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Lütte und Lars ... und der einsame Cowboy
Lütte konnte es kaum erwarten. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, trotzdem lief er schon eine gefühlte Ewigkeit vor dem Haus von Lars' Eltern auf und ab. Sein Stock klapperte am Gartenzaun entlang.
Endlich ging die Tür auf. Lars war noch im Schlafanzug. Mit verschlafenem Blick und struppigen Haaren blinzelte er seinem Freund entgegen.
»Du hast mich geweckt.«
»Beeil dich. Du hast Lagerdienst.«
»Ich kann nicht. Ich geh mit Papa zum See.«
»Echt?«
»Willst du mit?«
»Spinnst du? Da gibt’s Krokodile.«
»Stimmt nicht.«
»Doch.«
»Du lügst.«
»Lass dich halt auffressen. Tschüss.«
Lars war doof. Natürlich gab es Krokodile im See. Und nicht nur Krokodile. Es gab auch Tintenfische. Und Seeigel. Lütte hatte jedenfalls besseres zu tun, als sich mit Tinte vollspritzen zu lassen und den ganzen Tag Stachel aus seinen Füßen zu ziehen.
»Darf ich auch mal?«
»Nee. Geh weg. Die Mama hat gesagt, dass du gemein bist.«
Georgs Mama war Lüttes Lehrerin. Einmal hatte er im Unterricht seine Hand unter die Achsel gehalten und Furzgeräusche gemacht, und zwar immer genau dann, wenn sie sich umdrehte, um etwas an die Tafel zu schreiben. Alle Kinder in der Klasse fanden es lustig und lachten. Nur die Frau Siebsand verstand keinen Spaß und verpetzte ihn beim Direktor.
»Jojos sind eh doof.«
Georg ignorierte Lüttes Bemerkung. Trotzdem wollte er ihm zeigen, dass er unrecht hatte. Hochkonzentriert, mit der Zunge zwischen den Lippen, packte er alle Tricks aus, die er kannte: Den Powerbomber. Den Supersurfer. Und sogar den Alienmaster, obwohl er den bis jetzt erst ein einziges mal hinbekommen hatte. Als er den Jojo gerade ganz nah über den Boden gleiten ließ, blickte er kurz zu Lütte hinauf. Bestimmt bekam er vor Staunen den Mund nicht mehr zu, dachte sich Georg.
Aber Lütte hatte genug von Georgs Angebereien. Er schlug mit seinem Stock gegen die Schnur, der Jojo tanzte wie wildgeworden im Kreis, schlug aus und wickelte sich um den Stock wie eine Riesenspinne, bevor sie ihr wehrloses Opfer verspeiste. Damit hatte selbst Lütte nicht gerechnet.
»Mama!«
»Halt die Klappe! Petze!«
So schnell er konnte, rannte Lütte davon.
Jetzt fühlte er sich wie ein Schwerverbrecher. Er stellte sich vor, dass er aus dem Gefängnis ausgebrochen war, und überall in der Stadt hingen Fahndungsplakte mit seinem Gesicht drauf: Gesucht! Lütte, der verrückte Jojomörder – tot oder lebendig!
Er musste dringend untertauchen, so viel stand fest.
Das Lager hatten er und Lars erst vor ein paar Tagen entdeckt. Es lag gut getarnt hinter einer dichten Hecke, und um hineinzugelangen, musste man über den Boden kriechen. Falls sie doch jemand finden sollte, hatten Lütte und Lars überall Stachelstöcke ausgelegt. Damit ihre Feinde verbluteten, bevor sie eindringen konnten.
Weil Lars nicht da war, übernahm Lütte den Lagerdienst selbst. Viel gab es nicht zu tun. Eigentlich war der Lagerdienst ja auch erst für später gedacht gewesen, wenn die Bande größer war. Zwei von ihnen müssten dann Wache schieben und ein anderer für Ordnung sorgen, während der Rest Nahrung und neue Waffen heranschaffte. Jetzt überlegte Lütte, ob er die Bande einfach auflösen sollte. Mit Lars wollte er jedenfalls nicht mehr befreundet sein.
