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Lag
Lag
Gestern schneite es, ich sah's und ging spazieren. Meine ewig in den Hosentaschen suchenden Finger waren kalt und stanken nach Zigarettenrauch. Ich habe den Wald gesehen. Dort gab's gefrorene Bänke und verschneite Mülltonnen. Auf zugefrorenen Teichen spielten Mütter und Väter. Meine Hände tauchten in den Schnee, formten daraus etwas, ließen es fallen. Ich schaute nach links, nach rechts, nach oben, nach unten. Ich kam an eine Lichtung, weit ab von winterlichen Vergnügungen. Hier war der Himmel Decke, die Sonne ein grauer Kreis, das viele Weiß unbetreten, hier schwiegen Vögel, irgendwo bellte ein Hund, irgendwo bellte er ein zweites Mal. Hier konnte man stehen bleiben und sich so was denken, wie: «Wenn dir eben langweilig ist, dann ist dir eben langweilig. Da kannste nicht viel machen, da geht nichts.» Neben mir stand auch ein Mädchen. Wir rutschten gemeinsam aus und brachen uns die Beine.
Ihr Rücken lag mir gegenüber. Dort lag sie barfuß im roten Sommerkleid, mit blondem Haar. Wir schwiegen und atmeten. Ich betrachtete meine Hand und verglich. Ihre Haut schien gut durchblutet, meine grau. Ich wollte sie berühren, nur ein wenig. Es hätte sich vielleicht gut ergänzt, mir fiel nichts Besseres ein, erzählen gelang mir nicht. Meine Finger fingen an türkis werdend zu glitzern. Das beeindruckte. Ich bewegte sie ein wenig, denn Stunden vergingen.
Es änderte sich viel. Die Farben erloschen, es wurde spät. Ein paar Konturen ließen sich noch erahnen, da dachte ich an Musik. Es störte. Sie war zu laut und auch nicht besonders abwechslungsreich. Entschlossen beschloss ich diese Melodien mit überdeckenden Gedanken bis zum Tageseinbruch vergessen zu wollen. Das gelang mir auch. Jedenfalls entfremdeten sich die Töne so weit, dass sie, lediglich illustrierend taktlos im Hintergrund, nicht mehr so richtig wussten weshalb sie existierten. Es war lange dunkel. Kleine bunt wirkende Muster kriselten mir in der Schwärze.
Ich habe irgendwie geschlafen und erwachte zeitig, wie ich es immer tat, lange vor dem ersten Licht. Im Schnee fanden sich kleine Spuren, die sich mir durch halbe Schatten offenbaren mussten. In den frühen Stunden wurde das Weiße wieder weiß gemacht und die Farben kehrten zurück. Das rote Kleid glänzte in den leichten Falten etwas golden und die blonden Haare reflektierten die junge Sonne, welche sich hinter mir nüchtern erhob. Ihr Körper verlor nichts von seinem gestrigen Ansehen. Er lag wie er hingeschmissen wurde: konzentriert lebendig. Aber etwas weiter entfernt, als rutschte er langsam davon. Die harte Schneedecke spiegelte das alles ein wenig wieder, das Eisige funkelte, wie auf frostigen gesalzenen Straßen, ganz so, wie's auch Sand für die Lichter tun muss. Ich vernahm ein nahes Geräusch. Ein leichtes knirschendes Dämpfen. Ganz gelassen trat ein fuchsrotes Eichhörnchen suchend zwischen uns. Es sah sich um, überwiegend zum gräulich glänzenden Himmel. Es wühlte im Schnee, fand ein kleines Stück Styropor und fing an, daran hastig mit kleinen Bissen zu knabbern. Es ließ sich Zeit und drehte oft Kreise. Es sprang der roten Schönen auf die Schulter, spielte mit ihrem Haar als täte es flechten, streichelte sich schüchtern an ihrem Kleid, das dadurch samtig wirkte, rannte dann davon, ich begann es zu vermissen. Ein Vogel versuchte wieder irgendwo zu zwitschern, ein Hund, der diesmal ganz besonders aufmerksam bellen wollte, gab ebenso schnell wieder auf, denn Winde fluchten kalt. Wenig später begann es zu schneien. Die Winde schoben uns. Das Kleid verblasste, sie glitt davon. In ihrer Haltung lag sie brav, bis das Weiße, der schmetternde Schnee sie vor mir verbarg.
