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Krisensitzung

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31.08.2008
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Krisensitzung

„Wer Zweifel hat, kann nicht führen.“ Manfred Wörner

„Meine Herren, worum geht’s? Kommen Sie mir nicht mit fachchinesisch, sagen Sie kurz und bündig, was los ist.“ Beil versuchte, bestimmt und beherrscht zu wirken. Als Vorstandsvorsitzender eine Sitzung in einer Baubaracke zu leiten, war nicht sein Alltag. Etwas Außergewöhnliches ging hier vor, aber was ging ihn das an? Er war nur hier, weil die Politik drängte: darum wurde jede Kleinigkeit auf dieser Baustelle zur Chefsache.

„Der Schacht hat sich um zwanzig Zentimeter verformt. Es ist höchste Gefahr. So können wir nicht weitermachen.“ Weber, ein eigenbrötlerisch wirkender, älterer Mann schaute in die Runde. Die anderen wichen seinem Blick aus.

„Diese Verformungen sind unkritisch und beherrschbar“, meinte sein junger, glatt wirkender Kollege Langenberg zum Vorstand gewandt. Die übrigen nickten bestätigend.

Beil hatte auf Drängen von Saling die Sitzung einberufen, spontan, wegen Dringlichkeit. Nun saßen sie in ihren dunklen Anzügen in einer Baubaracke, der Vorstand, bestehend aus Beil, Lethge, der nie etwas Eigenes sagte, und Saling, der sich oft unbequem mißtrauisch in viele Dinge einmischte. Neben den beiden Ingenieuren Weber und Langenberg den Baustellenleiter Witt, ein gestandener, erfahrener Mann. Die Bundesanstalt, die begutachtend das Unternehmen begleitete, war mit ihrem Leiter Beyer und dem Referatsleiter Dinkel vertreten. Scheinbar unangreifbar saßen sie selbstsicher zurückgelehnt auf ihren Stühlen. Der Sitzungsraum war eine kahle Baracke. Kaltes Neonlicht flackerte von der Decke. Beim Blick aus dem Fenster ahnte man die Reste der Abenddämmerung. In der Ecke rödelte ein Kühlschrank und ließ die leeren Bierflaschen klirren, die darauf standen.

Die Sitzung hatte gerade begonnen, da wurde Saling schon unwirsch: „Kann mir jemand allgemein verständlich erklären, was hier vorliegt? Nach meinem Kenntnisstand teufen wir einen Schacht in ein festes, wasserdichtes Deckgebirge ab. Wir sind noch gar nicht im Salzstock angekommen, und sie berichten schon von Verformungen. Das feste und trockene Deckgebirge ist die Sicherheit, daß aus dem Atommüllager keine radioaktiven Substanzen herauskommen. So steht es in allen Berichten, auch in den Gutachten der Bundesanstalt.“ Er warf einen strafenden Blick zu Beyer und Dinkel.
„Die Berichte sind ja im Grundsatz richtig“, bestätigte Beyer. „Doch neuere Erkenntnisse haben gezeigt, daß wir etwas Wasser im Gebirge haben. Das nutzen wir, um den Schacht mittels eines Gefrierverfahrens zu stabilisieren, bis die Betonschale die Last aufnimmt. Das Wasser ist also nur nützlich. Es stellt das Grundkonzept nicht in Frage.“
Lethge nickte zustimmend. „Ich habe mich sachkundig gemacht. Es ist gründlich geprüft. Kein Problem wegen des Wassers; das hat keinen Kontakt mit dem Salzstock, also ist es auch keine Gefahr.“
Beyer ergänzte: „Bei uns in der Bundesanstalt steht einer der größten Computer Europas. Darauf wurden numerische Modelle für den Schacht entwickelt, alles dynamisch berechnet, verschiedenste Szenarien. Die Ergebnisse sind absolut sicher: Der Schacht ist stabil!“

