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Kuckuck Courage
Kuckkuck Courage
Grete öffnete ein waches Auge. Der Kuckuck im Wohnzimmer zwitscherte zweimal. Alte Menschen kommen mit wenig Schlaf aus, heißt es, aber sie fragte sich kaum ernsthaft, ob die Alten überhaupt noch Schlaf bräuchten. Nacht für Nacht wollte keine Müdigkeit in ihr aufkommen. Und wieder einmal quälte sie sich aus dem Bett und schlich durch die Dunkelheit und Stille ihrer Wohnung ins Wohnzimmer, in das nur fahles Mondlicht durch die Gardine drang.
Vor der Wanduhr blieb sie stehen und sah bestätigt, was sie gerade gezählt hatte - es war kurz nach zwei. Sanft strich sie über den Kasten, stützte sich auf die Lehne des Sessels und ließ sich ächzend hineinfallen. Die Kuckucksuhr erinnerte sie an Otto, so wie es die Bilder taten, die links daneben hingen. Es war ihr mutiger Otto, und, obwohl doch schon so viele Jahre seit seinem Tod vergangen waren, schüttelte sie noch manchmal den Kopf. Sie blickte zu den schwarzweißen Fotos, zwar fehlte es an Licht, den adretten Mann auf diesen zu erkennen, aber was musste sie noch erkennen, was sie sowieso schon tausendmal angesehen hatte?! Und sie fand sich wieder in ihren Gedanken.
„Wenn sie dich erwischen, Otto. Das ist doch viel zu riskant.“
„Liebes, jetzt haben sie eine Chance. Es muss heute Nacht sein.“
Ihr Gesicht versteinerte sich. Otto war ein guter Mann gewesen, in den sechs Jahren ihrer Ehe. Er war galant gewesen, zärtlich und rücksichtsvoll, und Grete vertraute gern auf seine Verlässlichkeit. Auf dem Hochzeitsbild sahen beide ernst aus; ernstes Zeugnis eines überglücklichen Tags. Und das Portrait daneben, beide heiter als stolze Eltern eines Säuglings, ihres Töchterchens.
„Wohin geht Papa?“
„Du gehst ganz schnell wieder zu Bett!“
„Wohin geht Papa, denn? Warum weinst Du?“
„Komm her, Lenchen, komm! Hab keine Angst. Papa kommt wieder.“
Grete lehnte ihren Kopf zurück und schloss halb ihre Augen. Otto war ein gütiger Vater gewesen. Lena liebte diesen großen Mann, aber sie sprachen heute nicht mehr von ihm. Heute sprachen sie über die Alltagssorgen. Lena hatte nicht mehr so viel Zeit, sich um ihre Mutter zu kümmern. Sie wohnte viel zu weit weg. Grete versuchte, selbstständig zu bleiben, aber sie musste sich gestehen, dass sie alt geworden war. Immer blickte sie dann auf das Bild ihres verstorbenen Mannes und schöpfte Kraft von ihm. Otto war stark gewesen. Sie war stark durch ihn, so stark, wie sie sein musste, damit sie nicht auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen war.
„Alles Gute zum Hochzeitstag!“
„Du strahlst ja so! Was hast du hinter deinem Rücken versteckt? Los, zeig her! Zeig mir das! Otto!“
„Hol es dir, wenn du kannst.“
„Na, warte, ich kriege dich.“
„Du? Niemals! Halt! Schon gut, schon gut! Ich gebe auf.“
„Siehst du, du kitzliger Mann? Und jetzt zeig her!“
„Das habe ich …“
„Eine Kuckucksuhr! Sie ist so schön!“
Grete legte ihre Hände in den Schoß und lauschte in die Ruhe. Leise tickte der hölzerne Zeitgeber an der Wand. Jede Kerbe und jeder Schnitzer war von Ottos Händen. Zwei eichelförmige Pendel hingen herab.
„Sie sind verhaftet. Sie werden verdächtigt, Mittäter zu sein.“
„Was wissen sie von den Aktivitäten ihres Mannes?“
„Ich verstehe nicht, was meinen Sie? Wonach suchen Sie?
Lenchen, geh in dein Zimmer!“
„Wo haben sie diese Personen das erste Mal getroffen?“
„Wer ist noch daran beteiligt?“
„Ich kenne diese Menschen nicht auf ihren Fotos. Beteiligt woran? Lenchen, ich habe dir gesagt, dass du auf dein Zimmer gehen sollst. Was machen Sie da? Bleiben Sie von meiner Tochter weg.“
„Warum denn? Sie darf ruhig wissen, dass ihr Papa ein Vaterlandsverräter ist. Kleine, dein Papa wollte Judenschweinen zur Flucht verhelfen.“
Ganz kurz ging ein Lichtstrahl durchs Zimmer. Die alte Frau weitete ihre Augen und schaute auf. Sie stemmte sich hoch und schob sich an die Seite vom Fenster. Zwei Taschenlampen suchten die Gegend ab, blickten in die Wohnungen. Stimmenzischen! Grete verschmolz regungslos mit der Dunkelheit. Ihr Herz schlug Pauken, als sie beobachtete, wie die finsteren Gestalten eine Stange ansetzten und begannen, das Fenster gegenüber aufzustemmen. Wieder geisterte ein wachender Kegelschein in ihr Zimmer. Grete blickte verstohlen zum Telefon, das zwischen den Blumen auf der Fensterbank stand. Was würden die Einbrecher machen, wenn sie erkennen, dass sie beobachtet werden. Vielleicht waren sie gefährlich und brutal, dann würden sie ihr Gewalt antun. Oder sie liefen weg, und die Polizei würde dann am Geisteszustand einer alten Frau zweifeln. Grete blickte zu Boden. Sie wollte nicht mehr sehen; denn was sie nicht sieht, ist nicht da. Eigentlich fühlte sie sich auch schon müde, sie würde sicherlich sofort einschlafen.
Vielleicht waren sie gefährlich und brutal, dann würden sie den Menschen Gewalt antun, in deren Wohnung sie einbrechen.
„Ihr Mann hätte aufgeben können, als er die Straßensperre sah, dann wäre er wahrscheinlich mit einer Gefängnisstrafe davon gekommen.“
„Warum hat er das nicht getan?“
„Es wäre der sichere Tod gewesen für diese Juden. Der Wagen stoppte, so als wollte ihr Mann über seinen nächsten Schritt nachdenken. Dann aber gab er Gas.“
„Haben Sie auch geschossen?“
„Ich war Soldat.
Ich wollte Ihnen sagen, dass es mir Leid tut und dass mich diese Erinnerung mein Leben lang begleiten wird. Bitte vergeben sie mir! Ihr Gatte war ein bewundernswert mutiger Mann.“
Grete schreckte hoch. Was sonst so leise war, drang in ihr Ohr wie ein Schuss aus einem Gewehr. Nur ein einziger Ruf vom Kuckuck! Mit großen Augen starrte sie für den Bruchteil eines Moments auf die Wanduhr, als sie sich dann mit entschlossenem Mut ins Fenster stellte und nach dem Hörer griff.