so sehr mit sich beschäftigt gewesen, dass sie die Umgebungsveränderung erst bemerkten, als Kristallfrau rief. "Das wurde aber auch Zeit! Ihr habt das beste verpasst!"

"Jupp, das nehme ich als Stichwort", sagte der Arzt, leerte die Coke in einem Zug, drückte die Dose zusammen und auf ein paar Knöpfe, hielt sich an der Armatur fest, als Superkrebs 2000 während des Aufsteigens in Ungleichgewicht geriet, weil sich erst die rechten und dann die linken Beine ausfuhren.

"Das beste kommt erst noch!", donnerte es aus versteckten Lautsprechern durch die Höhle, als der glänzende Metallrücken von Superkrebs 2000 die Oberfläche des Unterwelt-Sees durchbrach.

/51
"Ihr wollt den Gehörnten an den Hörnern fassen, den Engelmachern vom Fließband springen, ihr zieht die Köpfe ein, wenn die Sense durch das Ährenmeer des Lebens geht?"
Vier Luken öffneten in dem metallenen Körper des Superkrebs 2000, vier Minikanonen schoben sich an die Oberfläche und der Arzt nahm Menschen der letzten Tage und Friends unter Feuer.

 

Hey Kubus,

Es fällt mit sehr schwer...Die ersten 14 Absätze war ich voll drin, begeistert von der Perspektive und der Prot. Hab mich richtig über die Geschichte gefreut und dann bummm. wurde ich total rausgerissen und kam bis zum Schluss nicht mehr richtig rein. Ich habs einfach absolut nicht kapiert, was nicht heißt, dass die Geschichte für andere trotzdem funktionieren kann. Aber für einfach gestrickte Geister wie mich, wäre eine einfach gestrickte Geschichte sehr nett. Ich mag deine Art zu schreiben sehr und bin natürlich enttäuscht, wenn ich kein abschließendes Bild zusammenbekomme und außer Verwirrung nicht viel bleibt. Das kann aber tatsächlich mit
meiner Auffassungsgabe zu tun haben, die bei Texten am Bildschirm 50% schlechter ist als mit einem Buch in den Händen...

Zusammenfassung: Ich würde mir wünschen Rosas Geschichte zu lesen. Das würde mir genügen...

Gruß

Jan

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo herrlollek!

Ja, ab dem 15. Absatz ist ein krasser Bruch. Perspektive wechselt, die ersten beiden Prots tauchen erstmal ab und diese zwei kalten Figuren auf.

Trotz des Bruchs bleibt die Geschichte durchs Motiv verbunden. Kreuztanz, vier Eckpunkte, vier Figuren, die alle in irgendwelchen Formen mit dem Tod zu tun haben.

Aber für einfach gestrickte Geister wie mich, wäre eine einfach gestrickte Geschichte sehr nett.

He, das ist fishing for compliments! :)

Ich mag deine Art zu schreiben sehr und bin natürlich enttäuscht, wenn ich kein abschließendes Bild zusammenbekomme und außer Verwirrung nicht viel bleibt.

Danke! Aber schlecht, wenn nur Verwirrung bleibt! Das soll nicht sein.
Ich probiere halt verschiedenes aus und habe mich grob an Charakteren aus Unendlicher Spass orientiert, die erschienen mir teils auch so unmenschlich, grausam, gefühlskalt. Und für Maerlin, der sein Geld mit dem Ausnutzen schwächerer Positionen verdient, scheint mir die Charakterisierung passend. Um das mal so bürokratisch zu sagen.

Ein Kritiker hat Foster Wallace groß angekreidet, dass er keine Beziehung zu seinen Figuren hätte. Also was Maerlin über die Mitmenschen in der Geschichte denkt, fällt mir grad auf. Beim Schreiben habe ich keinen Draht zu den beiden gekriegt, zu Rosa allerdings auch nicht. Wahrscheinlich geht es den Lesern mit Maerlin und Tin ähnlich. Du schreibst von Verwirrung, vllt springt noch Befremdung raus, aber andere Reaktionen werden wohl nicht zustande kommen oder geschrieben werden.


Danke fürs Feedback!

Kubus

 

Hallo Kubus

Einzelne Scripts zu Filmsequenzen, war mein erster Eindruck als Leser. Doch war sofort klar, dies ist nicht möglich, da es nicht nur äusseres Geschehen und Dialoge aufzeigt. Dadurch war mir der Einstieg etwas irritierend.