Saling insistierte: „Jetzt möchte ich einmal jemanden von vor Ort sprechen. Wozu machen wir die weite Fahrt hierher zur Baustelle, wenn wir uns dann doch nur Ihr Gerede anhören? Bringen Sie den Obersteiger her, sofort!“
Langenberg ging zum Telefon, das notdürftig schräg auf dem schmalen Fenstersims stand, und sprach in Kommandoton: „Hansen zum Rapport, sofort!“ Er setzte sich, mit sichtlicher Befriedigung, den anderen seine Entschlossenheit demonstriert zu haben.
„Soweit ich mich erinnere, haben die Professoren aus Hamburg und Kiel, wie hießen sie doch gleich?“, setzte Saling wieder an, „die haben doch genau dasselbe gesagt, was Sie mir jetzt erzählen. Und damals, da haben Sie mir geschworen, es wäre alles erfundener Unsinn, die Professoren seien überzeugte Kernkraftgegner, die hier nur agitierten. Mit dem Grundwasserkontakt und dem Kiesgemisch scheinen die ja Recht gehabt zu haben …“
„Absolut Unrecht haben die“, warf Beyer ein, „die phantasieren ungeprüft herum. Außerdem sind sie nicht objektiv, sie sind sogar auf Veranstaltungen der Bürgerinitiativen aufgetreten…“
„Nachdem wir in Zeitungen ihre Gutachten als Unsinn bezeichnet haben“, wandte Weber ein.
„Die sind absolut fachfremd. Haben die schon über Salzstöcke gearbeitet? Wir forschen seit Jahrzehnten in diesem Themenbereich. Wir haben in unseren Gutachten alles geklärt; es gibt ein festes Deckgebirge. Daran ändern ein geringer Porenwassergehalt oder ein paar Kieseinlagen überhaupt nichts“, fügte er mit einer generösen Handbewegung hinzu.
„Das können Sie dem Ministerpräsidenten und dem Volk in der Gorlebener Kneipe erzählen, aber doch nicht uns!“, rief Weber, „Unsere Befunde widersprechen dem doch grundsätzlich. Ich verstehe ja, daß Sie solche schönen Behauptungen für Ihre Öffentlichkeitsarbeit brauchen, aber das heißt doch noch lange nicht, daß wir damit Bauplanung machen können!“

Es klopfte an der Tür, Herr Hansen trat ein. Mit seinen schweren Stiefeln kam er gerade einen Schritt in den Raum. Er blieb ratlos stehen, denn mit dem schlammverkrusteten Overall konnte er sich sowieso nicht setzen.
„Danke, Herr Hansen, daß Sie so schnell kommen“, begrüßte ihn Beil. „Wir möchten einmal Ihre Sicht der Dinge erfahren.“ Er setzte eine versöhnliche Miene auf. „Bitte berichten Sie. Wie ist die Situation? Worin besteht das Problem aus Ihrer Sicht?“
Hansen sah sich verlegen um. Die Runde wirkte steif und unfreundlich; Spannungen lagen im Raum, die er so schnell nicht erfassen konnte. Bisher hatte er nur dem Baustellenleiter Witt berichten müssen; die hier versammelten Herren hatte er noch nie aus der Nähe gesehen, sondern nur, wenn sie mit ihren Limousinen mit Chauffeur zu einem Ortstermin oder zu Betriebsversammlungen gefahren kamen. Jetzt interessierte sich der Vorstand für seine Meinung; das war befremdlich für ihn. Vielleicht sogar gefährlich!
„Alles läuft nach Vorschrift. Die Gefrieraggregate haben die vorgeschriebene Leistung. Wir treiben den Schacht weiter und versetzen die Stahlverschalungen. Das ist gefährlich, denn die Schachtwand drückt nach. Sie ist nicht fest genug. Beim Umsetzen der Verschalungen entstehen jedesmal Verformungen; einige Schalen sind schon verbogen.“
