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Lähmungserscheinungen
1
Als P aus dem Schlaf hochfuhr, war es kurz vor zwölf. Melinda war eben erst aufgestanden. Die Sonne gab sich alle Mühe, ihre Strahlen durch die dicke Wolkendecke zu schicken, aber es reichte nur für ein schales Grau, das vor dem Schlafzimmerfenster hing. Sein Kopfkissen war nass vom Schweiß. Dass ihre nass von Tränen. Beides entging P. Er war damit beschäftigt, die Kopfschmerzen zu ertragen. Und das Kribbeln in seinem rechten Arm. Offenbar hatte er ungünstig darauf gelegen und sich die Blutzufuhr abgeschnürt.
Schließlich stand er auf, zog die Vorhänge zu und ging ins Bad. Kalter Zigarettenrauch hing in der Luft. Über das Klo einen Spiegel zu hängen, war eine seiner weniger guten Ideen gewesen. Vor ein paar Monaten hatte er ihn in einem Wutanfall mit der Faust zerschlagen. Sein Gesicht glotzte ihn zerschnitten und zerteilt aus dem Spiegel an, als er den brennenden Restalkohol der vergangenen Nacht entließ.
»Musst du immer im Bad rauchen?«
Melinda antwortete nicht. Sie stand in der Küche und sah aus dem riesigen Fenster in der Balkontür. P trat hinter sie, strich ihr das vom Schlaf zerwühlte Haar weg und küsste sie sanft auf den Hals.
»Morgen, Liebling.«
»Morgen«, antwortete sie.
Ihre Blicke trafen sich in der Glasscheibe.
»Hast du schon gefrühstückt?«
»Nein. Soll ich dir was machen?«
»Nein, ich esse unterwegs.«
»Wo willst du denn schon wieder hin?« Sie ging zur Spüle und zündete sich eine Zigarette an.
»Ich helfe Robert beim Umzug.«
»Kann er nicht am Wochenende umziehen?« Sie blies einen dicken Schwall Rauch aus.
»Da arbeitet er.« Er ging zum Kühlschrank und ließ seinen Blick über Marmeladengläser, Senf und Butter schweifen. »Außerdem...was macht das für einen Unterschied?«
Sie brachte den heruntergerutschten Träger ihres Negligees wieder in Position.
»Weiß nicht.« Es klang bedauernd.
2
P saß am Tresen und trank Bier aus einem Glas, das man als "Tulpe" bezeichnet hatte, als er noch jünger war. Hinter ihm knallten Billardkugeln aneinander. Melancholischer Blues quoll durch die Bar. Neben seinem Glas stand eine Schreibtischlampe, der die Glühbirne abhanden gekommen war.
»Mein Versicherungsmensch hat mir vor Kurzem eine Geschichte erzählt, aus der du vielleicht was machen könntest«, sagte Robert. Er stellte P einen neuen Aschenbecher hin und kippte die Asche aus dem alten in einen Treteimer.
»Mein Problem ist nicht, dass mir nichts mehr einfallen würde. Mir fallen nur keine originellen Figuren mehr ein. Ich weiß nicht, was die...naja...man konstruiert Figuren eigentlich. Man muss wissen, was die für Jobs haben, was die gemacht haben, bevor die Geschichte anfängt, wie deren Kindheit war und so weiter.«
»Und jetzt kannst du keine mehr konstruieren?«
»Doch schon. Aber die sind alle irgendwie flach. Die haben kein Leben.« P nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas. Er war schon ziemlich benebelt. Noch ein, zwei Bier und er würde gänzlich betrunken sein.
»Nimm doch Leute, die du kennst und ändere ein paar Details.«
»Hab ich schon versucht. Machts aber nicht besser. Am schlimmsten ist, dass mir keine guten Metaphern mehr einfallen. Alles plump. Alles abgedroschen. Goethe war ich zwar nie, aber darum gehts eben wenn man Autor ist.«
»Goethe zu sein?«
»Nein. Darum, neue Metaphern zu finden. Und deine Figuren durch unverbrauchte Symbole deutlich zu machen.«
»Die schlechten Metaphern bringen dich noch mal ins Grab.« Robert kannte das ewige Lamentieren seines Freundes nur zu gut. »Lass dich inspirieren. Geh doch mal unter Menschen.«
»Bin ich doch.«
»Ich meine, unter richtige Menschen. Das hier ist ne Spelunke für gescheiterte Existenzen.«
»Danke.«
»Du weißt, was ich meine. Letztes Jahr um die Zeit hättest du nicht hier gesessen.«
»Letztes Jahr hat sich "Am Abgrund" auch noch verkauft.«
»Wo ist eigentlich mein Exemplar? Du hast damals gesagt, du bringst mir eins mit.«
»Mach ich noch.« Er blickte nachdenklich in das leere Glas. »Also, ich muss.« Seine Aussprache war verwaschen.
