Ländler
Hinter Autun, in nordwestlicher Richtung, beginnt der Morvan. Ein einsamer, nur spärlich besiedelter Höhenzug, in dem nicht viel passiert. Dunkle Wälder bedecken die sanft sich erhebenden Hügel, aufgelockert nur durch Äcker und Wiesen, auf denen den Sommer über weiße Charolais-Rinder auf den Tag warten, an dem sie in einen schmuddeligen Viehtransporter verfrachtet und ihrem vorzeitigen Ende nähergebracht werden.
Schon als wir Autun verlassen, sehen wir die fernen, dunklen, von Wolkenschleiern umwaberten Höhen. Die Sonne scheint, und doch umgibt den Morvan etwas Unheimliches. In diesen Wäldern müssen Trolle hausen, unheimliche Gestalten; verfluchte Wesen aus einer anderen Zeit, die sich das dichte Gehölz als Unterschlupf auserkoren haben, weil anderenorts ein Leben für sie unmöglich wäre.
Nach einem kurzen Blick in die Karte schlage ich vor, die Hauptstraße zu verlassen und auf einer D-Straße weiterzufahren. Die grün markierte Umrandung in der Karte verheißt eine landschaftlich reizvolle Strecke. Das mache ich immer so: möglichst weit weg von den Hauptrouten, auf denen Lastwagen und, gerade hier im Morvan, Tagestouristen durchs Land brausen und nur schnell weiterkommen wollen. Ich möchte bummeln, sehen, entdecken. S., der den Wagen steuert, schaut mich kurz an, lächelt und ist einverstanden. Er denkt genauso. In dieser Hinsicht harmonieren wir gut.
Wir biegen in die D-Straße. Ungeachtet der Klassifizierung unterscheidet sie sich kaum von der Nationalstraße, von der wir kommen. Die Asphaltdecke ist schwarz; blendend weiße Markierungen weisen den Weg; die Straße sieht aus, als sei der Belag gestern erneuert worden. Fast hat es den Anschein, wir seien die einzigen, die zu dieser Stunde noch unterwegs sind. Es ist schon spät am Nachmittag; wir sind auf der Durchreise und müssen jetzt eine Unterkunft für die Nacht finden. Der Atlantik ist noch weit. In Autun wollten wir nicht bleiben. Wir suchen die Einsamkeit. Die Ruhe; das Ungewohnte. Vor und kurz hinter Autun hatten wir schon einige Schilder gesehen, die für Hotels oder Bauernhöfe warben, die dem Durchreisenden Bett und Frühstück bieten. Aber wir fuhren weiter, weil wir uns nicht entschließen konnten, die Etappe schon zu beenden. Jetzt scheint es, als sei das ein Fehler gewesen. Schon lange kein Hinweisschild mehr. Die Gegend wirkt immer einsamer, verlassener. Nur einige Bullen, rötlich angestrahlt vom Schimmer des abendlichen Sonnenlichts, dösen noch in einem fast ausgetrockneten Schlammloch auf der Weide neben der Straße. Keine Häuser, kein Hof. Es sieht kalt aus. Der Spätsommertag nähert sich seinem Ende.
„Ob wir hier noch was finden?“ S. fragt, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Er spricht nur aus, was auch ich denke. „Vielleicht sollten wir umkehren…“
Wir fahren so immer weiter in die Einsamkeit. Ich werde langsam unruhig. Endlich ein Schild, schon etwas verwittert. Nur das Zeichen: ein Bett, ein Dach darüber; Messer und Gabel, gekreuzt. Den Namen kann ich nicht mehr lesen. Nach zwei Kilometern rechts abbiegen. Wir gelangen tatsächlich zu einer Straße ins Nichts, nicht breiter als ein Feldweg und genauso verdreckt. Der Asphalt ist mit großen Lehmbrocken besprenkelt, der Wagen holpert. Hecken umsäumen den Weg; was hinter ihnen liegt, können wir nicht sehen. Die Straße windet sich in engen Kurven. Es geht mal bergauf, dann wieder bergab. Endlich sehen wir oben auf der linken Seite ein Haus, halb verfallen; die Fenster sind herausgebrochen. Das Haus ist offenbar schon lange verlassen. Überall in den Mauern wuchert Kraut. Rechts ein rostiges Ortsschild: Poil. Gleich danach sehen wir, dass wir uns wirklich in einem Dorf befinden. Hier stehen mehrere, verlassen wirkende Häuser. Nur ein paar Hühner scharren am Straßenrand. Dann rechts wieder ein Schild: „Auberge“, und tatsächlich, genau daneben eine Freitreppe hinauf zu einem Eingang, der in einen Laden oder Café führt.