„Und? Können Sie sich vorstellen, woran es liegt?“, übernahm Saling die Befragung.
„Nee, ist nicht mein Bereich! Ich weiß nicht, aber wir stehen hier mitten im Schlamm und von der Schachtwand regnet’s dauernd auf uns runter, obwohl die gefroren sein müsste. Das Wasser schmeckt salzig, sehr salzig sogar."
„Sie gefrieren Salzwasser? Wurde das nicht untersucht?“, ging Saling erregt dazwischen und schaute wütend zu den beiden Ingenieuren.
Langenberg sagte: „Doch, das ist nicht neu. Alles wurde geprüft und in die Berechnungen einbezogen, es ist unter Kontrolle. Ja, bei den Beprobungen des Deckgebirges wurde ein gewisser Salzgehalt ermittelt, aber der macht nichts aus.“ Sein Blick traf Dinkel und Beyer, die die Aufforderung annahmen:
„Wir haben natürlich die Salzgehaltseinflüsse auch in die numerische Modellierung einbezogen, um ganz sicher zu gehen. Sie sind natürlich nicht groß, denn das hieße ja, daß das Salz im Grundwasser aufsteigt…“
Weber zeigte mit einem Blick zu den Vorstandsmitgliedern, daß er dem nicht zustimmte.
„… und das ist völlig ausgeschlossen, schon wegen der größeren Dichte des Salzwassers…“
„Das ist nicht wahr!“, rief der Baustellenleiter Witt, „Ich habe das Gutachten von dem Professor aus Bochum gesehen. Das ist schon ein Jahr alt. Er rät dringend zu weiteren Analysen. Wir wissen gar nicht, ob wir bei minus sechzehn Grad die nötige Festigkeit erreichen. Das Gestein ist ja nur ein lockeres, rolliges Kiesgemisch. Der Gutachter hat schon vor einem Jahr dringend weitere Untersuchungen empfohlen. Nach meiner Kenntnis sind die jedoch nicht erfolgt.“
„Doch, die haben wir beauftragt“, sagte Langenberg.
„Und wann?“
„Vor einer Woche.“
„So, so, als der Schacht schon dabei war, aufzugeben … sehr überzeugend, Herr Ingenieur. Wann gibt es denn Ergebnisse?“, setzte er ironisch hinzu. Witt geriet außer sich. Jetzt war ihm alles egal, auch wenn sie sich alle vor dem Vorstand blamierten.
Beil versuchte zu vermitteln: „Bitte ruhig, meine Herren. Ich bitte Sie … bedenken Sie, daß ja noch alles in Ordnung ist. Offensichtlich wurden alle nötigen Klärungen beauftragt. Bedenken Sie auch, welche Erwartungen an uns gestellt werden, aus Politik und Öffentlichkeit: Alle Augen sind auf uns gerichtet, es darf keine negativen Schlagzeilen geben. Der Ministerpräsident hat mich ausdrücklich gebeten, den Zeitplan zu erfüllen …“
„Wat geit mich de olle Albrech an, wenn miene Lüüd dor unnen verrecken deit?“, platzte Hansen dazwischen. „Ick hör dat erste Mol, dat Se gor nich weten, ob de Schachtwand holten tut. Ick weet dat ober: Se trägt nich. Un noch eens: We hebben ock een Watereenbruch, we pumpen Water un Schlamm un Salt. Wo dat herkummt? Is doch klor, dat sich nu Hohlräume bilden. Mi kunnst Du keen Blödsinn vertellen. So een Murx hebb ick noch nich erlebt.“ Wenn Hansen in Rage geriet, verfiel er jedesmal ins Platt; Witt kannte das:
„Herr Hansen, danke, aber wir kümmern uns … danke, ich glaube, es reicht.“
„Bitte, ich glaube, Sie sind jetzt hier fertig. Danke schön.“ Lethge wies Hansen zur Tür. Hansen schaute sprachlos in die Runde, dann ging er.

