Lähmung
Langsam und öde rollt sein Zug in den Bahnhof ein. Er schreckt hoch und fühlt sich von den plötzlichen Lichtern und dem Gewimmel auf den Bahngleisen bedrängt. Der Hauptbahnhof der Landeshauptstadt weiß es wahrhaftig, die schattenlose Dunkelheit, die sich durch die heutige Nacht zieht, zu durchbrechen.
Eben hatte er noch befriedigt aus dem Fenster hinaus in die gleichförmige Dunkelheit gestarrt. Nur hier und dort gab die Landschaft ein paar kleine Lichtoasen preis, dann drückte er seine Stirn an das kalte Fensterglas und träumte von kleinen, gemütlichen Städten, von Dörfern und von einer Heimat.
Niemand saß in seiner Nähe, der ihn hätte beobachten können und so er fühlte sich frei von den lästigen Gedanken an andere Menschen, nur noch er und die wühlende Welt, die in ihm die unbändige Sehnsucht hervorrief und einen gewissen, immerwährenden Weltschmerz.
Die schläfrige Durchsage des Schaffners, die die nahe Ankunft in dem großen Bahnhof ankündigte, riss ihn aus seiner Ruhe und schaffte eine unbestimmte Wut, ein Unwohlsein in ihm, welches er stets verspürte, wenn er nicht frei war, zu verhindern, was er nicht leben wollte.
Er wünscht sich die Dunkelheit zurück, wendet sein Gesicht von dem lichten Treiben draußen vor der Fensterscheibe ab und massiert sich mit den Fingerspitzen seine Schläfen. Seitdem er die Tabletten gegen seine üblen Launen nimmt, plagen ihn oft hämmernde, singende Kopfschmerzen, die meist von kleinen Pfeifen begleitet werden.
Er schaut wieder hinaus.
Auf dem Bahnsteig steht ein dicker Mann in Trachtenkleidung mit einem langen, grauen Bart. Neben ihm steht griffbereit ein kleiner, schwarzer Rollkoffer. Unpassend. "Verbrecher", denkt er und würde den Mann auf der Stelle verhaften, hätte er die Genehmigung dazu in seiner Tasche. Sein Blick gleitet immer wieder auf den Koffer, der so gar nicht zu seinem Besitzer zu passen scheint. Er malt sich aus, was der Mann wohl verbrochen haben könnte und frohlockt bei jeder neuen Idee, die ihm kommt. Er liebt die Vorstellung einer Welt voll von Ganoven und Verbrechern im klassischen Stil.
Er beobachtet den Mann aufmerksam und findet Gefallen an diesem Spiel.
Doch dann schlurft der Mann wie von unsichtbaren Fäden gezogen los und entschwindet dem eingeschränkten Sichtfeld, welches das Fenster ihm bietet.
Der Bahnsteig scheint verlassen, auch die andere Seite ist menschenleer.
Das langweilt ihn und er würde gerne weiterfahren, sein Zug hat jedoch zwanzig Minuten Aufenthalt in diesem Bahnhof. Eben war doch alles noch so gierig bunt und belebt. Oder trügen die unzähligen Lichter und farbigen Plakate, an denen die Lichtstrahlen abprallen und in alle Richtungen schiessen, darüber hinweg, dass um diese Uhrzeit der Bahnhof eher verlassen ist?
Plötzlich fühlt er eine stille Einsamkeit in sich aufsteigen und er schaut sich unsicher in seinem Abteil um. Ganz am Ende des Abteils sitzt noch immer der alte Mann mit der dicken Zeitung und liest und lässt sich auch sonst unter keinen Umständen davon abbringen. Am entgegengesetzten Ende sitzt eine Studentin mit frechen Zöpfen und hängt sich mit allem Gewicht über ein dünnes, verziertes Büchlein. Allein zumindest ist er nicht und sein Gefühl beruhigt sich.
Nun schaut er wieder hinaus und etwas tut sich, ein Zug fährt auf dem benachbarten Bahnsteig ein.
Er rollt geradezu lautlos heran und nur seine Bremsen quietschen beim Halten.