S. parkt das Auto kurz dahinter, auf einer Stelle, die wie ein Parkplatz aussieht. Wir steigen aus und schauen uns um. Im Garten des verfallenden Gebäudes sitzt eine verdreckte Katze und leckt sich die Pfoten. Sie hält kurz inne, sieht zu uns herüber, bewegt sich aber nicht von der Stelle. In der Nähe bellen Hunde; kurzes, dunkles Kläffen, als hätten sie die Ankunft von Fremden bemerkt und müssten Nachricht geben. Kein Mensch ist auf der Straße. Lebt hier jemand?
„Da sind wir mal wieder mitten im Trubel gelandet!“
S. lächelt herüber, ist sich scheinbar unsicher, ob wir es hier versuchen oder nicht doch besser weiterfahren sollen.
„Schauen wir mal, ob wir Glück haben…“
Die Tür zur Auberge ist nicht verschlossen. Aber ich muss mich überwinden, hineinzugehen. Niemand ist in dem Raum, der tatsächlich wie ein Café wirkt, mit einer Theke am hinteren Ende und Tischen und Stühlen vorne. Eine Kühltruhe neben dem Eingang; nach der anderen Seite hin eine gläserne Tür zu einem weiteren, wohl eleganteren Gastraum. Wir hören Schritte. Jemand kommt eine Holztreppe herunter. Die Tür hinter der Theke wird geöffnet, und ein Mann von gedrungener, kräftiger Gestalt kommt herein und sieht uns durch zusammengekniffene Augen an, mürrisch, verschlossen. Sein runder Schädel ist fast kahl, so kurz hat er seine Haare rasiert. Er trägt ein weißes, ärmelloses T-Shirt, das seinen muskulösen Körper und seine stark entwickelten Oberarme besonders betont. Ein Kraftprotz. Eine gequälte, fast nicht verständliche Begrüßung. Kaum bringt er die Lippen auseinander.
Ich kratze meine Sprachkenntnisse zusammen. Nach stundenlanger, ermüdender Fahrt fällt mir das Sprechen in einer fremden Sprache immer wieder schwer.
„Wir suchen ein Zimmer für zwei Personen für eine Nacht…“
Der Mann dreht sich wortlos um, holt aus einer Schublade zwei Schlüssel und gibt sie mir.
„Oben.“
Er weist mit einer Körperdrehung auf die Treppe hinter der Tür, aus der er kam.
„Schauen Sie sich die Zimmer an. Auf der linken Seite, nebeneinander. Andere haben wir nicht.“
Er beobachtet uns genau; er mustert uns förmlich. Zwei Männer, die in einem Zimmer schlafen wollen. In einem Bett. Sein Blick ist finster. Aber das liegt vielleicht nur an den dichten schwarzen Brauen, die sich über seinen Augen wölben. Ich habe den Eindruck, am liebsten wäre ihm, wir verschwänden auf der Stelle.
Mühsam zwängen wir uns über die enge, gewundene Stiege nach oben. Ein schmaler Flur; enge Türen. Aber das erste Zimmer links von der Treppe ist gut. Es hat zwar schräge Wände, sodass ich mich bücken muss, wenn ich ins Bett will. Aber es hat ein Fenster nach hinten, in den Garten, von dem aus in der Ferne die Höhen des Morvan zu sehen sind. Natürlich ein französisches Bett. Das Bad liegt gegenüber auf der anderen Seite des Flurs, die Toilette daneben. Also werde ich nachts das Zimmer verlassen müssen. Was soll’s. Wir haben keine Lust mehr, weiter zu suchen. Und Abendessen gibt es hier auch.
Nachdem wir unsere Sachen geholt haben, streifen wir noch kurz im Dämmerlicht durch das Dorf. Nur zwei Straßen, die einander kreuzen und dann in den Weiden auslaufen. In einigen Häusern brennt Licht; andere sind gänzlich verrammelt. Die Hühner sind jetzt im Gehege auf dem Nachbargrundstück. Irgendjemand muss sie von der Straße geholt haben. Hinter unserem Haus, in dem großen Garten, toben zwei riesige, kräftige, schwarze Hunde. Sie tollen herum, fletschen die Zähne, rennen übermütig über die große Wiese. Am Tor ein warnendes Schild. Sie sind gefährlich. Ich werde wieder unruhig. Hoffentlich ist der Garten gut verriegelt. Hoffentlich nimmt unser Gastgeber seine Hunde nicht mit ins Haus. Hoffentlich.
„Mach Dir nicht so viele Gedanken. Die können da nicht raus“, sagt S. Er kennt meine Furcht vor Hunden.