Saling wandte sich an Langenberg: „Wann liegen die Ergebnisse vor? Haben Sie sich darum gekümmert? Es scheint mir dringend."
„Ich kann mal nachfragen, ob die schon etwas haben."
Beil gebot Einhalt: „Ich bitte Sie, meine Herren, wo soll das hinführen? Die Bundesanstalt steht doch für alles gerade, einen Baustopp können wir uns auf keinen Fall erlauben. Der Ministerpräsident…“
„… wird uns nicht davon abhalten, den Dingen auf den Grund zu gehen. Rufen Sie Ihren Gutachter an, oder verbinden Sie mich mit ihm. Wie heißt der noch gleich?“ Saling gab nicht auf.
„Notaler, Professor Notaler aus Essen, Institut für Erd- und Grundbau … wir haben ihn gleich …“, er drückte auf eine Taste des Telefons, wartete einen Augenblick. Da schon seit langem Feierabend war, war der Professor allein im Institut und nahm selbst ab.
„Guten Abend, Herr Professor. Haben Sie schon erste Ergebnisse von den Belastungsproben? Ja? Haben Sie? Herr Saling vom Vorstand möchte Sie sprechen, ich reiche mal weiter.“

Saling nahm den Hörer und stellte das Telefon laut. „Guten Abend, Herr Notaler, Saling hier, wissen Sie schon etwas Neues? Wir haben hier gerade eine Sitzung an der Baustelle, der Vorstand, die Bundesanstalt und die Bauleitung, ich habe das Telefon laut gestellt; die anderen hören mit.“
„Guten Abend. Eine erste Serie ist fertig. Bei verschiedenen Temperaturen wurden Belastungsproben vorgenommen. Wie erwartet, der Salzgehalt ist extrem hoch und das Kiesgemisch locker; bei minus sechzehn Grad ist es weicher Brei. Bei den ersten Versuchsreihen haben wir die nötige Festigkeit erst bei minus fünfundzwanzig Grad erreicht. Sie werden die Kühlkapazität erhöhen müssen. Aber das ist nicht neu; das wußten Sie ja eigentlich schon.“
„Wer wußte das?“
„Na ja, der Ingenieur, Langenberg, wir haben darüber ja gesprochen und ich habe es ja schon vor einem Jahr in meinem Gutachten geschrieben, daß minus sechzehn Grad auf gar keinen Fall ausreichen.“
„Wir kühlen aber nur auf minus sechzehn Grad.“
„Und? Haben Sie keine Probleme?“
„Doch, es gibt Verformungen des Schachtes, nichts Schlimmes, der Ingenieur versichert, daß er alles im Griff hat.“
„Verformungen? Wieviel?“
Saling schaute zu Langenberg. Der antwortete: „Zwanzig Zentimeter. Also nicht viel.“
„Zwanzig Zentimeter, Herr Notaler. Was empfehlen Sie?“
„Zwanzig Zentimeter? Beenden, sofort die Leute rausholen, dann die Maschinen sichern. Sofortigen Baustopp!“
„Meinen Sie das ernst? Wie sollen wir denn…“
„Haben Sie mal daran gedacht, wie Sie morgen dastehen, wenn der Schacht kollabiert? Stoppen Sie den Bau sofort!“
„Aber Herr Professor, das ist unmöglich.“
„Ihre Verantwortung. Ich kann Ihnen nur raten. Aber die Lage, absolut eindeutig, der Schacht kann jeden Augenblick kollabieren.“
„Herr Professor Notaler, ich danke Ihnen.“ Saling legte auf.

„So meine Herren, Sie haben es gehört. Interessant, daß das Gutachten so spät beauftragt wurde. Was sagen Sie dazu?“
Für einen Augenblick war Stille. Man hörte das Summen der alten Neonlampen. Beyer ergriff als erster das Wort:
„Sie müssen natürlich alles auch physikalisch sehen. Was sind zwanzig Zentimeter denn schon bezüglich der Formänderung, und die Form ist ja entscheidend, denn die trägt ja. Bedenken Sie, daß der Schacht sechzehn Meter Durchmesser hat.“
„Man könnte doch sicherlich noch die Kühlkapazität erhöhen“, meinte Lethge.
Witt antwortete: „Das geht auf gar keinen Fall. Wo sollen wir die Geräte herschaffen? Wir haben jetzt schon die maximale Kapazität, mehr bekommen wir in den Schacht nicht hinein. Selbst, wenn wir es beschaffen könnten. Nein, wir müssen so weitermachen oder stoppen.“
„Um wieviel müßte man die Kapazität erhöhen?“, fragte Saling nach.
„Wir haben jetzt zehn Megawatt, das entspricht, anschaulich, fünfzigtausend Kühlschränken.“ Er blickte zu Beyer. „Hielten wir uns an den Professor, müßten wir die Kapazität verdoppeln.“
„Und was ist mit den Ergebnissen der Belastungsversuche?“