… das medizinische Siegel der Wahrheit …
… Siegel von Wahrheit …, schiene mir hier präziser. Wahrheit ist ein vielfältig mögliches Abbild einer Meinung, und das medizinisch allein schränkt es nur sehr begrenzt ein.

(Er nannte bei sich alle Frauen außer seiner Mutter Mädchen).
Angenehmer lesbar wäre mir: … für sich … Allerdings stellte ich im weiteren Text noch mehr ähnliche Formulierungen fest, über die ich dann hinwegsah, da ich denke es ist dein Stil.

… die Visitenkarte einer Betroffenengruppe, Menschen der letzten Tage.
Köstlich diese Namensgebung, ich musste unwillkürlich an eine Sekte denken. :D

Und jetzt wollte sie nicht sterben. Wie peinlich.
Die emotionalen Schwankungen von Rosa sind durchaus glaubhaft, doch hier in der Wortwahl aus der Reihe fallend. Peinlich wird ihrer ambivalenten Einstellung zum Tod wohl kaum gerecht. Verwirrend käme ihrer Persönlichkeit möglicherweise näher, so wie sie sich abzeichnete.

Mehrere Absätze lang gibt der Bruch zu der anderen Geschichte hin wenig Sinn, bis sich ein Bezug mit dem Tod offenbart. Doch auch dann ist es für mich nicht überzeugend, der Bezug ist zu wenig herausgearbeitet. Die Idee, vier Eckpunkte, vier Figuren, wäre vielleicht besser gelungen wenn du beide Geschichten abschnittsweise ineinander verwoben hättest. Das Zusammenspiel müsste dann aber aufeinander abgestimmt sein.

Nun sieht es beinah aus, als ob ich es negativ aufgenommen hätte. Dem ist keineswegs so. Die Geschichte der Rosa fand ich recht interessant. Doch hätte ich mir ihre Todesgleichgültigkeit wie zu Beginn konstant, oder dann ihre Ambivalenz, verstärkt vorstellen können. Die Geschichte von Maerlin packte mich weniger, wenngleich seine Rolle mir nicht weniger glaubwürdig ist. Für die Schnittstelle des Kreuzes, hätte hier meiner Meinung nach die Realität des Todes aber eine stärkere Nähe ertragen können.

Insgesamt habe ich es gern gelesen, auch wenn es mir im Lesefluss einiges abforderte.

Gruss

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Anakreon

Insgesamt habe ich es gern gelesen, auch wenn es mir im Lesefluss einiges abforderte.

Gibt es eigentlich Geschichten, die du nicht gerne gelesen hast? :) Das mit dem Lesefluss kann ich mittlerweile nachvollziehen, das sieht ja hier aus wie zwei Geschichten, die nichts miteinander zu tun haben - im zweiten Teil laufen die Fäden zusammen, da treffen sich alle, führen mehr oder weniger absurde Dialoge und kämpfen später gegen den leibhaftigen Superkrebs 2000.

wenn du beide Geschichten abschnittsweise ineinander verwoben hättest. Das Zusammenspiel müsste dann aber aufeinander abgestimmt sein.

Ja, das hätte ich machen sollen oder Kreuztanz I & II zusammen posten. Sie in dieser Form hier reinzustellen war Quatsch.

Nun sieht es beinah aus, als ob ich es negativ aufgenommen hätte. Dem ist keineswegs so. Die Geschichte der Rosa fand ich recht interessant. Doch hätte ich mir ihre Todesgleichgültigkeit wie zu Beginn konstant, oder dann ihre Ambivalenz, verstärkt vorstellen können. Die Geschichte von Maerlin packte mich weniger, wenngleich seine Rolle mir nicht weniger glaubwürdig ist.

Dass die glaubwürdig wirken find ich gut! Wie geschrieben, ich hatte keinen richtigen Draht zu denen.
Bei Rosa fand ich gerade den Bruch interessant, wie sie auf die Nachricht reagiert. Wie schnell ihr Konstrukt und die Selbstkontrolle von der Angst überwältigt werden.

Verwirrend käme ihrer Persönlichkeit möglicherweise näher, so wie sie sich abzeichnete.

Ja, danke.

… Siegel von Wahrheit …, schiene mir hier präziser. Wahrheit ist ein vielfältig mögliches Abbild einer Meinung, und das medizinisch allein schränkt es nur sehr begrenzt ein.

