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La Tène
Es kam Andrew so vor, als ob er sich im Spiegel betrachten würde: Schräg vis-à-vis stand ein neunzehnjähriger Bursche in speckiger dunkelblauer Levi's, blauem Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt und Löchern am Ellbogen und darunter ein ausgeleiertes weißes T-Shirt, der über einem Arm eine Reihe von Damenblusen und –pullovern hielt.
Andrew drehte sich zu Betty: "'Tschuldige?"
"Wie dir das gefällt, wollte ich wissen?", fragte Betty ungeduldig.
"Ja, gefällt mir."
"Besser als die pink' Bluse?"
"Weiß nicht."
"Das musst du doch wissen!"
"Ja, sie gefällt mir besser."
"Bist du sicher?"
"Mir gefallen beide", sagte Andrew unbestimmt.
"Mir dir einkaufen gehen, macht überhaupt keinen Spaß!"
"Nimm beide. Wirklich, in beiden schaust du sexy aus."
"Gib mir die da, ich gehe zurück in die Umkleidekabine."
Andrew drehte sich nach seinem Zwilling um, aber dieser war schon weg. Er ging ein paar Schritte auf und ab, während er sich im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand anschaute. Weil er sich bis jetzt nicht geduscht hatte, waren seine Haare zerzaust und ansatzweise fettig. Andrew fühlte sich wild, rebellisch und beschloss nur noch jeden zweiten Tag zu duschen.
Sie tauchte plötzlich wieder hinter ihm auf: "Hier ist noch mal die pink' Bluse mit dem gelben Pullover: Was sagst du nun?"
"Also, wie gesagt, mir gefallen beide, aber jetzt würd' ich sagen, die pink' Bluse ist besser."
Betty machte eine Pirouette vor dem Spiegel, zupfte an sich herum, spitzte ihre Lippen, senkte ihren Kopf und fixierte von unten herauf ihr Ebenbild. Nach einigen Momenten der inneren Anspannung blies sie diese in den Verkaufsraum und wandte sich wieder Andrew zu: "Ich glaube, ich nehm' die grüne. Nimm das schon mal und stell' dich derweil bei der Kasse an, ja?"
Ein Viertelstunde später saßen sie im "Das Alte Cafe". Es war verraucht und roch muffig, nach verschüttetem abgestandenem Bier. Während sie bestellten, kramte er sein silbernes Dupont-Feuerzeug, das er von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte, aus der Hosentasche und zündete zwei Marlboro lights Zigaretten an, wovon er eine an Betty reichte.
"Und wie war's gestern?", fragte sie.
"Ok."
"Hat er Stress gemacht?"
"Nicht wirklich. Er wollte nur wissen, was ich jetzt machen werde. Meinte, es werde langsam Zeit", antwortete Andrew angestrengt, als ob der gestrige Tag eine Ewigkeit vorbei wäre.
"Und was wirst du machen?"
"Weiß nicht."
"Das musst du doch wissen! Bald fängt die Uni an, oder?"
"Die Inskriptionsfrist läuft zwar schon, aber ich hab' Zeit bis Ende Oktober, und selbst danach kann ich mich immer noch inskribieren. Kostet nur zehn Prozent mehr."
"Aber du wirst doch nicht solange warten? Musst du dich denn nicht für die Seminare und Kurse rechtzeitig anmelden? Zumindest ist's bei meinem Bruder so."
"Ja, eh. Ich mein' ja nur, dass ich noch Zeit hab', und ich wollt' mich morgen eh inskribieren geh'n."
"Und was wirst du jetzt machen?"
"Jus oder Wirtschaft."
"Und welches von beiden?"
"Ich weiß noch nicht."
Der Ober kam, stellte die Getränke vor ihnen und brachte einen Aschenbecher. Andrew dämpfte seine Zigarette aus und zündete sich gleich eine weitere an. Diesmal nahm er jedoch seine eigenen aus der Hosentasche. Filterlose Lucky Strike.
"Ich mag nicht, dass du diese starken Zigaretten rauchst. Die tun deinem Asthma nicht gut."
"Ich find' es süß, wie du dich um mich kümmerst. Komm, gib mir einen Kuss."
Sie küssten sich. Als er versuchte seine Zunge in ihren Mund hineinzuschieben, drehte Betty ihren Kopf weg: "Du weißt, ich mag das nicht. In der Öffentlichkeit züngeln."
Während er Ringe blies, streichelte er ihren Oberschenkel. Er versuchte verstohlen zwischen ihre Beine zu greifen, aber sie stieß ihn heftig weg.
"Was ist los mit dir? Willst du es etwa hier vor allen machen?", flüsterte sie eindringlich.
"Ich will dich nur berühren. Es hätt' ja eh keiner was geseh'n. Ich liebe dich."
Verärgert nahm Betty eine Marlboro lights Zigarette aus der Schachtel, und Andrew gab ihr wieder Feuer.
"Wenigstens willst du nicht mehr Geschichte studieren. Stell' dir vor, du studierst Geschichte und wärst dann Lehrer geworden", sagte Betty lachend und schüttelte dabei ihren Kopf, als ob sie von Krämpfen gebeutelt würde.