Saling war ratlos. Noch nie hatte er sich mit solchen Themen beschäftigt. Wenn die Schachtwand nicht kalt genug wurde, bestand sie nur aus aus matschigem Sand, Eis und Salz wie er im Winter auf den Straßen vorkam – das konnte er sich noch vorstellen. Mußte er mehr verstehen? Eigentlich war es dasselbe wie bei wirtschaftlichen Themen, wie einer Bilanzprüfung im Unternehmen: Wenn eine Zahl nicht stimmig schien, waren immer Konflikte der Beteiligten dahinter verborgen; man mußte nur hartnäckig fragen, dann kam die Wahrheit heraus.
„Ach, wissen Sie, diese Professoren“, meinte Beyer. „Das sind doch alles Forscher. Tragen die jemals Verantwortung? Für die praktische Arbeit und Beurteilung sind die nicht zu gebrauchen, wir wissen doch gar nicht, ob diese ominösen Proben überhaupt repräsentativ sind. Wir waren ja bei der Beauftragung auch nicht einbezogen“, fügte er mit einem Blick zu den Ingenieuren hinzu. „wer war denn dabei, als die Proben genommen wurden? Von wo sind die überhaupt? Warum hat man uns nicht dazu geholt?“
„Weil Sie ja immer dagegen waren!“, meinte Weber. „Sie haben uns jahrelang etwas von wasserdichtem Ton und Mergel erzählt. Als wir dann den Kies gefunden hatten, durfte es natürlich kein Wasser geben. Das störte die hohe Politik; es bedeutete ja, daß der Salzstock Grundwasserkontakt hatte. Als Sie das Wasser akzeptiert hatten, durfte es natürlich nicht salzig sein. Wie hätte ich Sie einbeziehen sollen? Sie haben doch alles nur behindert. Auch die starke Grundwasserströmung war in Ihren Augen nie wahr. Sie ist aber da. Und führt dazu, daß wir mit dem Kühlen gar nicht gegenan kommen.“
„Was soll das heißen? Sie kommen mit dem Kühlen nicht gegenan? Wieviel Grad erreichen Sie denn wirklich? Ich denke, Sie kühlen auf minus sechzehn Grad!“, tobte Saling.
„Gestern hatten wir minus zehn Grad, heute morgen nur noch minus sechs Grad“, antwortete Weber resigniert.
„Nur minus sechs Grad? Und Sie meinen, daß der noch Schacht trägt?“
„Er trägt ja, das sehen Sie doch“, ging Langenberg dazwischen. „Deswegen haben wir auch die Stützschalen verstärkt. Bedenken Sie, wir sind auf 239 Meter. Ab 260 Meter beginnt der Salzstock. Wir sind praktisch am Ziel.“
Hilfesuchend sah Beil zu Beyer. Der sollte das gerade rücken, dem Befund musste widersprochen werden.
„Eine so starke Grundwasserströmung ist in diesem Sedimentgestein gar nicht möglich. Das wäre ja, als stünde der Schacht in einem rauschenden Gebirgsbach. Wie sollte die Strömung angetrieben werden? Der Strömungswiderstand im Gestein ist dafür viel zu hoch. Daraus folgt eindeutig, daß es sich nur um Meßfehler handeln kann.“
Beil nickte zufrieden: „Damit ist das geklärt! Betreiben Sie in Zukunft eine sorgfältigere Erfassung der Messwerte. Wir sollten jetzt zum Schluß kommen. “
Lethge verstand die Aufforderung und räusperte sich vernehmlich: „Meine Herren! Sie kennen unsere Randbedingungen. Wie machen wir nun weiter?“ Er sah erst zur Uhr, dann in die Runde.
Beyer sagte: „Weitermachen!“
Dinkel nickte dazu.
Beil nickte befriedigt. Saling sah mit aufgerissenen Augen in die Runde.
„Zumindest sollten die Arbeiter zurückgezogen werden, bis das Gutachten von Notaler vorliegt“, meinte Weber.
„Und wenn das raus kommt? Wie stehen wir dann da? Sie wissen doch …“, Beil schüttelte empört den Kopf.
Der Baustellenleiter schaute Beil und Lethge fragend an, sagte aber nichts.
„Okay“, sagte Langenberg grinsend. „Machen wir weiter. Bis wir neue Erkenntnisse haben. Unsere Meßprogramme laufen ebenfalls weiter. Die geben uns zusätzliche Sicherheit.“
„Wann liegt das Gutachten von Notaler vollständig vor? Ich meine, wann ist er mit allen Proben fertig?“, fragte Saling.
„Mit etwas Druck in einer Woche“, meinte Langenberg.
„Halten Sie mich auf dem Laufenden.“ Saling setzte sich zurück. Mehr war heute nicht zu machen. Er wußte, daß sie alle unter dem politischen Druck keine andere Wahl hatten. Jetzt war es an Beil, das Schlußwort zu finden.
„ Meine Herren, ich danke Ihnen für die fruchtbare Zusammenarbeit und schließe die Sitzung. Vielen Dank.“

Saling packte seine Akten in die Tasche. Lethge und Beil standen auf, um sich von den Mitarbeitern zu verabschieden. Sofort entstand eine erleichterte Stimmung im Besprechungsraum; einige fingen an, locker zu plaudern und sich über das bevorstehende Wochenende auszutauschen.
Saling winkte Weber zu sich: „Wenn der Salzstock keinen Grundwasserkontakt hat und es keine Strömungen gibt, warum ist dann das gesamte Wasser in der Schachtwand salzig? Wir sind doch noch zwanzig Meter über dem Salzstock?“
„Fragen Sie die Kollegen von der Bundesanstalt“, antwortete der, „mir hat man es untersagt, solche Fragen zu stellen.“
Saling sah ihn durchdringend an. In welche Abgründe schaute er hier? Ab sofort werde er sich täglich berichten lassen, das nahm er sich fest vor. Die anderen Herren zogen die Mäntel an und standen plaudernd in Grüppchen zusammen. Einige öffneten noch die bisher unberührten Saft- und Wasserflaschen und schenkten sich ein.