Ein feines Detail. Ändere ich gern.

(Er nannte bei sich alle Frauen außer seiner Mutter Mädchen).
Angenehmer lesbar wäre mir: … für sich …

Kommt für mich fast aufs Gleiche raus, nur dass ich bei für automatisch wider mitdenke und bei in meinem Empfinden nicht diese Gegenkonnotation hat.

die Visitenkarte einer Betroffenengruppe, Menschen der letzten Tage.
Köstlich diese Namensgebung, ich musste unwillkürlich an eine Sekte denken.

Die sind auch ziemlich schräg unterwegs!

Viele Grüße

Kubus

 

Hallo Kubus

Gibt es eigentlich Geschichten, die du nicht gerne gelesen hast?
Ja die gibt es, etliche. :D Dies obwohl ich mich nicht selten nach einigen Abschnitten ausklicke, wenn ich merke, ein Text sagt mir gar nicht zu. Einen Kommentar gebe ich jedoch eher nur ab, wenn es mir gefällt oder zumindest ausreichend mich ansprechende Anteile vorhanden sind und ich wenn möglich einen konstruktiven Impuls geben kann. Dies, da ich so manches mit zu subjektiver Brille lese um es dann objektiv gerecht zu Werten.

Sie in dieser Form hier reinzustellen war Quatsch.
Gar so krass sehe ich es nicht. Die Idee dahinter ist mir nachvollziehbar und scheint mir raffiniert. Die Umsetzung in einer Kurzgeschichte wird aber dadurch erschwert, da die Fäden relativ schnell zusammenführen und doch Fleisch am Knochen haben sollten.

Wie geschrieben, ich hatte keinen richtigen Draht zu denen.
Dies verstehe ich. Es fällt mir auch nicht immer einfach, mich in die Rollen hineinzudenken um die Handlungen und Dialoge aus Sicht der Figuren wahrnehmen zu können. Da es für den Leser authentisch wirken muss, der sich einzig von den geschriebenen Worten leiten lässt, birgt dies zusätzlich eine beständige Herausforderung.

Bei Rosa fand ich gerade den Bruch interessant, wie sie auf die Nachricht reagiert. Wie schnell ihr Konstrukt und die Selbstkontrolle von der Angst überwältigt werden.
Ich denke, du hast dies recht gut charakterisiert, aber der Bruch sollte sich vielleicht nervlich drastischer auswirken. Es ist realistisch, dass wohl die meisten Menschen eine solche Diagnose als Schock erleben, und je nach Temperament apathisch oder sarkastisch reagieren können, um dann im Nachhinein zu eskalieren.

Kommt für mich fast aufs Gleiche raus, nur dass ich bei für automatisch wider mitdenke und bei in meinem Empfinden nicht diese Gegenkonnotation hat.

Du hast sicher Recht. Ich hatte da wohl eben die subjektive Brille auf.

Vielleicht musst du nach einem zeitlichen Abstand nochmals darüber gehen um zu sehen, mit welchen Kunstgriffen es den von dir gewollten Esprit erhält. Ich selbst habe eben auch eine frühere Geschichte wieder aufgegriffen, um sie möglichst Salonfähiger zu machen. Ob es gelingt, sei dahingestellt.

Auf den vollständigen Kreuztanz (I + II) wäre ich dann schon mal noch gespannt, da das aufgegriffene Thema mir lohnend scheint.

Gruss

Anakreon

 

Hallo nochmal

Die Umsetzung in einer Kurzgeschichte wird aber dadurch erschwert, da die Fäden relativ schnell zusammenführen und doch Fleisch am Knochen haben sollten.

Mehrere Fäden finde ich spannend, weil es da so viele Darstellungs- und Erzählmöglichkeiten gibt. Allein verschiedene Perspektiven auf dieselbe Situation oder dasselbe Thema - und der Erzähler immer dicht bei der Figur und dem Erlebten. Aber hier sind die Stränge zu weit voneinander entfernt, denke ich jetzt.

Da es für den Leser authentisch wirken muss, der sich einzig von den geschriebenen Worten leiten lässt, birgt dies zusätzlich eine beständige Herausforderung.

Ja, ich grübel auch immer wieder aufs Neue, wie man die Leute in die Geschichte bekommt, welche Mäntel Figuren und Thema kriegen sollen.
Was funktioniert und was nicht - das wundert mich jedes Mal wieder.