"Ich wollt' ja eh nie Lehrer werden, sondern auch noch Archäologie studieren und zu Ausgrabungen geh'n und so."
"Wie bist du eigentlich auf diese Schnapsidee gekommen?"
"Vor zwei Jahren war ich mit meinen Eltern auf einem Schiff in der Türkei. Wir haben zwei Yachten gemietet gehabt. Eins war für die Alten und deren Freunde, und das andere war für uns Jugendliche."
"Gottfried war damals auch mit, oder? Er hat mir gesagt, ihr habt die ganze Zeit nur gesoffen und Haschisch geraucht, ohne dass die Alten was gemerkt hätten."
"Ja, das auch. Wie auch immer, mein Vater mag ja Kultur, Museen und so, also haben die Alten fast jeden Tag Kunst und Kultursachen gemacht. Einmal war ich dann bei so einer Exkursion mit. Es war Ephesos. Die Ausgrabungen dort werden ja von Österreichern gemacht, und mein Vater kennt den Leiter. Wir hatten dadurch eine ganz private Führung, die wirklich ein Wahnsinn war. Zum Beispiel weiß ich noch immer, das Heraklit dort geboren wurde. Panta rhei und so. Auch hat Krösus dort einen Tempel bauen lassen und angeblich soll sogar Maria dort gestorben sein."
"Welche Maria?"
"Na, die Mutter von Jesus. Seit damals hat mich Geschichte, vor allem Altertumsgeschichte, wahnsinnig interessiert. Ich war dann später noch in Troja mit und letzten Winter in Ägypten, aber das weißt du ja."
"Nun, jetzt machst du ja zum Gück Jus oder Wirtschaft."
"Ja."
Sie rauchten schweigend für einen Moment.
"Ich glaube auch, dass das die bessere Entscheidung ist. Du solltest Wirtschaft studieren, dann kannst du die Firma deines Vaters übernehmen", sagte Betty bestimmt.
"Ja, das ist die Überlegung. Aber ich glaube Jus würd' mir besser gefallen. Dabei muss man viel lesen, und du weißt, wie gern ich das mach'. Mit Jus kann ich später immer noch in die Wirtschaft. Ich weiß es aber einfach noch nicht."
Andrew zündete sich eine dritte Zigarette an, und sie beide bestellten noch etwas.
Zwei Stunden später lagen sie rauchend in seinem Bett. Andrew starrte auf die Weltkarte, die er an der Wand angebracht, und worin er mit roten und blauen Stecknadeln verschiedene Orte markiert hatte.
"Wann ist eigentlich das Fest beim Gottfried?", fragte Betty.
"Diesen Freitag."
"Ich hoffe, mein Vater macht keinen Stress deswegen."
"Es ist doch erst der Schulanfang, da lässt er dich sicherlich noch weg unter der Woche."
"Wahrscheinlich, aber man kann ja nie wissen. Auf jeden Fall werd' ich meine neue Bluse tragen."
Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, der auf Andrews Brust balancierte, nahm ein Taschentuch aus der Box vom Nachtkästchen, sprang auf und steckte es zwischen ihre Beine, daraufhin trippelte sie aus dem Zimmer. Eine Minute später hörte er die Toilettenspülung und im nächsten Moment ging die Dusche an.
Andrew stellte den Aschenbecher neben sich, dämpfte auch seine Zigarette aus und beugte sich ganz weit aus dem Bett, um nach etwas zu greifen, dass sich darunter befand. Er stöhnte leise und wäre fast auf dem Boden gefallen, konnte sich aber noch fangen und zog nun ein dickes Buch hervor, das den einfachen Titel "Kelten" trug. Der Untertitel, "Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur", war im Gegensatz dazu wesentlich ambitionierter. Er schlug es auf, blätterte eine Weile und schien die Stelle gefunden zu haben, wo er zuletzt zu lesen aufgehört hatte.
"Andrew!"
"'Tschuldige?"
"Hörst du eigentlich schlecht? Ich frage nun schon zum dritten Mal: Fährst du mich nach Hause oder muss ich die Öffis nehmen?"
"Nein, nein, ich bring' dich schon. Lass mich das noch zu Ende lesen."
"Aber ich muss schon nach Hause, und du musst noch duschen."
"Ich kann auch ohne zu duschen geh'n."
"Du riechst aber schon ziemlich intensiv. Sei mir nicht bös', aber wirklich."
Andrew klappte das Buch zu und legte es wieder unter das Bett. Daraufhin öffnete er eine Lade von seinem Nachttischkästchen, kramte herum und nahm eine rote Stecknadel heraus. Vorsichtig stand er auf und trat ganz nah an seine Weltkarte heran und ließ für ein paar Augenblicke seine Augen darauf herumwandern, um die Nadel dann in der Schweiz am Neuenburgersee zu versenken.
"Was hast du denn markiert?"
"La Tène."
"Und was ist dort zu finden?"
"Kelten."
"Andrew! Ich muss jetzt wirklich nach Hause!"