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Láska
Abermals: Für J.
Auch ist das vielleicht nicht eigentlich Liebe,
wenn ich sage, dass Du mir das Liebste bist;
Liebe ist, dass Du mir das Messer bist,
mit dem ich in mir wühle.
- Franz Kafka -
Die Luft an diesem Februarabend war kühl, ein leichter Wind blies durch die verwinkelten Gassen der Prager Altstadt - doch sie fror nicht. In seiner Nähe fror sie nie. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und ließ ihre letzten Strahlen auf der ruhig dahinfließenden Moldau tanzen. Ein Abschiedsgruß, bevor sie für die lange Nacht hinter dem Horizont verschwinden und die Geschicke der Menschheit dem Mond und den unzähligen Sternen überlassen würde.
Schweigend liefen sie nebeneinander her. Hin und wieder zeigte sie ihm Gebäude oder Plätze an denen sie vorüber kamen und war froh, das Schweigen wenigstens für eine Weile brechen zu können. Sie war überwältigt von der Schönheit dieser Stadt, der Burg, die hoch über der Stadt trohnte, den imposanten Brücken, die sich über den Fluss spannten, den verwinkelten Nischen und Gassen und dem Gefühl, in einer anderen Zeit gelandet zu sein. Die so genannte „Goldene Stadt“ hatte bereits bei ihrem ersten Aufenthalt vor einigen Jahren einen irrealen Reiz auf sie ausgeübt. Sie fühlte sich schon damals in eine andere Welt versetzt und ihr eigentliches Leben schien ihr unendlich weit weg. Es war dieses Gefühl von Freiheit, das sie mit Prag untrennbar verband.
Nun war sie wieder hier. Mit ihm. Sie dankte dem Zufall, denn sie hatten die anderen im Getümmel der U-Bahn-Station aus den Augen verloren und waren deshalb alleine weiter gefahren. Sie hatte den Mut aufgebracht und ihn gefragt, ob sie ihm ein wenig die Stadt zeigen sollte, bevor sie die anderen einholten und war glücklich, dass er eingewilligt hatte. Für einen Moment empfand sie das Gefühl der absoluten Perfektion eines Augenblicks. Diese Stadt. Er an ihrer Seite. Perfekt. Fast.
Langsam schlenderten sie über das Kopfsteinpflaster der Karlsbrücke, die bereits zu dieser Jahreszeit von einigen Portraitmalern, Souvenierhändlern und Kleinkünstlern bevölkert war. Die Laternen beleuchteten schwach das Pflaster und die dreißig Heiligen schienen die Brücke schützend zu umsäumen.
Auf einem Schemel neben dem Heiligen Nepomuk saß ein alter Mann, dessen lichtes, graues Haar nur durch eine schief sitzende Schiebermütze bedeckt wurde. Um seinen Hals wand sich ein grüner Schal, dessen Enden er in seine braune Cordjacke gesteckt hatte.
Man sah in seinem Gesicht, dass das Leben seine Spuren hinterlassen hatte – schöne und schmerzliche. Auf seiner Staffelei zeichnete er ein Pärchen, das verliebt an der Brückenmauer lehnte. Obgleich er im Laufe der Jahre unzählige solcher Pärchen gesehen und gemalt hatte, zauberte dieser Anblick ein Strahlen in sein Gesicht – weil er an die Liebe glaubte.
Sie wandte sich ihm wieder zu und erklärte ihm, dass die Einheimischen daran glaubten, dass sich Wünsche erfüllen, wenn man die Figur des heiligen Nepomuk berührt. „Hast du denn auch einen Wunsch?“ fragte er und sah sie an. „Ja, den habe ich.“ entgegnete sie vorsichtig und lenkte ihren Blick wieder auf das Pärchen und den alten Maler.
Sie betrachtete diese Szene für eine Weile, lächelte und stellte sich vor – wünschte sich - dass sie dieses Pärchen wären und dass er sie so in seinen Armen halten würde. Auch er hatte dieses Szenario bemerkt und sie konnte erkennen, dass es ihn ebenfalls zu berühren schien.
Obwohl sie den Glauben der Einheimischen nicht wirklich ernst nahm, ging sie zu der Statue und legte ihre Hand auf das Bild des Heiligen.