Ich denke, du hast dies recht gut charakterisiert, aber der Bruch sollte sich vielleicht nervlich drastischer auswirken. Es ist realistisch, dass wohl die meisten Menschen eine solche Diagnose als Schock erleben, und je nach Temperament apathisch oder sarkastisch reagieren können, um dann im Nachhinein zu eskalieren.

Das ist wohl je nach Temperament verschieden, diese coole Anfangsreaktion passt mE ganz gut zu Rosa, aber ihr nachfolgender Zusammenbruch geht zu schnell, da hätts Zwischenschritte gebraucht, glaub ich jetzt, oder vllt einen kleinen äußeren Anlass.

Du hast sicher Recht. Ich hatte da wohl eben die subjektive Brille auf.

Einfach mal abnehmen. :D

Auf den vollständigen Kreuztanz (I + II) wäre ich dann schon mal noch gespannt, da das aufgegriffene Thema mir lohnend scheint.

Ich liefer den noch nach in den nächsten Tagen, Wochen ... ich habe gerade mit dem Schluss zu tun - das verflixte Ende. Vllt einfach nen Link auf den ersten Teil setzen, mal sehen.

Danke fürs Nachhaken!

Kubus

 

Zuerst,

lieber Kubus,

glaubte ich an einen Themenwechsel – bis etwa zur Hälfte des Textes die Figur des Maerlin auftauchte, um einstweilen den Text zu beherrschen – bis sich eben der Kreis schloss in seinem Umkreis (!) umfassend mit Tins Unglück … da ist es wieder ein beeindruckendes Stück Literatur zum Sterben, das wie nebenbei Kafka streift

Er würde nie eines Morgens aufwachen und ein Käfer sein,
. Hänsel und Gretels Hexenerlebnis modernisiert
Die Teufelin griff nach seinem rechten Arm und umfasste den Unterarm mit der Hand, hielt seinen Arm, ein Ärmchen eher, hoch und schüttelte den Kopf. "Nur Haut und Knochen", sagte sie. "Das ist mir zu mager. Ich komm wieder, wenn an dir was dran ist."
und auch in die Sprache von See- und andern fahrenden Leuten abdriftet. Das reicht von der obligatorischen Frage aller sich als Genussmenschen definierenden Süchtigen
"Ich weiß gar nicht, wie das mit dem Krebs passieren konnte", sagte Rosa und lächelte Lila zu, die Wasser aufsetzte.
Hat Lila so nah am Wasser gebaut, dass sie ständig Tee kocht? -, bis hin zum wohlwollend ärztlichen
Er gab ihr schweigend und mit gerunzelter Stirn die Visitenkarte einer Betroffenengruppe, Menschen der letzten Tage,
,
dem dann das Überhebliche des wissenden Überlebenden
natürlich dürfen sie rauchen, warten sie ich gebe ihnen feuer
folgt. Nun sind das sicherlich nicht die letzten Tage der Menschheit aufs Format Kammerspiel gebracht – aber ein Schlaglicht wird schon drauf geworfen, weenn wir unterstellen, dass jeder Schädel seine eigene Welt produziert, die mit dem Kurzschluss weggeschlossen wird.
Dabei darf man nicht vergessen, dass es nicht die Welt der Sucht allein ist die einen umbringen kann, sondern auch der ganz normale Verkehr bis hin zum Hühnerei (vom verseuchten Tschernobyl Wildschwein unseligen Angedenkens wollen wir gar nicht erst reden, sind halt buchstäblich arme Schweine, die nicht mal mehr für’n Gourmet reichen!)

Ist schon erstaunlich, was Jan & Du für Entwicklungen hier durchmacht ... und kann dann Jan verstehen, zur Hälfte aufzugeben. Kondition muss er noch trainieren, die Du schon hast.

Sehen wir mal von den inflationären „würde“-Konstruktionen (vllt. schon drauf gewartet?), die gar nicht sein bräuchten (das es anders geht wird nach 2/3 des Textes belegt:

Er hatte seine Überheblichkeit für einen Moment verloren und ihm zugezischt, er solle sofort verschwinden, sonst geschähe ein Unglück
). Es wäre doch leicht, einfach Futur zu verwenden oder wenn, dann wie gezeigt anständigen Konjunktiv.

