La Habama Central
Jedes Mal, wenn ein Zug in den Bahnhof einfuhr, vibrierten die alten, dunkelgrün lackierten stählernen Säulen, auf denen seit so vielen Jahren das Gewicht des ganzen Gebäudes lastete. Menschen liefen durcheinander, jeder auf dem Weg zu einem neuen Ort, niemand verweilte, niemand kam um des Bahnhofs Willen her.
Und so sahen die grünen Säulen jeden Tag Reisende, ohne einen einzigen Blick zur Seite, über glänzende Kacheln hinweg, immer wieder von rechteckigen Lichtflecken unterbrochen.
Sie nahmen sie kaum wahr, nur Züge sahen sie, Züge, Zeiten und Orte. Würden sie nur ein einiges Mal verharren, in der Mitte eines Lichtflecks verharrend den Kopf in den Nacken gelegt, sie hätten Ihren Augen nicht getraut beim Anblick all der Schönheit über Ihnen.
Denn das Dach, den grünen Säulen so schwere Last, war von verzierten Fenstern durchbrochen, glitzernd fiel Sonnenlicht hindurch, Staubkörner flogen in seinen Strahlen umher als wollten sie tanzen, Tanzen im Angesicht des blassblauen Himmels über Ihnen.
Sie würden staunen, Gedanken an Hektik und die Züge, denen sie immerzu nur hinterhereilen, wären vergessen.
Die Größe und Freiheit hätten sie gesehen, die Stärken, mit der eiserne Säulen geduldig ein ganzen Gebäude trugen, ohne je Beachtung zu finden, ehrfürchtig, sehnsuchtsvoll wollten sie dem Himmel entgegen streben.
Vielleicht hätten sie den Bahnhof verlassen, mit gepackten Koffern und flatternden Pässen, zwischen der unter den Arm geklemmten Zeitung.
Die Türen wären vor Ihnen aufgeschwungen und endlich hätten sie einmal die Geduld, die Aufmerksamkeit, die der Himmel und die Welt um sie verdiente.
Würden sie ihre Geschäftsreise absagen, mit Ihren Kindern in einen Park gehen, auf karierten Decken Sandwiches essen und Kakao trinken?
So zumindest hatte Fantine es sich immer vorgestellt.
Sie hatte sich ausgemalt, wie sie auf einer blauen Decke sitzen würde, ein knorriger, mit im Wind rhythmisch wehenden Blättern wehender Baum warf seinen Schatten über sie.
Eine Frau und ein Mann neben ihr, Eltern und das Gefühl von Ihnen, eine Familie und die Geborgenheit in die sie einen schließen.
So stand es in den Büchern, die kleinen zerknitterten Büchlein in der Wühlkiste der Bahnhofsbuchhandlung, die der Besitzer sie immer lesen ließ.
Wirklich erlebt hatte sie es nie und sie kannte auch niemand, der es hätte.
Als Waise geboren war sie aus einem Kinderheim entflohen um schließlich, nach Monaten auf der Straße, zwischen Dreck, Schlägen und der ständigen Erinnerung an das, was ihr verwehrt blieb, wenn eine Familie vorbeilief, wenn sie einen flüchtigen Blick in warme Wohnzimmer voll Kinderlachen warf, hier im Bahnhof, beschützt unter dem von seinen treuen Säulen so geduldig getragenen Dach, anzukommen.
La Habama Central, 401 Avenida de Bélgica Havana, Cuba.
Der Anfang war nicht leicht. Die größte Hoffnung hatten ihr die reichen Reisenden mit ihren elganten Anzügen, wehenden Kleidern und übervollen Taschen gemacht, denn jene waren ihr bisher nur in Reklamen, den Vorlagen Ihrer Fantasie, begegnet. Sie dachte, dass Menschen mit so viel Geld, sicher auch welches für sie übrig hätten, es schadete doch wohl nicht.
Doch sie hatten keines, nicht einmal Zeit, keinen flüchtigen Blick hatten sie für Fantine.
So blieb sie im Verborgenen, wie sie es immer schon getan hatte.
Die dunklen Schatten zwischen großen Mauern, waren für ein Mädchen wie sie doch genau richtig als Zuhause, die von halbvoll stehangelassenen Tellern gestohlenen Essensreste wären doch sicher angemessen für eine Waise.
Denn obwohl Fantines Leben so schmerzerfüllt klingt und ihre Kindheit in der grauen färbe Arbeit und Unsicherheit, nicht der von Spielen und Lachen gemalt war, hatte sie doch eines immer behalten.
Ihre Hoffnung.
Sie war der wohl optimistischste Mensch der einem begegnen konnte, an diesem Bahnhof und gleichsamen Theater der traurigen Gesichter, wie wohl auch der ganzen Insel.
