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- 30.06.2004
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Land ohne Morgen
Für Sebastian, der die Idee mit der Widmung hatte.
Ich bin mir nicht mal sicher, ob mein Datum stimmt. Ich bin schon so lange hier, dass ich die Zeit irgendwie verloren habe. Hier, das heißt im Land ohne Morgen.
So habe ich es genannt. Jetzt habe ich es aufgeschrieben, und wie es da steht, sieht es beinahe poetisch aus. Aber es ist alles andere als poetisch hier.
Heute habe ich dieses Buch gefunden. Es lag in einem verlassenen Haus auf einem schweren Ebenholzschreibtisch. Das Tintenfass stand daneben und Schreibfedern lagen bereit. Wie, als hätte es auf mich gewartet. Ich weiß nicht, wer Thera ist. Die Widmung stand schon da. Ich habe das Gefühl, der Name sollte mir etwas sagen, aber das tut er nicht.
Mein Kopf ist so leer. Seit ich hier bin, bin ich nur ständig durch die Gegend gezogen. Niemand lebt hier. Ich weiß noch nicht mal, wo das ist, das Land ohne Morgen.
Ich werde aufschreiben, was passiert, und auch, was passiert ist. Sonst gibt es nicht viel zu tun, und ich habe das Gefühl, ich werde sonst wahnsinnig.
Mein Name ist Crisunane. Wie die Fruchtbarkeitsgöttin. Meine Mutter fand den Namen ja "so schön". Ich mag ihn nicht. Stipen nennt mich „Fitz“, das finde ich süß. Stipen ist mein kleiner Bruder. Er ist dieses Jahr zehn geworden.
Nun gut, zur Sache: ich bin Crisunane und ich bin Zauberschülerin. Zumindest war ich das, bevor ich hierher kam. Hier kann ich nicht zaubern. Ich hab’s natürlich probiert, gleich zu Anfang. Aber es klappt nicht.
Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin. Ich kann mich noch erinnern, dass ich ein Gespräch mit meinem Meister hatte, Magister Ulandrius. Er hatte mich zu sich bestellt, das muss jetzt etwa zwei Monate her sein, wenn ich mich nicht irre.
„Crisunane“, sagte er, „du bist nun bereit, deine Ausbildung abzuschließen.“ Ich war so aufgeregt, dass ich mich gar nicht geärgert habe, dass er mich mit meinem ganzen Namen angesprochen hatte.
„Ich muss dich aber warnen“, sprach er weiter „die letzte Prüfung wird anders werden als alle zuvor. Das, was du bisher gelernt hast, wird dir nicht viel helfen können. Was du wirklich brauchst, ist Geduld, Kombinationsvermögen, Willenskraft, Instinkt, verstehst du? Es ist wichtig, dass ein Zauberer so etwas lernt, Magie alleine ist nicht alles" Ich nickte, obwohl ich nicht ganz begriff, was er mir sagen wollte. Wobei sollten meine Zauber mir denn nicht helfen können? Aber ich hatte mich bereits daran gewöhnt, dass ich ihn nicht immer verstand.
„Ich bin bereit, Meister“, sagte ich, oder so etwas Ähnliches. Er sah mich nur traurig an.
„Dann geh jetzt zu Bett, wir werden morgen früh beginnen!“
Ich tat, wie mir befohlen und am nächsten Morgen wachte ich hier auf.
Das Land ohne Morgen ist eine riesige endlose Ebene, nur ab und zu stehen ein paar kleine Dörfer zwischen dem wogenden Gras, und hier und da wachsen ein paar krüppelige Bäume. Ich habe noch keine Menschenseele gesehen, seit ich hier bin, obwohl die Häuser alle gut gepflegt sind. In ihnen finde ich auch immer genügend Vorräte, um mich am Leben zu erhalten. Zumindest körperlich.
Ich wandere von Dorf zu Dorf und finde doch keine Anzeichen dafür, wo ich überhaupt bin. Zuerst dachte ich natürlich, das wäre die großartige Prüfung, von der Meister Ulandrius sprach. Aber ich glaube das nicht mehr. Denn ich bin gefangen hier und werde wohl auch nie einen Ausweg finden. Das kann ja nicht der Sinn einer Prüfung sein. Ich habe am Anfang wirklich alles versucht, um hier wegzukommen. Mehr hätte niemand tun können, wirklich.
Es kann einfach nicht die Prüfung sein. Denn hier hilft mir alle Geduld, alle Willenskraft nicht weiter. Das einzige, was ich kann, ist am Leben bleiben.
Aber wen versuche ich zu überzeugen? Mich?