Kleinkram, bei zwölf Seiten Manuskript unter TNR 12 pt. einzeilig kaum zu vermeiden:

… mit dem er Todkranke immer pamperte, einwickelte, versponn.
Pamperte?, Verbalisierung des „pampig“ (frech), gibt’s das?

Vielleicht wiederholte er es wegen ihrem andauerndem Lächeln, …
Der Dativ ist dem Genitiv … „wegen ihres andauernden Lächelns“ und
… mehr für sich, um auf bekanntes Terrain zurück zu kommen, …
Zurückzukommen, ein Wort.

Dass es nicht zuende gehen dürfe, …
Zu Ende
Maerlin fand das übertrieben bis -spannt, …
Weiß nicht so recht, ob das „über-“ an der Stelle durch einen Ergänzungsstrich ersetzt werden kann. In wörtl. Wiedergegeben Gedanken Maerlins vielleicht … Aber dass der „Strich“ dann nach der Erstbesten für die Schlechteste auftaucht, grenzt in dieser Geschichte schon an Schlamperei, oder soll’s dann noch eins auf den Superlativ draufsetzen? Aber „vielleicht“ gibt weiter unten eine Stelle Aufschluss:
Da bin ich vllt altmodisch, dachte Maerlin.

… um die gleichten Themen, …
./. t

Kurz: et jefällt mir.

Gruß

Friedel

 

Hi Friedel

Der Text hat Eier und Hirn aber kein Herz, denke ich mittlerweile, das nagt ein bisschen an mir. Aber was solls, gepostet ist gepostet - ich editiere die Fortsetzung hier mit rein - dann bleibt es keine halbe Sache. Und danke für das pralle Lob! Superbia entwickelt sich prächtig!

Hänsel und Gretels Hexenerlebnis modernisiert

kam mir verdächtig bekannt vor

dass jeder Schädel seine eigene Welt produziert, die mit dem Kurzschluss weggeschlossen wird.

Exakt mein Gedanke.

Dabei darf man nicht vergessen, dass es nicht die Welt der Sucht allein ist die einen umbringen kann

Ja, okay, das Leben endet immer tödlich. Aber so raschen charakterlichen, physischen und psychischen Verfall wie mit ner Sucht kriegt der Mensch nirgendwo anders.

Ist schon erstaunlich, was Jan & Du für Entwicklungen hier durchmacht ... und kann dann Jan verstehen, zur Hälfte aufzugeben.

Ich glaube dass mir viele Rückmeldungen hier echt geholfen haben. Kritik und Lob, mitlesen und -denken. Auch der ein oder andere Verriss.

Sehen wir mal von den inflationären „würde“-Konstruktionen (vllt. schon drauf gewartet?), die gar nicht sein bräuchten

Sind das echt so viele? Friedel, glaub mir, ich mach mir das nicht leicht mit dem Konjunktiv. Jedesmal überlege ich, ob ich den jetzt nehmen kann, oder ob das zu siebengescheit rüberkommt. Und das quasi im Blindflug - sagt ja niemand was dazu, außer du ...... aber du bist da etwas streng, meine ich. :)

Pamperte?, Verbalisierung des „pampig“ (frech), gibt’s das?
Ne, von Pampers, also wie windelte.

Und diese scheiß Großgetrenntkleinzusammenschreibung, die kann mich kreuzweise. Aber danke für die Hinweise, ich gehe denen nach, bessere aus und vllt lern ich sogar was, könnte ja passieren.

Viele Grüße

PS: Tee kann man gar nicht genug trinken. Macht schlau und schön, schützt wahrscheinlich sogar vor Spliss. Und danke für die rauszitierten Sätze ums Rauchen, die sind auf jeden Fall Schlüsselsätze.

 

Hallo Kubus

Vielleicht ist es meine subjektive Tagesform, doch den zweiten Teil empfinde ich wortgewandter, weitgehend flüssiger und spannender zu lesen. Ob meine Deutung im Einklang zu Deiner Absicht steht, weiss ich nicht, doch sehe ich in der Geschichte vor allem eine Persiflage auf die neurotischen Ängste in der Gesellschaft, die magisches Denken wieder aufleben lassen. Dass sich dabei Flucht in wahrnehmungsverändernde Substanzen, Gesundheitshysterie und esoterisch angehauchte Praktiken die Waage halten, hat doch, wenn auch überzeichnet, einen Realitätsbezug. Ich warte schon lange darauf, dass Woody Allen diesen Stoff mal aufgreifen würde.