Und lächeln konnte sie, dass die kalten Mauern ihre Schatten ein wenig heller, die Fenster ihr Licht ein wenig glitzernder scheinen wollten, nur um das Lächeln in passendes Licht zu setzen.
Dieses oft auch so verschmitze Lächeln, rettete ihr in einem nach dem anderen Jahr das Leben.
Es war der Grund wieso der Bäckermeister, ein Schrank von einem Mann, mit Pranken die man eher einem Boxer zugetraut hätte, begann ihr alles was in seiner Bäckerei so kunstvoll gebacken und von den arrogant blickenden Damen der feinen Gesellschaft doch für zu schief, zu unsymmetrisch, zu nicht standesgemäß befunden und verschmäht wurde, zuzuschieben. Noch bevor er die Tür für seine Kunden öffnete fand eine Papiertüte mit allerlei schiefen und allzu köstlichen Leckereien den Weg in Fantines Schattenhaus, als Frühstück zwischen die Arme des schlafenden Mädchens geschoben.
Ihr Lächeln hatte seine harten Gesichtszüge weich werden lassen, wie auch die des Buchhändlers, der ihr, zuerst unter strengen Blicken, später nur allzu bereitwillig, die kleine Welt aus Regalen und Papier seines Ladens zeigte.
Bald wurde sie die heimliche Königin des Bahnhofs, von allen versorgt und im Stillen behütet, auch wenn niemand darüber sprach. Keiner der Männer und Frauen wollte zugeben, eine Waise zu versorgen und wenn man sich auf dem Weg zu ihr begegnete, so erfand man allerhand fahrige Ausreden, wieso man denn im hintersten Winkel des Bahnhofes eine Lieferung zu bringen hatte.
Damals wusste sie es noch nicht, aber auch wenn sie keine normalen Eltern wie die anderen Kinder sie haben, hatte, so waren die Menschen am Bahnhof auch Eltern für sie. Eine große zwischen dem Wechsel der Züge taumelnde Familie.
Nach und nach wurde auch Ihr Schlafplatz immer schöner, zuerst zwischen kalten Säulen im tristen Schatten gelegen, zeigte ihr der Bahnhofsvorsteher das Dach des Bahnhofs. Es war ein geheimes Reich aus alten Holzbalken, Stahltträgern und den großen Fenstern der Bahnhofsuhr, durch die die Sonne hell hieinschien und ihr neues Zuhause mit Licht von weit weit her erstrahlen ließ. Über die ganze Stadt konnte man von dort oben aus blicken, die Menschen unter ihr waren Punkte die, aus der Ferne scheinbar sinnlos, in hektischem Tumult durcheinander wuselten.
Ganz so wie die Menschen am Bahnhof, doch nun konnte sie auf die Welt hinabsehen, wurde nicht von ihr zur Seite geschubst, zur Seite gedrängt wenn sie nicht rechtzeitig einem umherschwingennden Koffer oder allzu ungeduldigem Reisenden auswich.
Der Bahnhof wurde immer mehr ein Zuhause für sie und im Dachstuhl sammelte sie ihre ersten Besitztümer. Das meiste war nur für sie von Wert, Knöpfe die sie vom Boden aufgehoben hatte, der abgerissene Griff eines Koffers, eine leere Hutschachtel. Alles Dinge, die im Bahnhof zwischen Zügen und Abfahrtszeiten verloren gegangen, die niemand zu vermissen schien außer ihr, denn für sie waren sie nun das wertvollste ihrer kleinen Welt, direkt nach den grünen Bahnhofssäulen und ihrem Bild.
Dem Bild das ihre letzte Erinnerung an ein Zuhause war.
Es war Teil ihrer ersten Erinnerungen, schon im Heim stand es immer neben ihrem Bett und niemand durfte es anfassen.
In den einzigen Mantel, der sie vor der Kälte des Winters hätte schützen sollen, packte sie es auf der Straße. Blaue Finger und den Schmerz von Kälte konnte sie ignorieren, solange nur das Bild sicher war.
Sie hatte es ihr Leben lang bei sich getragen und schließlich hatte es sie an genau diesen Ort geführt, in die Bahnhofshalle mit den grün-weißen Kacheln und den weißen runden Tischen der Bäckerei.
Meistens lag es an seinem Platz vor dem Fenster der großen Uhr, sie blickte es vor dem Schlafengehen lange an, doch mehr Beachtung fand es kaum noch. Nur manchmal, da nahm sie es mit hinunter, ließ es an ihrem Leben teilhaben, neben ihr auf der Bank vor dem Bahnhof sitzen und mit ihm den Zügen beim Abfahren zusehen. Dann trug sie es morgens mit sich und brachte es erst Abends wieder hinauf.
