Kurz vor 15 Uhr am Dienstag
Die Türen öffnen sich und wie üblich wallt mir eine warme Woge stickiger, menschelnder Luft entgegen. Riecht es heute stärker als sonst? Blöde Frage, es riecht jedes Mal strenger als das letzte Mal. Das hat die Luft hier unten so an sich. Augen zu und durch, so nehme ich die unsichtbare und doch massive Barriere ins Innere. Ich bleibe stehen, lehne mich an die Wand und warte darauf, dass sich meine Lungen an ihre neue Umgebung gewöhnen. Langsam rollt der Zug vorwärts, ab in die schwarze Röhre. Allmählich beruhigt sich meine Atmung, nur die Nase rebelliert weiter. Ich mahne sie noch ein wenig Geduld zu haben.
Endlich sehe ich mich um und bin erstaunt, wie voll der Zug um diese Uhrzeit ist. Sonst fahre ich nur morgens oder abends. Im Berufsverkehr ist immer viel los. Aber jetzt, kurz vor drei, was machen die alle hier? Ein paar Schüler könnten schon frei haben und natürlich Pensionisten, der Rest jedoch müsste arbeiten. Vielleicht müssen die Leute zum Arzt, oder noch schnell zu einer Behörde. Ein paar könnten auch Urlaub haben. Ja so wird es sein. Die Oma in der Sitzecke zu meiner Rechten ist sicher schon in Rente. Bei ihrem Anblick frage ich mich unwillkürlich, ob es 1960 auch schon Kleiderspenden gegeben hat. Gewiss, denke ich, warum auch nicht. Verblüfft stelle ich fest, dass ich eigentlich überhaupt keine Ahnung habe, wie ein Alltagsleben damals ausgesehen hat. Bei Gelegenheit werde ich zu Hause mal nachfragen. Damit schiebe ich den Gedanken beiseite und setze die Betrachtung meiner Umgebung fort. Die beiden Kerle, die an der Wand gegenüber lümmeln, sehen ganz klar nach Bauarbeitern aus und sie verströmen den Duft harter Arbeit. Nein, nicht ganz – harte körperliche Arbeit und Käsesemmeln, das passt. Ich kann sogar noch die Krümel im Mundwinkel des Jüngeren erkennen. Es wundert mich, dass die schon Schluss haben. Aber wer so riecht, wird sicher nicht nochmal in die Arbeit gehen. Ganz ausgeschlossen. Dann sind da noch die drei coolen Kids, deren andauerndes Lachen auf eine Serie unglaublich komischer Erlebnisse schließen lässt. Ich bin leicht genervt, denn mein Leben ist nicht so lustig, dabei gebe ich immer mein Bestes. Daneben sitzt zusammengesunken eine Frau, vermutlich schon jenseits der 40. Auch ihr Leben scheint nicht so lustig zu sein. Ihre Mundwinkel beugen sich unter einer struppigen, fettigen Mähne der Schwerkraft. Sie könnte Putzfrau sein.
Jetzt wird es heller, bunte Schemen flitzen an den Scheiben vorbei. Die Bahn hält. Eine junge Frau mit Kind und Kinderwagen verlässt das Abteil. Zurück bleibt ein Hauch von Knoblauch. Die physische Leere, die sie hinterlassen hat wird von neuen Gestalten gefüllt. Und weiter geht’s. Ich starre nach Draußen ins Dunkel, bis meine Aufmerksamkeit durch den Geruch von Eau de Toilette gefangen wird. Erst jetzt nehme ich den gepflegten Herrn im Anzug wahr. Er muss gerade zugestiegen sein. Wie viel behaglicher ich mich augenblicklich fühle! Ich wette, dass er gleich seine Zeitung zücken wird – und gewinne. Er sieht sich um und steuert auf den freien Platz zu, den die Kinderfrau eben geräumt hat. Nein! Nicht dahin setzen. Da hat das Kind gerade noch mit seinen Schuhen drauf herumgetrampelt. Mein innerlicher Aufschrei nützt nichts, wie schade um den schönen Mantel.
Plötzlich fährt mir ein heftiges Kribbeln über den Rücken. Wer zum Teufel hat wohl vor mir an dieser Wand gelehnt und seinen Kopf wie ich jetzt an diese Scheibe gedrückt? Ich male es mir aus. Eine Mischung der übelsten denkbaren Gestalten steht an meinem Platz. Hässlicher Ekel packt mich, ich will unter die Dusche, meine Haare waschen, es juckt auf einmal so sehr. Und den kalten Schweiss abwaschen. Vielleicht fange ich jetzt auch schon an zu stinken. Nach Angst, oder dem was mittlerweile an mir klebt, in meine Kleidung gekrochen ist. Überhaupt, wieso fahren hier so gut wie keine normalen Leute mit! Etwa zwei Duzend im Wagen und alle so heruntergekommen! Was ist nur los! Es sind weniger als drei Stunden bis zur Rush Hour, und doch Welten.
Wieder ein Halt. Noch zwei Stationen, dann bin ich frei. Neue Gerüche, weitere Eindrücke. Es wimmelt von Pennern. Höhlenmenschen. Tieren. Vielleicht kommen sie nicht nachts aus ihren Verstecken gekrochen sondern jetzt, kurz vor 15 Uhr am Dienstag. Dampfschwaden steigen von der Person hinter dem Anzug auf. Was zum – !? Meine Knie werden weich und die Sinne schwinden. Sehe ich das Dunkel hinter meiner Stirn oder blicke ich wieder aus dem Fenster?
Noch ein Halt. Wieder tauschen Wesen ihre Plätze. Wieder beschleunigen wir. Hat der Typ da gerade mit dem Schwanz gewedelt! Ich stütze mich mit der Hand an der Türe ab, höre mich „wahrscheinlich Hund“ stöhnen, zweifle und denke an Mikroben und Parasiten.
Dann wird meine Hand weggerissen, die Türe steht offen. Die Farben der Haltestelle kommen mir bekannt vor. Ich bin da! Stolpere hinaus und muss mich setzen. Nach einer Weile hört das Zittern auf, ich beruhige mich. Mein Termin fällt mir ein. So eine Höllenfahrt für ein nur 45 minütiges Gespräch.
Mühsam raffe ich mich auf und beschließe nach der Therapiestunde noch einen Kaffee trinken zu gehen, so für ein zwei Stunden. Oder soll ich mir für die Rückfahrt gleich ein Taxi nehmen?