Mal sehen, ich könnte noch schreiben, warum dies das „Land ohne Morgen“ ist. Es gibt hier nämlich keinen Morgen. Auch keinen Abend. Es ist nicht ewig dunkel, das nicht. Es gibt Tag und Nacht, zumindest so etwas ähnliches. Aber die Sonne geht an, wie eine Lampe, und dann geht sie irgendwann wieder aus. Sie wandert auch nicht. Sie steht immer an der selben Stelle und brennt herunter. Der Himmel ist milchig grau. Regnen tut es hier nie. Es gibt auch nie Wolken. Aber Flüsse sind da, und Seen. Es ist nicht leicht, es zu verstehen. Wenn ich darüber nachdenke, werde ich noch ganz wirr im Kopf. Ich lasse es wohl lieber.
Ich glaube, für heute habe ich genug geschrieben. Es gibt ja wirklich auch nicht so viel zu berichten. Ich muss weiterziehen, Essen suchen.
Auf bald, liebe Thera, wer auch immer du sein magst.
Ich habe eine weitere Talmulde durchquert. Das Gras steht hüfthoch. Kein Lüftchen regt sich. Sowieso gibt es hier keinen Wind. Die Sonne brennt herunter und ich sitze an einem See, der mir meine Füße kühlt.
Ach ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Ist doch sowieso alles das Selbe hier.
Wer ist wohl diese Thera gewesen? Und warum widmet jemand ihr ein leeres Buch? Es lag aufgeschlagen da, die Widmung deutlich sichtbar. Jemand muss hier gewesen sein und das Buch dahin gelegt haben. Auch wenn das schon neunzehn Jahre her ist, jemand war hier. Und wer hält wohl die Häuser in Schuss?
Bestimmt steckt Magie dahinter. Ach, warum habe ich bloß meine verloren, sonst könnte ich das heraus finden!
Ich glaube, Meister Ulandrius wollte mich bloß loswerden. Man hatte mich ja schon früher vor ihm gewarnt. Im Dorf sagte man, seine Lehrlinge wären nie zurückgekehrt. Manche sagten sogar, er habe sie aufgegessen. Das ist natürlich Unsinn, aber vielleicht hat er sie verschwinden lassen. Jeder weiß, dass er ein eingebildeter alter Kauz ist, der sich nicht gerne dreinreden lässt. Vielleicht hat er Angst, dass seine Lehrlinge ihm Konkurrenz machen?
Aber die dumme kleine Fitz wollte ja Zauberin werden.
Das hab ich nun von meinem ewigen Sturkopf, ich dumme Kuh!
Moment.
Ich habe versucht, einen Zauber zu wirken, um heraus zu finden, warum die Tinte auf dieser Seite blau wird. Hat natürlich nicht funktioniert. Das Buch muss verzaubert sein. Aber warum belegt jemand ein Buch mit so einem dämlichen Zauber? Wen interessiert, ob die Tinte schwarz oder blau ist?
Hoppla, ich hab’ das Datum noch nicht aufgeschrieben. Hier ist es: Tag der Freude, 3. Runam, 811.
Ich glaube, es ist die Stille, die mir wirklich zu schaffen macht. Es gibt kein Leben hier, nicht nur keine Menschen, auch keine Tiere. Ich vermisse den Gesang von Vögeln am Morgen, den mochte ich früher immer so gerne. Ich hatte bei Ulandrius ein Turmzimmer, vor dem Fenster wuchs eine riesige Pappel. Morgens saß da immer so ein roter Vogel drin und sang. Ich glaube, Vögel müssten sich eigentlich hier wohlfühlen.
Na ja, gute Nacht, liebe Thera, ich bin müde.
Auf dieser Seite ist die Tinte wieder normal. Aber das siehst du ja, liebe Thera.
Ich muss verrückt sein, ich schreibe an jemanden, den ich gar nicht kenne. Aber meine Mutter sagte ja schon immer, dass ich zu viel Einbildungskraft hätte.
Thera, es wäre schön, wenn du hier wärest, ich wünsche mir so, mit jemandem zu reden. Heute hab’ ich mein Spiegelbild in einem der alten Standspiegel betrachtet. Ich bin so dünn geworden, obwohl ich doch immer esse, wenn ich etwas finde. Hungrig bin ich jedenfalls nie.
Eigentlich bin ich nur alleine.
Liebe Thera,
was soll ich dir schreiben, was du noch nicht weißt? Wie siehst du aus, liebe Thera? Sind deine Haare schwarz und deine Augen grün, so wie meine? Bist du vielleicht eine verlorene Zwillingsschwester von mir? Hat dich Ulandrius auch hier eingesperrt? Und wohin bist du dann gegangen? Und warum hat man dir ein Buch gewidmet? Und warum hast du es nicht gefunden?