»Alles klar. Danke für deine Hilfe vorhin.«
»Danke, für die Lampe.«
»Nicht dafür, Großer.«
Als P aufstand, wäre er fast auf den gefliesten Boden gestürzt.
»Scheiße!«
»Na, wirkts?« Roberts Barkeepergesicht verzog sich zu einem Grinsen.
»Mir sind die Beine eingeschlafen. Hatte ich heute morgen schon.« Er warf einen Zwanziger auf den Tresen.
»Ach, warte mal!« Robert bückte sich und kramte in einem Schrank. Dann stellte er den Karton einer Glühbirne neben die Lampe.
»Oh, danke.«
»Grüß Melinda.« Robert lächelte, machte eine Verabschiedungsgeste und schaute P hinterher, als er sich unsicher auf den Weg zur Tür machte.
P saß im Dunkeln an seinem Schreibtisch und starrte auf den blinkenden Cursor. Das weiße Blatt, dass der Computer projizierte, warf den Schatten seines Kopfes an die Wand hinter ihm.
3
Als P aufwachte, kribbelte sein ganzer Oberkörper und sein rechter Arm war gelähmt; sein Schädel dröhnte. Er schleppte sich ins Bad und nahm drei Aspirin. Melinda hatte vor ein paar Wochen starke Schmerztabletten verschrieben bekommen, die er ein paar Mal bei schwerem Kater genommen hatte; das Röhrchen war leer.
P machte sich ein Brot, aß es aber nur zur Hälfte. Sein Magen klagte ihn wegen letzter Nacht an. Das halbe Brot verschwand im Mülleimer. Er stellte den Teller auf den Stapel dreckigen Geschirrs und ließ ihn dabei fast fallen. Das Gefühl im Arm kam nur langsam wieder zurück.
Melinda saß in einen Morgenmantel gehüllt im Wohnzimmer und stickte. Schon bevor sie ihm gesagt hatte, dass sie wohl ein Magengeschwür hätte und deswegen beim Arzt war, hatte sie sichtbar abgenommen. Jetzt war sie regelrecht dürr. Die Haaransätze verrieten die Färbung und das ungekämmte, wirre Haar bot einen traurigen Anblick. Früher war sie sehr auf ihr Äußeres bedacht gewesen. Sie hatte P bei seiner Lesereise für "Am Abgrund" im letzten Jahr quer durchs Land begleitet und dabei viele Komplimente bekommen. Nicht nur, weil sie gut aussah, sondern weil sie tatsächlich schön war.
»Morgen, Liebling.« Er küsste sie und sah auf die alte Uhr über dem Kamin. »Es ist erst neun?«
Melinda steckte die Nadel in den Stoff und sah ihn skeptisch an.
»Nein.«
»Hast du die Uhr nicht aufgezogen?«
»Nein. Schon seit Monaten nicht.«
»Warum?« Als sie nicht antwortete, sah er sie an und bemerkte ihre geröteten Augen. »Hast du wieder deine Allergie?«
»Ja.«
»Armer Liebling!«, sagte P mit mitleidiger Stimme. Aber es klang eher, als spräche er mit einem Haustier.
»Du hättest wenigstens anrufen können.«
Seine Augenbrauen senkten sich.
»Wann?«
»Na gestern, dass ihr länger braucht! Wann warst du hier? Um zwei? Um drei?«
»Robert hatte danach Dienst. Ich bin noch mitgegangen.«
»Und dein Handy war auf Urlaub?«
»Sag nicht "Handy". Außerdem habe ich angerufen. Du bist nicht rangegangen.«
»Nachts schlafe ich manchmal.«
»Nein, das war als wir grade losgegangen sind. Gegen sechs oder sieben.« Er rieb sich über den Brustkorb. Das Kribbeln war unerträglich. Wenigstens konnte er den Arm wieder bewegen. »Robert hat uns beide zu seiner Einweihungsfeier morgen Abend eingeladen.«
»Grüß ihn lieb.«
»Du willst nicht mitkommen?«
»Nein. Ich hab schon was vor.«
»Na gut, wenn du es dir anders überlegst, dann --«
»Sag ich Bescheid, ja.«
Er ging unter die Dusche.
4
Die Feier erinnerte P an seine Studententage vor 15 Jahren. Damals waren Partys erst vorbei, als die Sonne aufging oder der Wein sich dem Ende neigte. Gegen vier leerte sich das Loft, das sich Robert geleistet hatte. Nur P, zwei Freundinnen von Robert, der Mann von einer von ihnen und Robert selbst waren noch da. Sie setzten sich auf Kissen unter der riesigen verglasten Dachschräge. Die Sterne blinkten unschuldig, ruhiger Jazz strömte aus den Lautsprechern. Ein Joint auf einer Gabel ging herum.