So verging ihr Leben am Bahnhof über einige Monate, bald ein Jahr hinweg, bis eines Morgens.
An jenem Morgen schien die Sonne über Havana, ihre Strahlen drangen durch die großen Eingangstore des Bahnhofs, ließ den Koffertragenden lange Schatten wachsen, sie hafteten an ihren Sohlen, mit jedem Schritt, Verfolger und Beschützer zu gleich, kalte Schuhe mit kalten Händen umklammernd.
Der Bäcker hatte mit Fantine gefrühstückt, bevor er öffnete, so wie oft in letzter Zeit. Über die Monate waren sie sich immer näher gekommen und Fntine lernte neue Seiten an ihm kennen, sah was andere nicht sahen. Für die Reisenden war er der große plumpe Mann, sie blickten auf ihn herab, ganz anders als etwa die schüchterne Blumenverkäuferin an der Ecke mit der einzigen blauen Säule. Fantine hatte nie herausgefunden, wieso die Säule wohl blau war, doch die Verkäuferin betrachtete den Bäcker ehrfürchtiger, ihr flößte er Respekt ein.
Einzig Fantine sah ihn als Freund an, voller Sanftheit und liebevollen Augen, Sie hatte es immer schon gesehen, das liebevolle Glänzen seiner Augen. Er zeigte es niemand, doch eines Tagen würde die Welt es zu Gesicht bekommen. Eines Tages würde das liebevolle Glänzen seiner Augen überlaufen.
Nun saß er neben ihr, an einem der weißen runden Tische und gemeinsam sahen sie der Sonne beim Aufgehen zu, ganz wie die Frau auf dem Bild.
Das Bild. Fantine hatte es an diesem Morgen wieder einmal mit hinunter gebracht, ganz selten trug sie es in die große Halle. Es stand auf dem Stuhl neben ihr, stummer Zuschauer, unbeteiligt aber nicht unbeachtet - sie sprachen oft darüber wen es wohl darstellte, wer wohl die Frau im blauen Kleid an diesen Tischen gemalt hatte. Sie hatte gehofft, der Bäcker wüsste es, doch er konnte sich an keine Frau und keinen Maler erinnern, die auf seinen Stühlen gesessen hätten.
Bei ihrer Ankunft im Habama Central war sie sich noch sicher gewesen herauszufinden, wer es gemalt hatte, doch mit jedem neuen Morgen schwand die Hoffnung und das Bild wurde ihr immer verhasster.
Sie hasste, dass es stumm blieb. Sie hasste, die Frau darauf, dafür, dass sie ihr Gesicht verbarg, die Künstlerin für ihre fehlende Unterschrift.
Als der Bäcker aufstand, seinen Laden zu eröffnen, griff sie missmutig danach und trug es mit sich, auf dem Weg zurück nach oben.
Wut stieg in ihr auf, mit jedem Schritt stärker, mit jeden Schritt hielt sie es tiefer, bis sie es über den Boden schliff wie einen Müllsäcke den man nicht berühren möchte.
Sie wusste, dass sie die Farbe von den Kanten schabte, wollte, dass sich der Dreck auf den Kacheln dick über die Farbe legen, den Anblick der stummen Frau endlich verbergen würde.
Schon früher hatte sie diese gelegentlich Wut gehabt, diese Verzweiflung. Das Bild schien ihr immer wie ein Hinweis, eine Wegweiser zu ihrer Familie, oder wenigstens einer Gesichtet, Erinnerung an sie. Doch das war es nicht, es war nur bunte, kalte Farbe auf einer vergilbten Leinwand, stumm und hilflos.
Natürlich hatte sie es nie weggeben, die Hoffnung auf den Weg zurück, die Familie die es ihr zeigen sollte, war noch zu groß - aber mit jedem Jahr schwand sie, mit jedem Jahr wurde es mehr eine Hassliebe, ein Besitz den sie nicht weggeben und nicht ansehen mochte. Das wertvollste was sie besaß, aber lang nicht das liebste. Nein, es war das hoffnungsvollste, und Hoffnung, das hatte Fantine früh gelernt, ist weit schmerzhafter als alle Trauer, Angst und Einsamkeit zusammen.
Hoffnung lässt Blumen erblühen bevor der Frühling kommt, dass der Winter sie in schmerzhafter Umklammerung mit Eisfingern erwürgen konnte, sie ließ von fernen Orten und Menschen träumen, um die Realität noch einsamer und kälter erscheinen zu lassen, sobald man die Augen aufschlug.