Alleine verbrachte ich Stunden, genoss Langeweile, betrachtete noch einmal meine Finger. Sie glänzten nicht, sie zeigten mich gebrochen: blaue Lippen, rote Augen und eine vereiste rissige Stirn. Nachdem ich meine Hand wieder in den Schnee gedrückt habe, hielt ich Mittagsschlaf. Es war ein leichter Schlaf. Keine Träume. Schritte weckten mich. Ganz in meiner Nähe lief wohl Jemand langsam und etwas Schnelleres, vielleicht etwas Kleineres, schien ihn hechelnd zu begleiten. Im Schlaf musste ich mich bewegt haben, ich lag auf dem Rücken. Weit oben flog mir ein Flugzeug, mit ausfächernden Kondensstreifen, in die Sicht, welche klarer zu werden begann.
«Biste tot?», flüsterte der, der zu mir hinunter sah, beinahe zu sich.
Schweigen, dachte ich mir. Schweig jetzt, sag kein Wort und schließe deine Augen wie man es von Toten erwartet. Ich glaubte genau zu wissen, dass die hechelnde Kleinigkeit an meiner Hose roch und dass mich etwas Schwefelriechendes mehrmals anstach.
«Was'n los, lebste noch?»
«Naja, schon noch», erwiderte ich aufgebend gelassen.
Anscheinend zufrieden gestellt verschwand er gleich darauf, zog mir dabei streng an etwas Ledrigem die Kleinigkeit vom Gesicht. Es war aufregend, ich fühlte Wärme in mir, beleidigende Durchsetzung. Ja, ich trat für mein Belangen ein, ich durfte weiter liegen, daran konnte nichts verkehrt sein. Vorsichtig öffnete ich meine Augenlider. Das tat ich mit einen leichten Lächeln. Die Sonne stand ätzend ausgereift über mir, sie taute meine Glieder, als forderte sie mich zum Bewegen auf.
Als ich wiederkehrende Schritte des Jemandem und die des kleinlichen beiseite Tippelndem vernahm ließ ich alle Hoffnung auf Karriere fallen. Also wieder das Gleiche: stell dich tot, mach es gut, warte ab und schau zu wie sie dich gebrauchen. Er packte mich rau unter den Armen, schliff mich ein paar Meter, die nächste viertel Stunde verbrachte ich liegend, anfangs unbequem in einem Kofferraum. Ein vibrierender Bass weckte mich im Schlaf, das störte wenig, ich war nicht müde, nur gestresst, dass ich Pause, Erholung brauchte. Ich gab mich mit meiner Situation ab, befreundete mich sogar mit ihr, lernte sie kennen, dann zu schätzen, gar zu lieben. Hier herrschte ein angenehmes Schwarz, es ersetzte mir den Schlaf. Lediglich störte mich Schwankung, Schlagloch, Auf- und Abfahrt, ich war aber weiter diszipliniert bestrebt meine Haltung beizubehalten. Ich dachte während der Fahrt an die rot bekleidete Blonde und belauschte die Kleinigkeit beim Seufzen, die nebenan im Raume herum schleudernd, gegen Scheiben, gegen den Fahrendem klatschen müsste.
Das Auto hielt, das Seufzende heulte kurz auf. Türen schlugen auf, prallten zu, Schlüssel klimperten suchend, der Kofferraum öffnete sich, Licht blendete, Augen zu. Er zog mich unsanft an den Armen, meine Schuhe schliffen kratzend auf sandigen Untergrund bis ich mich nach kurzer Strecke auf so etwas wie Heu, zwischen so etwas wie Gefieder niederlegen durfte. Ein Huhn kam nah, als er mich kurz verließ, pickte es an meinen Augen, verlor Federn als der Wiedergekommene es mit dem Stiefel trat und starb als seine Begleitung es knurrend zerbiss. Und ein Hahn begann zu weinen, und ein hölzernes Tor fiel zu, und zwischen dessen Brettern drang Licht, und die Strahlen durchschnitten Staub.