Plötzlich hörte man lautes Stampfen auf der Holztreppe, die zum Sitzungsraum führte, die Tür wurde aufgerissen und ein Arbeiter stürmte herein:
„Ein Unfall! Der Schacht ist eingestürzt! Rufen Sie Rettungswagen!“
„Ein Unfall? Warum melden Sie es nicht mit dem Telefon?“, fragte Witt.
„Telefon? Haben Sie eine Ahnung! Wie soll das gehen, wenn die gesamte Elektrik den Schacht hinunter ist?“
Beil schritt auf den Arbeiter zu: „Schaffen Sie mir den Obersteiger her! Ich verlange sofort Bericht!“
„Der Hansen? Den schafft Ihnen keiner mehr her. Den hat es zuerst getroffen, wo der stand, ist jetzt nur noch Schlamm und Schrott, meterhoch!“



Epilog: Beim Einsturz des Schachtes zum Bau des Atommüllagers in Gorleben am 12. Mai 1987 kam ein Arbeiter ums Leben, sechs weitere wurden schwer verletzt. Danach ruhte die Baustelle 20 Monate.

 
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Hallo Kritiker,

ich habe einige kleinere Änderungen vorgenommen. Die Geschichte bleibt schwer zugänglich; der Gedanke, einen Protagonisten herauszustellen und so durch die Identifizierung den Einstieg zu erleichtern, habe ich verworfen. Aus Sicht des Arbeiters wird es eine gänzlich andere Geschichte; aus Sicht eines Negativhelden wie Beyer (Bundesanstalt) würde es zynisch. Eine gewisse Herausstellung des Vorstandsmitgliedes Saling zieht sich ja durch die Geschichte; einer, der den Dingen auf den Grund zu gehen versucht und das Ende doch nicht abwenden kann.

Die Zahl der Beteiligten ist gegenüber Beispielen aus der Realität sehr reduziert; trotzdem macht sie die Geschichte unübersichtlich. Die Zahl zu reduzieren würde jedoch bedeuten, einzelne Akteure als Verantwortliche zu schildern. Es ist ein wesentliches Merkmal des geschilderten Entscheidungsprozesses, daß der einzelne sich durch die große Zahl der Beteiligten nicht mehr persönlich verantwortlich fühlt.

Im Gegensatz zu den Annahmen einiger Kritiker geht es mir nicht darum, zu zeigen, wie die Opfer es sehen (ihr da oben, wir hier unten), auch nicht darum, die Machenschaften der Atomlobby an den Pranger zu stellen. Auslöser der Geschichte war das Baustellenunglück in Köln, und mir geht es nur darum, die Entscheidungsprozesse in unserer Gesellschaft aufzuzeigen, gleich, wo sie stattfinden. Genauso gut und mißverständlich hätte ich die Geschichte der zwei Controller bei der UBS schildern können, die schon 2001 vor den Risiken des Engagements der UBS im amerikanischen Hypothekenmarkt gewarnt haben und daraufhin die Bank verlassen mußten. Oder von einem Spaceshuttle-Start, bei dem man sich über alle Warnungen hinweggesetzt hat (soll es schon gegeben haben). So gelesen beinhaltet die Geschichte einige allgemeingültige Informationen.

Dank für die Mühen,

Set

 

Ein Merkmal der Verteilung von Verantwortung in unserer Gesellschaft kann man der Geschichte entnehmen:
oben wird Verantwortung formal getragen, nicht inhaltlich, nicht menschlich, nicht mit Konsequenzen für das Leben. Diese Scheinverantwortung wird hoch bezahlt.
Unten, beim Arbeiter Hansen, wird Verantwortung menschlich getragen, hier werden Fehler wahrgenommen, hier wird für die Sache gedacht und gearbeitet und nicht für die Politik. Und hier wird mit dem Leben für die Fehler eingestanden. Das ist echte Verantwortung; sie wird in unserer Gesellschaft schlecht bezahlt.
Das ist allgemeingültig, egal wo man hinschaut. Die Banken liefern gerade schönes Anschauungsmaterial, stehen aber nicht allein.

Es bringt nicht viel, wenn sich Gleichgesinnte gegenseitig bestätigen und schon durch die Ausdrucksweise oder Form andere davon abhalten, auch nur zuzuhören.Zum Schluß der ganz große Rundumschlag: eine Keule gegen die, die der Geschichte folgen können.