Als wir wieder die Gaststube betreten, sind zwei weitere Männer im Raum. Der Gedrungene, immer noch in seinem ärmellosen Hemd, spielt mit ihnen Darts. Sie werfen tatsächlich nacheinander Pfeile auf die Scheibe, die an der Tür zur Treppe hängt. Plopp. Plopp. Immer wieder. Kaum wechseln sie ein Wort, und wenn, dann höre ich nur unverständliche Laute. Nicht das, was ich als „Französisch“ erkennen könnte. Wir setzen uns an einen der einfachen Tische, trinken einen Pernod, wie wir das meistens tun, bevor wir zum Essen gehen. Man kann nicht einfach zum Essen gehen. Man trinkt erst einen Pernod. Erst recht, wenn es noch nicht acht Uhr ist. Wir sind in Frankreich. Die Männer reden kaum. Sie schauen manchmal verstohlen herüber, betrachten uns, bevor sie wieder ihre Pfeile werfen. Plopp. Plopp.
Noch jemand lebt hier. Aus einer anderen Tür kommt eine alte, ziemlich dicke Frau. Seine Mutter. Wer sonst? Das Haar wirr, etwas ungepflegt gekleidet, aber mit interessiertem Blick. Sie sagt, wir könnten uns dann in den Salon begeben, zum Essen. Es sei soweit. Wir folgen ihr.
Wir sind die einzigen Gäste. Niemand sonst sitzt im Salon, und es kommt auch niemand mehr. Woher auch. Der Sohn kocht. Er kocht erstaunlich gut. Während des Essens, das uns die Mutter nach französischer Sitte in aller Gelassenheit auftischt, denken wir nicht mehr daran, wo wir sind. Es schmeckt so gut. Es hat sich gelohnt, den Abstecher zu wagen. Aber wir sind die einzigen Gäste. Sobald wir Messer und Gabel hinlegen, tritt eine unheimliche Stille ein. Nur dann und wann höre ich ein Klappern aus der Küche. Wir trinken eine ganze Flasche Wein.
„Le menu est formidable!“
Dieser Satz musste kommen. Es war der erste Satz, den S. auf Französisch sagen konnte. Ich hatte ihn ihm während unseres ersten Aufenthalts in Frankreich beigebracht, als er von einem Abendessen begeistert war und er sich bei der Patronin bedanken wollte…
Mit Mühe halten wir uns bis zehn Uhr auf den Stühlen. Dann gehen wir hoch, über die knarrende Holzstiege, durch den engen Gang. Wir fallen in unser Zimmer. Wir sind müde; die Fahrt war lang und anstrengend. Im Bett schlafen wir sofort ein; kein sinnliches Vergnügen mehr, wie sonst auf solchen Fahrten. Eigentlich schade.
Mitten in der Nacht werde ich wach. Ich hatte es befürchtet. Es ist stockfinster. Die Nacht draußen ist nicht grau; sie ist schwarz. Pechschwarz. Den Mond müssen Wolken verdecken, auch er spendet nicht den Hauch eines Lichts. Auch nach einiger Zeit sehe ich nicht einmal die Konturen. Aber meine Blase drückt, wie immer. Ich erhebe mich, suche den Weg zur Tür, mühsam, ohne Licht zu machen, da ich S. nicht wecken will. Im Gang ist es genauso dunkel. Zum Glück liegt die Tür zur Toilette genau gegenüber. Das habe ich schon vor dem Zubettgehen erkundet. Wer älter wird, achtet auf so etwas.
Trotzdem schaue ich in der Dunkelheit nach links, nach rechts, obwohl ich nichts sehen kann. Als Kind habe ich es in dunklen Zimmern oder Gängen nicht ausgehalten. Ich habe immer vor Angst gezittert, Angst vor dem Unheimlichen, das Dunkelheit für mich bedeutete. Ich dachte immer, jemand verfolgt mich, stellt mir nach, will mich fangen. Ich fühlte jeden Lufthauch auf meiner Haut und spürte in ihm die Aura eines Verfolgers. Panisch musste ich mich ständig um mich drehen, um nur sehen zu können, dass niemand mir nahe kommt. Aber jetzt kann ich nichts sehen, nichts hören. Alles ist still. Schnell überquere ich den Flur.