Die Kostümierung von Tin als Häschen, im Umfeld von als Bunny geschminkten und gestylten Mädchen, ein köstliches Bild. Die Szene des Kioskverkäufers mit extremem Silberblick, eine kleine Perle in dieser Parodie. Genüsslich einen Zug an der Zigarette nehmend, schlürfte ich das spitzfindige Partygeschehen der Todgeweihten ein.

Das ist wie mit den Mönchen im Mittelalter, erst ins Weinfass fallen, dann bisschen heilige Schrift machen.
Eine so schöne Interpretation habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Ich stellte mir die Szene bildlich vor. :lol:

Der Schluss, ein skurriles Ende, doch bietet es sich symbolisch mehrdeutig als gelungenen Ausgang an.

Es war mir ein Vergnügen. :D

Gruss

Anakreon

 

Sind das echt so viele? Friedel, glaub mir, ich mach mir das nicht leicht mit dem Konjunktiv. Jedesmal überlege ich, ob ich den jetzt nehmen kann, oder ob das zu siebengescheit rüberkommt. Und das quasi im Blindflug - sagt ja niemand was dazu, außer du ...... aber du bist da etwas streng, meine ich.

Bin ich tatsächlich so streng, kann ein Rheinländer überhaupt so sein?,

lieber Kubus.

Stell Dir aber den Schock vor, der ein wohlformulierter Konjunktiv irrealis und somit 'n bissken Hochsprache in dem Milieu auslöst, natürlich nicht bei der wörtl. Rede, da käm dann der Aufschrei des Authentizität erwartenden Publikums - da viele glauben, Literatur wäre die Wirklichkeit und nicht Modell. Und warum sollte der Autor nicht mehr wissen & Klugscheißer sein? Wär mal interessant, wenn die Figur, die einer schafft, schlauer, besser: klüger sei als sein Schöpfer ...

So, genug kluggeschwatzet,

Friedel

 

He Friedel

Bin ich tatsächlich so streng, kann ein Rheinländer überhaupt so sein?,

Also ich muss mal ganz deutlich sagen, dass du zu sein scheinst, wie du zu sein scheinst.

Stell Dir aber den Schock vor, der ein wohlformulierter Konjunktiv irrealis und somit 'n bissken Hochsprache in dem Milieu auslöst, natürlich nicht bei der wörtl. Rede, da käm dann der Aufschrei des Authentizität erwartenden Publikums - da viele glauben, Literatur wäre die Wirklichkeit und nicht Modell. Und warum sollte der Autor nicht mehr wissen & Klugscheißer sein? Wär mal interessant, wenn die Figur, die einer schafft, schlauer, besser: klüger sei als sein Schöpfer ...

Stichwort wörtliche Rede. Ob man wirklichkeitsnah zu schreiben versucht, lebendig, oder konjunktivkorrekte Schachtelsatzdialoge bauen will. Alltags höre ich meistens Hilfsformen, wenn überhaupt. Aber die Verbindung von abgerocktem Milieu und Elfenbeinturmsprache könnte richtig gut kommen, so als Effekt.

Hi Anakreon

Die von dir rausgefundenen Stellen gehören auch zu meinen Favoriten. Sehr schön, dass es Spaß machte!

doch den zweiten Teil empfinde ich wortgewandter, weitgehend flüssiger und spannender zu lesen.

Puh. Der Entertainment-Teil reißts bisschen raus. Freut mich!

Ob meine Deutung im Einklang zu Deiner Absicht steht, weiss ich nicht, doch sehe ich in der Geschichte vor allem eine Persiflage auf die neurotischen Ängste in der Gesellschaft, die magisches Denken wieder aufleben lassen.

Das ist schon ein wichtiger Punkt. Ich war letztens für die Eso-Warengruppe zuständig und durfte mich mit aktuellen Auswüchsen überraschend technisierter Magie beschäftigen. Was da aufgeboten wird! Musste persifliert werden. Trotzdem: Jedem sein Weltbild.

Genüsslich einen Zug an der Zigarette nehmend, schlürfte ich das spitzfindige Partygeschehen der Todgeweihten ein.

Wie verwegen. :)

Der Schluss, ein skurriles Ende, doch bietet es sich symbolisch mehrdeutig als gelungenen Ausgang an.

Da scheint ein kluger Leser mehr zu sehen als der Schreiber. Den finde ich nämlich schwach.

Abendgruß!

 

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