Die Fenster des Zuges sind dunkel und der Zug bleibt einfach stehen, ohne die Türen zu öffnen, niemand steigt aus, nichts tut sich.
Wahrscheinlich wird der Zug gleich auf einem Gleis abgestellt, morgens ganz früh gereinigt, um dann pünktlich um sechs Uhr wieder den Betrieb aufzunehmen.
Fast liebevoll betrachtet er den dunklen Zug und stellt sich schaudernd vor, wie es wäre, jetzt dort in dem Zug zu sitzen, vergessen, eingeschlossen, einsam.
Aber stattdessen sitzt er hier mit einem alten Mann und einer dicken Zeitung und einer frechen Studentin und einem dünnen, schmucken Büchlein.
Auf dem Bahnsteig nebenan tut sich unterdessen wieder etwas.
Er schaut hinaus und runzelt die Augenbrauen.
Ein Mann läuft langsam den Bahnsteig entlang und betrachtet nacheinander die Wagennummern des verschlossenen, dunklen Zuges, die außen an die Waggons gemalt wurden.
Der Mann sieht nicht weiter auffällig aus, es fällt nur eine rote, damenhafte Tasche auf, die er sich über den Arm gehängt hat und die nicht so recht zu seinem unauffälligen, eher zurückhaltenden Aussehen passt. Der Mann scheint unterdessen die richtige Nummer gefunden zu haben, denn vor einem Waggon bleibt er stehen und harrt dort aus. Leider hat er sein Gesicht dem dunklen Zug zugewandt und dreht sich nicht um, sodass er dieses Gesicht von seinem Platz aus gar nicht sehen kann.
Desinteressiert will er sich gerade wegdrehen, als er plötzlich etwas sieht, was ihm den kalten Schweiß auf die Stirn treibt.
Es ist so etwas wie ein Schatten, den er in dem dunklen Zug erkennen kann.
Etwas bewegt sich. Bei näherem Hingucken erkennt er deutlich die Silhouette eines Menschen.
Seine Nackenhaare stellen sich auf, er kriegt Angst, will wegschauen. Doch nun ist es zu spät und er kann seinen Blick nichtmehr abwenden. Jemand ist in diesem dunklen Zug.
Für einen kurzen Moment fragt er sich, ob er das vielleicht sein könnte, der dort in dem dunklen Zug sitzt, ob er nicht vielleicht seinen Geist dort drüben sieht. Dann würde er vielleicht gleich erwachen und in dem dunklen Abteil sitzen. Er würde aus dem Fenster direkt auf das Zugabteil mit dem alten Mann und der frechen Studentin blicken und wahrscheinlich wimmern wie ein ruheloses Gespenst. Doch noch sitzt er hier und starrt fassungslos hinüber.
Der Mann, der direkt vor dem Zug ausharrt, kann diese Erscheinung nicht wahrnehmen, da sie sich zwei Abteile entfernt von seinem Standpunkt abgespielt hat.
Er wird immer unruhiger und starrt wie besessen auf die schwarzen Fenster des gegenüberliegenden Zuges. Irgendetwas stimmt da nicht. Es kommt ihm so vor, als würden sich hier und dort verschwommene Schattengestalten herumtreiben. Sie haben etwas Klagendes an sich und wecken in ihm den Wunsch, laut zu schreien. Und was tut dort dieser Mann, der wie in Trance vor dem einen Waggon steht und wartet? Möchte er etwa in diesen schauerlichen Zug einsteigen?
Er blickt hin zu der Studentin und dem alten Mann, doch keiner von ihnen hat mitbekommen, was sich draußen ereignet.
Dann passiert etwas Schreckliches. Die Türen des Geisterzuges öffnen sich lautlos und gähnende, nebelartige Dunkelheit steigt aus ihnen hervor und dringt auf den verlassenen Bahnsteig ein.
Ein Ruck geht durch seinen Körper. Er möchte aufspringen und hinausrennen, den Mann auf dem Bahnsteig beim Kragen packen und ihn ordentlich durchrütteln. Er will doch wohl nicht in diesen Zug einsteigen? Noch steht er unbewegt da und hat auch seinerseits etwas Geisterhaftes an sich.