Vorsichtig warf sie ihm einen Seitenblick zu und wieder einmal wurde ihr bewusst, warum sie ständig das Gefühl hatte, ihn ansehen zu müssen, warum er sie so faszinierte. Seine blauen Augen reflektierten das warme Licht der untergehenden Sonne, die Brauen und Wimpern bildeten den makellosen Rahmen um dieses lebendige Gemälde seines Gesichts. Sie ließ die Statue los und ging langsam zu ihm zurück. Für einen Moment schloss sie die Augen, atmete tief ein, als wolle sie die Zeit zum Stillstehen zwingen und spürte, dass sie nur hier, an diesem Ort – hier am anderen Ende ihres Lebens - das tun konnte und musste, worauf all die letzten Monate sie hingeführt hatten.
Sie fühlte, sie wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, all das Grübeln und Nachdenken zu beenden. Ihr Wunsch würde sich nicht durch das Berühren einer Statue erfüllen. Sie musste handeln. Jetzt oder nie. Reden oder Schweigen. Gewinnen oder Verlieren.
Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Ihm war nicht entgangen, dass sie abwesend war und dass sie etwas beschäftigte. „Was ist los? Geht’s dir nicht gut?“ fragte er und Besorgnis lag in seinem Blick. Sie wich diesem Blick aus, zögerte, doch dann sah sie ihn an. In ihren Augen funkelte der Mut der Entschlossenheit und wie sie fürchtete, ihres Untergangs.
Sie erhob leise und zitternd die Stimme. „Ich liebe dich.“
Unzählige Male hatte sie ihm diese Worte bereits in ihren Gedanken gesagt, wann immer sie in seiner Nähe war und ebenso oft hatte sie versucht, vor diesen Worten zu fliehen, wenn sie unerträglich wurden. Jetzt da sie sie ausgesprochen hatte, wurde ihr beinahe schwindelig.
In diesen drei Worten lag alles, was in den letzten Monaten an Gefühlen gewachsen und über sie hereingestürzt war. Ja, sie liebte ihn und endlich hatte sie es gesagt. Es war ihr, als könne sie nach Monaten zum ersten Mal wieder atmen. Sie atmete tief ein und spürte wie die Luft, die unverkennbar noch nach Winter roch, kalt und klar in ihre Lungen strömte. Nun war sie bereit für seine Antwort, wie auch immer diese lauten würde. Sie hatte sich aus der Sicherheit des Nicht-Wissens heraus gewagt und musste sich nun der Wirklichkeit stellen. So stand sie jetzt vor ihm. Zitternd. Nicht vor Kälte, aber zitternd aus Angst vor seiner Antwort, vor seiner Reaktion. Ihr Blick glitt hinab auf die Moldau, die weiterhin ruhig vor sich hinfloss. Die Welt befand sich im Dämmerzustand. Der Himmel um sie herum bäumte sich noch ein letztes Mal in leuchtendem Rot auf, bevor er sich der Nacht ergab. Die Sekunden vergingen und erschienen ihr wie Jahre. Nichts geschah. Er sagte kein Wort. Sie hörte nur den Schlag ihres Herzens und das leise, beständige Rauschen des Wassers. Sie spürte mit jeder Sekunde die verstrich, wie ihre Kehle trockener wurde, sich ihr Hals weiter zuschnürte, wie sich ihre Hände an der Brückenbrüstung verkrampften und wie ihr Blick verschwamm.
Dann spürte sie eine Berührung. Seine Berührung. Behutsam löste er ihre Hände von den kalten Steinen, nahm sie in seine und zog sie näher zu sich. Schweigend sah er sie an. Sie schloss die Augen, um ihren Tränen Einhalt zu gebieten. Im gleichen Augenblick fühlte sie seine Lippen auf ihren. Er küsste sie. Er ließ sie schmecken, wonach sie sich schon so lange sehnte. Vorsichtig, als könne sie etwas beschädigen, als könne sie diesen Moment zerstören, gab sie sich der Unglaublichkeit dieses Gefühls, der Unglaublichkeit seiner Nähe, hin. Jetzt wusste sie, wie es war, wenn die Zeit wirklich still steht. Nach einer scheinbaren Ewigkeit lösten sie sich voneinander. Noch immer hielt er ihre Hände fest in seinen. Lächelnd und glücklich sah sie ihn an. Aus ihren Augenwinkeln entdeckte sie den alten Mann, der eben das Pärchen gezeichnet hatte. In seiner von Zeichenkohle geschwärzten Hand hielt er ein zusammengerolltes Blatt Papier und bedeutete ihr, dass sie es nehmen sollte. „Láska…“ sagte er und lächelte. Vorsichtig nahm sie das Papier in die Hand, rollte es auseinander und sah, dass der alte Mann für sie die Zeit angehalten hatte…