Früher hatte er auch immer alleine gespielt. Oder mit Opa. Als er in die Schule kam, kannten die meisten Kinder sich schon aus dem Kindergarten. Lars wurde erst einen Monat nach allen anderen eingeschult, er hatte eine Hirnhautzündung gehabt, erklärte die Frau Siebsand. Das klang cool, fand Lütte. Weil ihn eine Zecke gebissen hatte. Das klang noch cooler, fand er, und so wurden sie zuerst Sitznachbarn und dann Freunde.
Weil es im Lager alleine langweilig war, wagte Lütte sich wieder nach draußen. Die Luft schien rein zu sein.
Da lief ihm die Katze vom Doktor Wollknecht über den Weg. Sie war ganz weiß, nur unter der Nase hatte sie einen lustigen, schwarzen Punkt.
»Komm her, Miezi.«
Lütte kraulte ihr den Rücken und die Katze genoss es sichtlich, sie schnurrte und rieb sich an der Innenseite seiner Knöchel. Eigentlich waren Katzen cooler als Menschen, fand Lütte. Die konnten wenigstens nicht petzen. Und Wasser mochten sie auch nicht. Schwimmen war nämlich was für Babies. Ja, Lütte hatte sich entschieden: Ab jetzt war die Katze vom Doktor sein neuer bester Freund.
»Komm mit.«
Aber die Katze blieb stehen. Kurz schaute sie Lütte an, als ob sie ihn verstanden hätte, dann lief sie in die andere Richtung, schlüpfte durch einen Gartenzaun und war verschwunden.
Lütte wusste nichts mit sich anzufangen. Normalerweise würde er jetzt mit Lars durch die Gegend ziehen, und dabei fielen ihm immer ganz automatisch Sachen ein, die man machen konnte. Er könnte Lars zeigen, wie man am besten auf Bäume kletterte oder wie man beim Wettrennen am schnellsten startete. Oder ihn zum Lachwettbewerb herausfordern: Wer zuerst lachte, dürfte den Rest des Tages nur noch rückwärts sprechen. Stattdessen saß er einsam unter dem dicken Kastanienbaum am Waldrand und grub mit seinem Stock die Erde um.
Verliebt, verlobt, verheiratet, geschieden …
Auf der anderen Straßenseite spielten die Mädchen Seilspringen. Eine von ihnen war die Susi. Lütte kannte sie aus der Schule. Einmal hatten ihre Freundinnen Susi plus Lütte gerufen, als er mit dem Lars an ihnen vorbeiging, und die Susi bekam rote Wangen und winkte ihm zu. Aber Lütte streckte ihr nur die Zunge raus. Obwohl er sie eigentlich mochte. Auch jetzt fiel es ihm schwer, nicht ständig zu ihr hinüberzusehen.
Wie viele Kinder Kinder wirst du kriegen?
Überall blühte Löwenzahn, und kurz überlegte er, Susi einen zu pflücken. Jetzt, im Frühling, war er knallgelb, und später wurde er dann weiß und man konnte ihn wegpusten. Löwenzahn. Das klang gefährlich, fand Lütte. Nicht wie Rose oder Gänseblümchen. Lütte wäre gerne ein Löwe. Dann hätten alle Angst vor ihm.
Neben seinem Ohr brummte es. Eine dicke Hummel sauste vorbei und landete auf einer der Blumen, der Löwenzahn schwang vor und zurück und im Kreis und bog sich fast bis zum Boden hinab, und die Hummel musste sich richtig festklammern, um nicht herunterzufallen. Wie beim Rodeo, dachte Lütte. Ein Cowboy wäre er auch gerne. Dann könnte er den ganzen Tag in Saloons sitzen und Limo trinken und Mau-Mau spielen.
Aber mit den Mädchen würde er bestimmt nicht spielen. Mädchen waren nämlich noch doofer als Georg und Lars zusammen, fand Lütte. Er spuckte auf den Boden, weil Cowboys das so machten, stand auf und ging weiter.
Die Sonne brannte auf die Straße hinab. Lütte war schon seit dem Morgengrauen unterwegs. Sein Pferd brauchte dringend Wasser.
Die Frau, die er vor den Bösewichten gerettet hatte, hatte ihm verraten, dass es in der Nähe eine Tränke gab. Danke, Lady Susi, hatte er gesagt und war, ohne sich noch mal umzusehen, weitergeritten.