Also ich kann aus eigener Erfahrung Susis Schlussfolgerungen bezüglich "Gleichgesinnter" bestätigen. Ich halte deine Ausführungen zur Verteilung von Verantwortung für ein derzeit sehr gängiges, vielgeschriebenes und eindimensionales Klischee..eben doch die typische Umschreibung zu "die da oben, wir hier unten" - auch wenn du das an anderer stelle verneinst..

gleichzeitig interessiert mich das Thema "ein wenig", so dass ich den Anfang deiner geschichte gelesen habe - und dann ausgestiegen bin, als es mir deutlich zu komplex und verwirrend wurde.. insofern hast du einen Leser verloren, der nicht zu den Gleichgesinnten gehört..dies nicht als Vorwurf an deine Geschichte - sondern eher als Bestätigung von Häferls Kritik bzw. Anmerkung.

viele grüße, streicher

 

Deine Geschichte, Setnemides, zeigt sehr anschaulich, welchen Pressionen beinahe jeder der Beteiligten ausgesetzt ist. Der erste Druck kommt von ganz oben – der Bundesregierung: Deutschland braucht Endlager für Atommüll, also muss nach geeigneten Standorten gesucht werden. Aufgrund des schlechten Rufs der Atomenergie, wehren sich Anwohner der Regionen der potentiellen Standorte umgehend. Selbst wenn alle Gutachten ergeben würden, irgend eine Gesteinsschicht in 1000 m Tiefe an einem bestimmten Ort wäre sicher, es würde trotzdem protestiert werden, nicht zuletzt mit dem Hinweis, ein anderer Ort wäre sicherer, denn zu jedem Gutachten gibt es ja Gegengutachten. In Grunde ist das aber nur der ganz gewöhnliche Egoismus, den man im Kleinen auch hier in München beobachten kann: Die Container für Glas, Plastik und Metall sollen nicht zu weit vom eigenen Haus stehen, aber auch nicht zu nah, weil sie nicht schön sind und zu viel Verkehr und Lärm verursachen und anderen Müll anziehen, der dann herumliegt und Umgebung verschandelt.

Was ich damit sagen will: Ohne politischen Druck geht es nicht, irgendwann muss eine Entscheidung getroffen und durchgesetzt werden. Und politisch heißt, der Ort wird nach opportunistischen Gesichtspunkten ausgesucht, d.h. meistens dort, wo man am wenigsten Widerstand erwartet bzw. am leichtesten auf Wählerstimmen verzichten kann: Gorleben war damals Zonenrandgebiet, und heute wollen Tschechien und Schweiz ihre neuen Kernkraftwerke nahe der Grenzen zu Deutschland bauen.

Ich will das jetzt nicht weiter ausführen, aber in deiner Geschichte wird deutlich, wie schwierig es ist, unterschiedlichen Interessen gerecht zu werden: Die Leute haben eben ihre Motive, warum sie so und nicht anders handeln. Diese Motive sind alle gleichberechtigt, wenn auch mitunter moralisch verwerflich. Soll man Langenberg nun seinen Ehrgeiz und Weber mangelnden Mut vorwerfen? Warum hat der Baustellenleiter Witt nicht sein Veto eingelegt? Durch sein Wissen und Position wäre er dazu in der Lage und niemand hätte sich darüber hinwegsetzen können. Aber nach Lage der Dinge wäre er anschließend wahrscheinlich abgelöst worden und wer will schon seinen Arbeitsplatz riskieren?

Um die Geschichte - und die Geschehnisse selbst – zu verstehen, reichte mein Schulwissen über das Wirken von Salz bei Kälte und Schnee. Auch Hansens Plattdeutsch war kein Problem: Die entscheidende Worte (Schachtwand, trägt nich , Watereenbruch, Hohlräume) konnte ich verstehen. Das heißt: Du hast die nötigen Informationen gut rübergebracht.

Bei den Charakteren könnte man noch etwas tiefer gehen – damit man deren Beweggründe besser versteht. Denn so ist diese Geschichte eine einzige Anklage gegen die „böse“ Politik, obwohl sie "nur" das tut, was nötig, machbar bzw. durchsetzbar ist. Was nebenbei auch ihre Pflicht ist. Und hier wird schon klar, wo das Problem liegt: Wenn alle nur ihre Pflicht tun, dann kommt es irgendwann zu Katastrophe - alles schon dagewesen.

Was man also braucht, ist Zivilcourage. Das Land braucht Leute, die mehr als ihre Pflicht tun. Die handeln, wenn sie sehen, dass etwas schief läuft. Obwohl das nicht einfach ist, weil davon irgendwo immer irgendwer betroffen ist. Zur Illustration zitiere ich von castor.de:

„An der Eignung des Salzstocks Gorleben bestehen Zweifel. Daher soll die Erkundung unterbrochen werden und weitere Standorte in unterschiedlichen Wirtsgesteinen auf ihre Eignung untersucht werden. Aufgrund eines sich anschließenden Standortvergleichs soll eine Auswahl des in Aussicht zu nehmenden Standorts getroffen werden."