In der Toilette blendet mich zunächst das grelle Licht. Ich stehe vor der Schüssel und kann mich in meinem Halbschlaf kaum halten. Ich höre das Plätschern. Kein starker Strahl, aber immerhin. Ich höre auch noch etwas anderes. Ein Knacken, wie Holzplanken knacken, wenn sie belastet werden. Der Strahl versiegt, aber ich lausche. Zu dem Knacken gesellt sich ein leises, fast nicht hörbares Keuchen. Ein leichter Luftzug durch die halb geöffnete Tür. Ich spüre, wie meine Haut erkaltet, Noppen bildet; Gänsehaut; ich erstarre. Ich kann fremde Körperwärme wahrnehmen. Dicht hinter mir muss jemand stehen.
Wie gelähmt halte ich inne, drehe mich langsam um. Eine Hundefratze sieht mich an, fletschende Zähne, die Kiefer halboffen, die Zunge hängt locker heraus. Hat der Gedrungene die Gartentür nicht abgeschlossen?! Oder übernachten die Bestien ungesichert im Haus? Im selben Moment sehe ich, dass es nicht das sein kann. Der Hund steht aufrecht, ist fast so groß wie ich. Das ist nicht der Hund, der vorhin mit seinem Gefährten im Garten herumgetollt hat. Das muss ein anderes Tier sein. Noch bevor ich weiterdenken kann, packt mich die Bestie, reißt mich hinunter, wälzt sich auf mich mit offenem Maul, schlabbert mich ab; die Lefzen berühren meine Wangen, meine Zunge, meinen Nacken; keuchend; es ekelt mich, das ist so widerwärtig, eklig, mir wird schlecht; auch wegen der Angst, die ich nun empfinde. Die Übelkeit drückt das Abendessen in Windeseile nach oben; aber bevor ich mich übergeben muss, liegt das Tier schon auf meinem nackten Körper, bedeckt mich mit seinem Fell fast ganz, will in mich eindringen, jault, schreit, grunzt; und dann beißt es mich in den Nacken. Nein, es ist kein richtiger Biss; es ist ein Schnappen, ein Greifen, so, wie ich es bei meinem Kater oft gesehen habe, wenn er eine Katze bestiegen hat, sie sich gefügig gemacht hat; im Reflex erstarrt, ließ sie das geifernde Toben über sich ergehen, das schmerzhafte, den Stich in ihre Eingeweide; und so lasse auch ich, wie gelähmt, diese Bestie gewähren, wie sie rasend vor Geilheit ihren Stint in mich einführt; starr vor Angst, steif vor Ekel; und überwältigt von der Härte des Stoßes. Blut rinnt über meinen Körper. Ich spüre nur stechenden Schmerz; die Zähne verkrallen sich in meinen Hals, und ich winde mich, um zu entkommen.
Als ich erwache, liege ich, nackt, im Bett. Ich bin atemlos, gebannt, muss erst zu mir kommen. S. schläft noch. Es ist schon hell. Durch das Fenster sehe ich blauen Himmel. Vögel zwitschern. Die Tür ist geschlossen. Mir ist flau im Magen. Das Bettlaken ist feucht, meine Haut fühlt sich kalt an. Ich muss entsetzlich geschwitzt haben. Wie jeden Morgen drückt meine Blase. Mir ist mulmig zumute, aber ich muss zur Toilette. Langsam öffne ich die Tür, schaue auf die gegenüber liegende Tür; auch sie ist verschlossen. Im Haus herrscht Stille. Ich husche hinüber, verriegele die Tür von innen. Nichts erinnert an die Geschehnisse der vergangenen Nacht. Keine Spur von meinem Kampf mit der Bestie. Wie ich in mein Bett kam, weiß ich nicht. Wie die Bestie von mir abgelassen hat, wo sie geblieben ist, ich kann mich nicht erinnern.
Kurz nach dem Frühstück brechen wir auf. Ich war die ganze Zeit wie benommen. Ich konnte mir die Geschehnisse nicht erklären. Die Mutter servierte; der Sohn tauchte erst auf, als ich das Zimmer bezahlen wollte. Er sah mich mit silbernem Blick an, die Augen weiter geöffnet als gestern; aber immer noch mit mürrischem Ausdruck.
Im Auto erzähle ich S. von meinen Erlebnissen in der Nacht. Er schaut mich nur verständnislos an.
Wahrscheinlich habe ich das alles nur geträumt.
Kurz nachdem wir die Loire überquerten, deutet S. auf meinen Nacken und fragt mich, ob ich mich zu heftig gekratzt hätte. Ich klappe den Sonnenschutz herunter und betrachte mich mühsam im Spiegel. Auf meinem Hemd entdecke ich in Höhe des Nackens einen rostroten Fleck. Auf meiner Haut befinden sich Wunden. Ein längliches Muster von Kerben, wie von Zähnen eingemeißelt, und aus einer rinnt ein dünner Tropfen von rotdunklem Blut.