- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Labyrinth
Seit ich mich erinnern kann, lief ich durch diese Gänge. Ich kann mich nicht erinnern, je einen Ausgang gesucht zu haben, ich hielt lediglich nach etwas Ausschau das anders war, als das Grau der Wände. Ich benötigte nicht Schlaf noch Essen, meine Beine schmerzten nicht vom ewigen Gehen. Und obwohl Tausende Abzweigungen meinen Weg kreuzten, gab es für mich immer nur eine Möglichkeit.
Warum befand ich mich an so einem Ort? Auch wenn ich mich nicht an die Zeit vor dem Labyrinth – falls es denn eine gab – erinnern konnte, ich wusste dennoch, dass da noch mehr sein musste. Eine andere Seite, vielleicht sogar eine vollkommen andere Welt, alles war möglich, aber ich spürte, am falschen Ort zu sein.
Ich begegnete einem Mädchen, sie besaß keine Sicht, ich keine Sprache. Wir berührten uns und wussten, dass wir einander nichts Böses wollten. Wir wussten, dass wir in einer Welt waren, die ich nie wagen würde, die unsere zu nennen.
Ihre Haut war weich und warm, ihre Augen groß und grün, wenn auch blind. Kornblondes Haar fiel ihr über die schönen schmalen Schultern. Seite an Seite lagen wir unendlich lange Zeit beieinander, doch wenn ich sie auch noch so sehr begehrte und sie mich, so trennten uns doch unsere Wege und beide folgten wir ihnen in eine andere Richtung, die uns bestimmt war.
Auch wenn sie nicht sehen konnte, fand sie ihren Weg durch das graue Labyrinth, und auch wenn ich nicht sprechen konnte, rief ich ihr einen Abschiedsgruß hinterher. „Ich liebe dich“, sagte ich und sie verstand. Ihre Augen waren die einzigen, die weinten.
Ich eilte durch das Labyrinth, danach trachtend sie wieder zu sehen. Mehr zählte für mich nicht. Wir konnten hier glücklich sein, sobald wir endlich gemeinsam in einer Sackgasse waren, und uns die Wege nicht mehr trennen konnten. Kein Hunger, kein Tod, nur endlose Liebe. Wen kümmerte, was um uns herum geschah?