Diese Passage des Koalitionsvertrages (KV), wie er zwischen Grünen und SPD im Herbst 1998 niedergeschrieben wurde, führt voraussichtlich zu einer Unterbrechung der Bauarbeiten im sogenannten "Erkundungsbergwerk" Gorleben ("Moratorium"). Bei seinem Antrittsbesuch im Wendland am 10. Februar 99 ließ Bundesumweltminister Jürgen Trittin eine Pressemitteilung verbreiten, in der die Prüfung aller Rechtsfragen in Verbindung mit einem solchen Moratorium bis Ostern in Aussicht gestellt wurde. Tagsdrauf beruhigte er die aufgeschreckten Bergleute: ein Moratorium sei nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Bauarbeiten in Gorleben.

 

Danke, Dion, für den ausführlichen Kommentar. Gorleben bleibt ja noch lange in den Schlagzeilen, und so gibt es immer wieder Anlaß, über die Anfänge zu reflektieren.
Ich stand im Zwiespalt zwischen lesetauglich und authentisch, wie so oft. Es sind zu viele zu schlécht dargestellte Personen, einerseits. Es sind viel zu wenige, um ein Grundprinzip der katastrophengenerierenden Entscheidungsprozesse deutlich zu machen: immer sind so viele beteiligt, daß der Einzelne seine Verantwortung nicht mehr spürt. Und in diesem Punkt liegt die Brücke zum Unglück in Köln: das war dort genauso.

Denn so ist diese Geschichte eine einzige Anklage gegen die „böse“ Politik, obwohl sie "nur" das tut, was nötig, machbar bzw. durchsetzbar ist. Was nebenbei auch ihre Pflicht ist. Und hier wird schon klar, wo das Problem liegt: Wenn alle nur ihre Pflicht tun, dann kommt es irgendwann zu Katastrophe - alles schon dagewesen.

Nein, "böse" ist die Polititk nicht, sind auch "die da oben" nicht immer - sie alle sind Gefangene einer gesellschaftlichen Struktur. Dafür finde ich Dein Beispiel mit Jürgen Trittin symptomatisch (und nicht etwa für seinen Charakter): gründe eine Partei, beteilige Dich, dann wirst Du so enden.

Ich schrieb schon, daß ich in Ermangelung ausreichender Phantasie, so viele Charaktere zu erfinden, einfach meine Kollegen genommen habe - ich komme auch selbst vor. Ich fürchte fast, Du hast es gemerkt.

Danke, Gruß Set

 

Nicht nur Gorleben & Kölle,

lieber Set,

allgemeiner noch in einer durch die Wirtschaft bestimmte Welt: wirtschaftliche Interessen bestimmen heute alles, selbst die Universitäten, Hort der "freien" Forschung & Lehre. Und wie das System nicht einmal weiß, wie die Krise enden wird, zeichnet sich schon ab: es wird so weitergehen wie vorm September 07. Kann auch gar nicht anders sein: die Lehre(r) an den Hochschulen bleibt(-en) identisch, Volkswirtschaften werden von Mikroökonomen gesteuert, welche die Welt in Quartale zerhacken.

Das gilt auch für Kölle: was zählen schon zwo Tote? Ab, unter die Erde oder in die Urne mit ihnen!

Es wird merkwürdig ruhig, nachdem erst einmal erstaunlich viel Archivmaterial gerettet erscheint. Einzig Schramma scheint Schrammen abbekommen zu haben. Der Ärmste!

Kann etwas anderes herauskommen, wo Entscheidungsträger die gleichen bleiben? "Die" Wirtschaft "die" Macht hat?

Nix für ungut

Friedel

 

Hallo Friedel,

wirtschaftliche Interessen bestimmen heute alles, selbst die Universitäten,

ich denke, das war auch vor 1000 Jahren so, als die ersten unser heutigen, westeuropäischen Universitäten gegründet wurden. Wissen war Macht, auch Wirtschaftsmacht, nicht nur Hobby oder Dünkel. Der Unterschied liegt eher darin, wie schnell die wirtschaftlichen Interessen ihre Investitionen amortisiert sehen wollen, sprich: welchen Planungshorizont haben sie? Da waren früher schon mal mehrere Jahrzehnte oder sogar ein Jahrhundert eine sinnvolle Planungsperspektive, heute freut man sich, wenn es Jahre sind und nicht nur Monate. Das wirkt sich natürlich sehr auf den Charakter von Forschung und Lehre aus.
Um zur Geschichte zurückzukommen: für die Nachhaltigkeit technischer oder umweltrelevanter Lösungen gilt dasselbe.

Gruß Set

PS: Kölle ist ja erfolgreich aus den Mediuen verschwunden. Hört man den wenigstens in der Stadt selbst noch etwas? Hat man Schuldige bestimmt?

 

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