Hoffnung war Fantine verhasst, genau wie das Bild immer mehr ihren Hass zu spüren bekam.
Eine Gruppe Männer lief ihr entgegen, in ihrer Mitte eine Frau um deren Aufmerksamkeit sie alle zu buhlen schienen. Sie redeten auf sie ein, unterbrachen und übertönten sich gegenseitig, der Frau schienen sie allerdings eher lästige Fliegen, als interessante Gentleman zu sein.
In ihrem Buhlen um Beachtung der schwarzhaarigen Dame im roten Kleid, bemerkten sie das kleine Mädchen nicht, bemerkten nicht, dass sie nicht ausweichen konnte, die Kante des Bahnsteigs direkt neben ihr.
Wäre sie ausgewichen, hätte sie umrundet oder wäre sie einfach stehen geblieben, ihre Geschichte wäre anders verlaufen.
Doch sie war wütend und wie es wütende Menschen schon immer an sich hatten, wollte sie nicht klein bei geben, schon gar nicht ausweichen.
Also marschierte sie stur weiter, das Bild schlieff schneller über den rauen Boden, die Leinwand riss ein.
Sie lief auf die enge Lücke zwischen Bahnsteig und dem lautesten der Männer zu und wäre wohl auch hindurchgeschlüpft, kurz angerempelt aber doch unversehrt.
Es wäre nichts passiert und ihr Leben hätte einen anderen, immer den gleichen Verlauf genommen, hätte der Mann im graublassen Anzug zur Seite gesehen, hätte er den Arm ein wenig höher, ein wenig langsamer bewegt. Doch er wollte der Lauteste, der Attraktivste sein, er wollte die Aufmerksamkeit der Frau in Rot, die nun sehr wohl das kleine Mädchen sah, das ihnen entgegen kam. Sein Arm hob zu einer schwungvollen, ausladenden Geste aus, geplant hätte sie ausgesehen, doch etwas war im Weg.
Fantines Kopf war im Weg, und mit dem ach so eleganten Schwung hob er sie von den Füßen, ließ ihren schmächtigen Körper direkt vom Bahnsteig auf die Gleise in der Grube darunter fallen.
Die Frau schrie erschrocken auf, das Mädchen hätte sich den Kopf an den stählernen Schienen blutig schlagen können.
Doch das Mädchen blieb unversehrt. Ihr schmaler Kopf mit den schwarzen Locken war abgefedert worden, von einem Gegenstand den sie schon längst aufgeben hatte.
Das Bild fiel zwischen sie und das glänzende Metall, lenkte ihren Kopf ab.
Trotzdem, der Sturz sollte nicht folgenlos gewesen sein.
Für einen Augenblick wurde Fantines Welt schwarz, Sterne blitzen, wo eben noch die Strahlen der Morgensonne waren, in ihrem Blickfeld auf.
Sie hörte Stimmen umherrufen, sanftere Hände als die des Mannes hoben sie zurück auf den Bahnsteig.
Ihre Augen öffneten sich langsam, schmale Schlitze aus gleisendem Licht, die allmählich breiter wurden und den Blick auf schwarze Haare, die in ihr Blickfeld fielen freigab.
„Hörst Du mich? Hast du Dich verletzt?"
Das Gesicht der Frau war besorgt, aus der Ferne hörte sie den Bäckermeister, der sich, grob und sorgenvoll wie er schon immer war, seinen Weg durch die Menschentraube um Fantine bahnte.
Er kniete sich neben sie, nahm ihren Kopf auf seinen Schoß und in seinem Gesicht, in seinen Augen sah Fantine etwas, das sie nie zuvor gesehen hatte.
Der sonst so grobschlächtige Mann weinte. Das liebevolle Glänzen seiner Augen war übergelaufen.
In seinen Armen ein kleines Mädchen, das er im Geiste schon blutend auf den Gleisen liegen gesehen hatte.
Sie drehte den Kopf zu der Frau mit den roten Haaren.
Sie war hinuntergestiegen, das Bild zu holen und kniete nun neben Ihnen.
Die Leinwand in ihrer Hand, hielt sie fest umklammert.
So fest wie Fantine sie früher immer gehalten hatte.
„Woher hast du das?“
Fantine schluckte. „Von meinen Eltern. Es ist von Mama und Papa.“ Die Frau blickte stumm zwischen dem Mädchen und der Leinwand hin und her.
In der Stimme des Mädchens war nun wieder Bitterkeit: „Aber es zeigt mir nicht, wer drauf ist. Die Frau zeigt mir ihr Gesicht nicht.“
Da liefen auch die traurigen Augen der Frau über.
„Das war ich, Kleines. Das Bild hat Deine Mutter gemalt."