Die verheiratete Freundin schlief in den Armen ihres Mannes. Er strich ihr abwesend durchs Haar. Robert war weggetreten. Er sah aus, als wäre er beim Gebet eingeschlafen. Roberts andere Freundin, Elisa, zog an der Zigarette auf der Gabel. Knisternd erwachte die Glut.
»Ich hab gehört, du bist Schriftsteller?« Ihre Stimme war sanft und leidenschaftlich.
P musste sich ordnen.
»So kann man es nennen.«
»Das heißt?« Sie lächelte interessiert und wollte die Gabel an den Ehemann weiterreichen. Der reagierte nicht.
»Im Moment schreibe ich nichts.« Er sog unvermittelt einen Schwall der wabernden Luft ein und schluckte schwer. »Mir fehlen die Ideen«, sagte er gepresst.
»Aber es passiert doch so viel. Jeden Tag trifft man Entscheidungen, jeden Tag verpasst man Gelegenheiten, jeden Tag ...«
Als sie nicht weiter sprach, blickte P auf und sah, dass sie ihn nachdenklich betrachtete. Sie war schön.
»Ich will aber nicht über verpasste Gelegenheiten schreiben.«
»Lieber über Gelegenheiten, die du wahrgenommen hast?« Ein Augenaufschlag.
P war überrascht. Etwas, das er nicht einordnen konnte, lag in der Luft. Bevor er sich darüber klar werden konnte, nahm Elisa einen tiefen Zug, beugte sich zu P und drückte ihre Lippen auf seine. Er inhalierte ihren Rauch. Etwas regte sich in seinem Schritt, als sie ihre Hand an seine Taille legte. Er wich zurück und atmete aus.
»Sorry, Süße.«
»Doch keine Gelegenheiten?«
»Ich bin ...« er deutete auf seinen Ring. Durch das lange Abstützen mit den Armen, waren beide ganz taub geworden. Seine Beine spürte er schon lange nicht mehr.
»Seid ihr glücklich?« Vielleicht lag es am Gras, aber ihre Stimme schien die eines Engels zu sein.
»Ja.« Die Sterne verblassten in der Dämmerung. »Ich liebe sie.«
Elisa lächelte.
»Ich lass dich jetzt allein.« Er versuchte aufzustehen, musste aber warten, bis seine Beine reagierten.
Im Taxi breitete sich das Kribbeln seiner Beine auf den ganzen Körper aus. Es fühlte sich an, als würde Sand durch seine Venen gepumpt.
5
Als er die Tür aufschloss, musste er sich am Geländer festhalten. Die Flasche Rotwein, die er bei Robert mitgenommen und zum großen Teil im Taxi getrunken hatte, linderte das furchtbare Kribbeln nicht.
Er schlich so gut er konnte durch den knarrenden Flur und hoffte, dass Melinda nicht aufwachen würde. Als er die Schuhe ausziehen wollte, verlor P das Gleichgewicht, stürzte über die Anrichte und riss den Kleiderständer um. Er stieß einen Schrei aus, als das Holz gegen seinen Körper prallte und er auf den harten Dielen landete. Sein Körper schien zu explodieren.
Der Rotwein hatte sich über sein Hemd und sein Gesicht ergossen.
Vor dem Bad hielt er inne. Leise Musik drang durch die Tür. Er klopfte.
»Liebling?!«
Er öffnete die Tür und trat ein. Es war dunkel, nur das schwache Licht des Morgens fiel durch das kleine Fenster. Er tippte auf den Lichtschalter. Das Klicken des Sicherungskastens. 120 Watt fluteten auf P, sein rotes Hemd, den zersprungenen Spiegel, die Badewanne, Melinda.
Das Blut an und neben der Badewanne war dunkel und verkrustet. Stahl funkelte dazwischen.
Melinda lag mit Unterwäsche im schwarzen Wasser; den rechten Arm von der Schulter bis über die Handfläche aufgeschnitten. Ihr Hals von einem tiefen Schnitt geteilt und darunter dunkel verfärbt.
P starrte auf die Leiche seiner Frau. Die leere Flasche glitt aus seiner Hand und zersprang auf dem Boden. Er tat ein paar Schritte in ihre Richtung, fiel auf die Knie, kroch weiter, durch das Blut, schnitt sich an dem Messer das darin lag, berührte das kalte Gesicht seiner Frau, die er liebte, mit der er glücklich war. Er versuchte sie aus dem Wasser zu ziehen, rutschte ab, schlug mit dem Kopf auf die Fliesen, erbrach sich. Eine Art Schrei drang aus seiner Kehle. Dann wurde er bewusstlos.
Gegen Mittag kam er noch einmal zu sich. Sein Körper war betäubt. Er konnte sich nicht bewegen, versuchte um Hilfe zu rufen, wurde wieder bewusstlos. Seine gelähmte Zunge fiel nach hinten in seinen Rachen. P erstickte. Im Blut Melindas.
Ende.