Irgendwo mähte jemand seinen Rasen. Aber Lütte war sich sicher, Pistolenschüsse zu hören. Peng peng – peng peng – peng peng. Sechs Schuss. Das ganze Magazin. Das konnte nur einer sein … Ein Streuner schlich mit gesenktem Kopf über die Straße. Die Luft flimmerte vor Hitze. Und da, wie eine Fata Morgana, stand er plötzlich vor ihm: Der Petzengeorg. Die größte Petze im ganzen wilden Westen.
Lütte war so weit. Mit breitem Schritt trat er seinem Gegner entgegen. Die Sporen seiner Stiefel klapperten bedrohlich auf dem glühenden Asphalt. Der Revolver steckte im Holster. Griffbereit.
»Mama! Der Lütte ist wieder da!«
Georg, der Blödmann! Wieder musste Lütte wegrennen, aber er kannte sich nicht aus, er war im Feindrevier, und so bog er falsch ab und landete in einer Sackgasse – ein hoher Lattenzaun versperrte ihm den Weg. Wenn der Lars jetzt da wäre, könnte er ihm eine Räuberleiter machen. Doofer Lars! Warum musste er auch unbedingt an den See gehen? Was war denn so toll am See? Selbst wenn es da wirklich keine Ungeheuer gab, was sich Lütte kaum vorstellen konnte, dann verstand er beim besten Willen nicht, was so spaßig daran war, Arschbomben zu machen und toter Mann zu spielen und nach Steinen zu tauchen und … Aber das glaubte er sich ja selber nicht. Wenn er nur wüsste, wie er dem Lars sagen sollte, dass er nicht schwimmen konnte! Wahrscheinlich würde der ihn auslachen, und dann müsste er ihm eine runterhauen, und das wollte er eigentlich nicht, weil der Lars ja sein Freund war. Sein bester Freund. Und eigentlich haben Cowboys ja keine Angst. Und eigentlich kann man besten Freunden ja alles erzählen, dachte Lütte.
Aber erst heute Abend. Jetzt musste er sich erst mal verstecken. Damit der Petzengeorg ihn nicht erwischte und zum Sheriff brachte …
»Hallo Lütte. Was hast du da?«
Lütte lehnte am Zaun und kaute auf einem Plastikstrohhalm herum, den er extra von daheim geholt hatte.
»Netug Dneba, Sral.«
»Was?«
»Egal.«
»Hm. Und, wie geht's?«
Lütte spuckte aus. Damit Lars auch wirklich bemerkte, dass er ein Cowboy war. Sein Revolver war ihm nämlich beim Wegrennen aus dem Holster gerutscht.
»Super. Ich hab mit dem Georg gespielt und …«
»Mit dem Georg?«
»Ja. Jojo.«
»Warst du im Lager?«
»Ja. Der Georg auch. Morgen gehen wir wieder hin.«
Das würde ihn bestimmt ärgern, dachte Lütte. Einfach so den Georg ins Lager mitzunehmen.
»Hm. Ich geh wieder mit Papa an den See.«
»Viel Spaß mit den Krokodilen.«
»In Seen gibt’s keine Krokodile. Nur in Flüssen.«
»Stimmt nicht.«
»Doch. Hat Papa gesagt.«
»Aber …«
Zwecklos. Papas lügen nicht. Das wusste Lütte.
»Lars?«
»Was?«
»Zeigst du mir, wie man schwimmt?«
Wenn Lars jetzt etwas Falsches sagte, musste Lütte ihm eine runterhauen. Cowboyregel Nummer Sieben.
»Ja oder nein?«
»Ja.«
»Echt?«
»Klar. Aber jetzt muss ich abendessen.«
»Lars?
»Hm?«
»Der Georg ist 'ne Petze.«
»Wie seine Mama.«
»Genau! Und im Lager war er auch nicht. Das hab ich nur erfunden, weil …«
»Lütte?«
»Was?«
»Bis morgen. Baby.«
Lars konnte wirklich froh sein, dass Lütte seine Pistole verloren hatte.
Und Lütte konnte froh sein, einen Freund wie Lars zu haben.