Er spürt in seinem ganzen Körper eine ratternde Anspannung, er weiß, er muss hinaus und den Mann warnen. Dieser konnte schließlich nicht sehen, was er von seinem Platz aus mit Gewissheit hatte wahrnehmen können. In dem Zug befinden sich Gestalten, die nicht normal sind, wimmernde, sich krümmende Gestalten, geisterhafte, verbogene, lodernde Schatten.
Seine Stirn ist voll von kaltem Angstschweiß und seine Augen sind weit aufgerissen.
Er möchte aufstehen, doch es ist wie in einem dieser Träume, in denen man sich nicht rühren kann, obgleich der Feind einen gleich zu verschlingen droht. Er möchte um Hilfe schreien, möchte hinausstürmen, den Schaffner rufen, weinen und sich auf den Boden werfen wie er es als kleiner Junge getan hätte. Doch nichts geschieht mit ihm. Lähmung.
Nur seine Augen funktionieren noch und heften sich wieder an das Geschehen da draußen.
Der Mann schultert seine Tasche und schlurft auf die offene Tür zu, die in die gähnende Dunkelheit hineinragt wie das Maul eines großen Drachen. Er wird doch bemerken, dass die Lichter im Zug ausgeschaltet sind! Er wird doch nicht hineingehen!
Er presst die Fingernägel seiner linken Hand in den rechten Arm, sodass rote Druckstellen auf der Haut entstehen. Seine Augen sprühen vor Wahnsinn, sein Rücken ist gekrümmt. Er sieht den Mann in den dunklen Zug einsteigen, er hat verloren. Noch einen Blick wirft er zu der Studentin, doch sie kaut auf ihrem Buch herum, der alte Mann hat die dicke Zeitung fallen gelassen und sein Kopf ruht auf seiner Brust.
Seine Augen treten über, die Tür schließt sich hinter dem Mann, den die Dunkelheit in einen schemenhaften Schatten verwandelt hat.
Er muss doch Hilfe rufen, verdammt!
Sein Körper ist lahm, er kribbelt, als sei er von abermillionen von Insekten befallen. Er wünscht sich den Tod, will schreien, will nichtmehr sehen.
Warum konnte er den Mann nicht retten?
Was ist mit diesem Zug?
Der Zug steht da - er starrt auf die dunklen Fenster, ohne jedoch noch etwas wahrnehmen zu können.
Auch sein Blick scheint gelähmt zu sein.
Dann rollt der Zug lautlos an, kein Pfeifen, keine Durchsage, kein Signal.
Und plötzlich flammt ein schwaches, warmes Licht in den Abteilen auf.
Er reißt die Augen noch weiter auf, während der Zug langsam aus dem Bahnhof rollt.
Sein Blick fällt auf ein Mädchen, das am Fenster des Geisterzuges sitzt und ihn anstarrt.
Es hat blonde Kringellocken und einen schwarzen, kleinen Hut auf.
Seine Augen blicken leer, gehüllt in ewiges Schweigen.
Er sieht andere Konturen, widmet jedoch seine ganze Aufmerksamkeit diesem blassen Geschöpf, was sitzt und starrt. Sein Mund ist zu einem hohlen Schrei geformt und scheint so versteinert worden zu sein.
Er lässt sich in den Sitz fallen und gibt es auf, sich noch gegen seine Lähmung aufzulehnen.
Einige Minuten verstreichen und da rollt auch sein Zug wieder an, der Schaffner spricht die begrüßende Durchsage.
Er schaut aus dem Fenster in die Dunkelheit. Wie sehr er diese alles fressende Dunkelheit verehrt!
Sie gibt ihm das Gefühl von Geborgenheit, von ewigem Fliegen und von Unwissenheit, von Unschuld.
Einige tanzende Lichtpunkte erscheinen auf der Bildfläche und hüpfen durch die Landschaft.
Eine Stadt, der Anzahl der Punkte nach zu urteilen. Er drückt seine Stirn an die kalte Scheibe und träumt von kleinen, gemütlichen Städten, von Dörfern und von einer Heimat.