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Lächeln
Ich habe diesen Krieg nicht gewollt. Doch wer fragt mich? Wen interessiert meine Meinung? Sie hatte niemanden interessiert, als die Mächtigen den Krieg begannen, sie interessierte niemanden, als die ersten Soldaten im Kugelhagel fielen und heute sind fast alle tot, die sich dafür interessieren könnten. Tot.
Aber spielt das noch eine Rolle? Spielt überhaupt irgendetwas eine Rolle, wenn man auf die zerbombten Überreste seiner Welt blickt und versucht, ein Muster in den Trümmern zu erkennen, einen Sinn hinter all der Sinnlosigkeit? Nichts zählt mehr, außer der Erkenntnis, dass es keinen Sinn gibt. Nur Ruinen, Rauch und Tod. Asche und Staub und Leichen, die zu Asche und Staub werden. Irgendwann. Bis dahin sind sie blutige Zeugnisse verstümmelter Menschlichkeit und verpesten die Luft. Wenn es einen Gott gibt, muss er den Gestank von Zerstörung und Tod lieben. Oder eine Gasmaske tragen.
Nein, ich habe diesen Krieg nicht gewollt, aber der Krieg wollte mich, als er vor einem Monat seine Finger nach meiner Einheit ausstreckte. Der Feind überrannte uns, tötete ohne Gnade. Er kam überraschend, ließ uns keine Zeit zur Gegenwehr. Ich weiß noch wie ich rannte, floh, den Tod vor Augen und die Sterbenden hinter mit. Ich lief, bis ich ihre Schreie nicht mehr hören konnte; lief, bis sie in meinem Kopf wieder zu schreien begannen. Ich floh, die Front folgte mir, Bomberstaffeln liefen voran, zerstörten die Städte. Ich stolperte durch die Trümmer, auf der Suche nach Unterkunft, Nahrung und freundlichen Gesichtern. Doch ich fand nur Fratzen. Die einzigen Gesichter, die lächelten, waren die Gesichter der Toten. Ja, ich kann schwören, dass sie lächelten. Sie haben diese Welt verlassen, befinden sich hoch über der Zerstörung, über den Bomben, die vom Himmel fallen. Meinetwegen auch tief darunter, in den Feuern der Hölle oder im Nichts. Egal wo, alles ist besser als hier zu sein. Hier, in dieser ausgebrannten Schule, die seit drei Tagen mein Heim ist.
Ich will nicht mehr fliehen, bin es leid, wegzurennen. Warum laufen, wenn es kein Ziel gibt, wenn die Zuschauer tot sind und die Bahn aus ihrer Asche besteht?
Schüsse. Die Front rückt näher. Gestern hörte ich zum ersten Mal die Artelleriegeschütze. Leise, wie ein fernes Gewitter. In der Nacht setzten die Maschinengewehre ein, heute morgen spürte ich die Vibrationen der Granaten, sah im Zwielicht Feuerschein auf der alten Tafel tanzen. Sie kommen näher, werden bald hier sein. Die letzten Überlebenden, die noch an der Front kämpfen, werden sie nicht aufhalten. Der Feind kommt. Aber was heißt überhaupt Feind? Es ist nur ein Wort, eine Bezeichnung für die, die auf der anderen Seite stehen. Es sind nicht meine Feinde, es ist nicht mein Krieg.
Ich stoße mich von der Wand ab und gehe zum Fenster. Rauch hängt über den Ruinen wie Nebel über Friedhofbäumen. Die Geräusche des Krieges dröhnen durch die leeren Straßen, die noch vor Anbruch der Dunkelheit nicht mehr leer sein werden.
„Komm vom Fenster weg. Sie könnten dich sehen“, sagt Karl.
Ich blicke ihn an und zucke mit den Schultern.
„Und wenn schon.“
„Du kannst dich meinetwegen erschießen lassen, ich werde kämpfen“, sagt er.
Karl glaubt immer noch daran, dass dieser Krieg zu gewinnen ist. Er ist Soldat, hochdekoriert. Karl war schon hier, als ich ankam. In seiner besten Uniform hieß er mich willkommen.
„Wofür willst du noch kämpfen“, frage ich ihn.
Die Gesprächspause wird von einer Granatexplosion erfüllt. Alles vibriert, Putz und Ruß rieseln von der Decke. Ich setze mich auf den Boden.
„Wir können nicht mehr gewinnen. Wir haben verloren, sind verloren.“
„Vielleicht. Aber wenn nicht für den Sieg, dann kämpfe ich wenigstens für die Ehre, für das Vaterland.“
Ich schnaube verächtlich. Karl ist ein Narr.
„Hörst du das“, frage ich ihn. „Hörst du die Maschinengewehre, die Explosionen? Glaubst du, unter ihrem Banner sterben Soldaten als Menschen und werden zu Helden?“
„Ja“, antwortet er. „Ja, das glaube ich.“
„Glaubst du, sie lächeln?“
Karl schweigt. Draußen brüllt der Krieg immer lauter. Wir schweigen beide. Ich habe keine Lust mehr zu reden, will keine von Karls Geschichten hören. Sie waren mir schon zuwider, als er mir das erste Mal seine Orden zeigte und von Ehre, Tapferkeit und Stolz erzählte.
Ich stehe auf, gehe zur Tafel. Sie lehnt lose an der Wand, die letzten Kreidespuren wurden vom Ruß getilgt. Ich stecke meinen Fuß hinter die Tafel und kippe sie um. Hier wird sie nicht mehr gebraucht. Lehrer und Schüler sind tot oder an der Front. Oder weinen um die, die tot oder an der Front sind.
Ich sehe zu Karl, betrachte die Schusswunde in seinem Kopf. Das Blut ist längst getrocknet, sein Feldmesser liegt in einer verkrusteten, roten Lache. Karl war schon tot, als ich hier ankam. Er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten und danach erschossen. Seine Orden liegen wahllos im Raum verstreut, zerkratzt, die Bänder zerrissen.
An einer rußfreien Stelle hat er mit seinem eigenen Blut ein Wort an die Wand geschrieben, seine letzte Frage an die Welt – Warum?. Niemand hat ihm geantwortet, weil niemand die Antwort kennt.
Ich falle auf die Knie und fange an zu weinen. Ich heule, obwohl ich weiß, dass ich bald wieder lächeln werde. Lächeln.