Liebe Thera, erzähle doch etwas von dir!
Ich glaube, jetzt werde ich wirklich wahnsinnig.
Gute Nacht, liebe Thera.
Liebe Thera,
etwas Seltsames ist passiert. Heute bin ich aufgewacht, die Sonne stand an ihrem Platz und Vögel sangen!
Tatsächlich, auf einem Baum in der Nähe saß eine kleine Gruppe Vögel und sang ein Morgenlied. Es war natürlich nicht ganz passend, weil es keinen Morgen gibt, aber gefreut hab’ ich mich trotzdem. Die Vögel sind mir den ganzen Tag lang hinterher geflogen, und jetzt schlafen sie auf dem Dachfirst über mir. Es ist schon dunkel und ich hab’ ein kleines Feuer angezündet.
Zum ersten Mal, seit ich hier bin, fühle ich mich ein bisschen wohl.
Liebe Thera, bist du eine Zauberin, die mir die Vögel geschenkt hat?
Liebe Thera,
heute schreibe ich dir wieder in Blau. Ich freue mich so über deine Vögel. Sie begleiten mich überall hin. Sie sind richtig zahm, picken nach Brotkrümeln auf meinem Kleid. Wenigstens habe ich jetzt Gesellschaft, wenn auch sonst nichts Aufregendes passiert. Manchmal sehne ich mich nach etwas Aufregung, in diesen grauen Tagen. Aber ich will mich nicht beschweren, liebe Thera. Schließlich bin ich jetzt nicht mehr ganz so alleine.
Danke, liebe Thera!
Die Vögel sind traurig geworden und singen nicht mehr. Wahrscheinlich vermissen sie auch den Sonnenaufgang, so wie ich.
Manchmal denke ich, dass ich wie ein Vampir bin: ich sehne mich nach dem Morgen und doch fürchte ich mich davor, was dann passieren könnte. Warum ich mich fürchte, weiß ich nicht.
Ich wünschte, ich könnte auch nur einen Sonnenaufgang sehen.
Etwas schleicht in den Schatten der Häuser herum, in denen ich lagere. Ein großes Wesen mit Krallen, die Kratzer auf den alten Steinen hinterlassen. Ich habe sie gesehen, sie waren ganz frisch. Wenn ich schreibe, dann kann ich den Schatten des Wesens aus den Augenwinkeln vorbeihuschen ahnen. Ich höre seine Krallen auf dem Fels klicken.
Ich traue mich nicht, die Augen zu schließen, weil ich weiß, es wird mich dann holen. Ich werde jetzt aufstehen und weiterziehen. Vielleicht lasse ich das Wesen hinter mir zurück, wie die Häuser.
Ich bin sehr müde.
Gestern bin ich den ganzen Tag gewandert. Ein Dorf habe ich verlassen und bin zum nächsten gezogen. Doch das Wesen gab nicht auf. Ich war mir immer seiner Anwesenheit bewusst. Leise, heimlich, und doch so präsent, dass ich es nicht verleugnen konnte, folgte es mir über das karge Hügelland.
In diesem Dorf gibt es einen alten steinernen Turm, in den ich mich zurückgezogen habe. Die massive Holztür habe ich verrammelt und nun sitze ich an einem Schreibtisch, der meinem früheren gleicht und schreibe. Wenn ich aufstehe und aus dem Fenster sehe, kann ich das Wesen erkennen, wie es um den Fuß des Turmes streift. Es ist massig, bärengleich, doch größer. Sein Fell ist dunkel und gleicht den Schatten, die in den Ecken lauern.
Ich bete lautlos, dass es nicht klettern kann. Die Fenster hier haben keine Läden. Doch ich muss schlafen.
Die Vögel haben mich geweckt, weil sie an meinen Haaren pickten. Das Wesen hat mich also verschont, aber es streicht noch immer unten um den Turm. Ich höre es knurren. Ich wünschte, es würde verschwinden, dorthin, wo es hergekommen ist. Wo ist es überhaupt hergekommen?
Ich scheine vorerst in Sicherheit zu sein und mache mich auf die Suche nach etwas zu essen.
Liebe Thera,
ja, ich bin in Sicherheit, aber ich bin auch gefangen. Gefangen in diesem alten Turm, während das Monster draußen immer hungriger wird. Ich kann es jetzt bis in die Nacht heulen hören. Heute hat es zwei deiner Vögel gefressen, die ihm zu nahe kamen.
Wenn ich doch nur meine Magie hätte, dann würde ich dieses Wesen erschlagen, wie einen räudigen Hund. Oder die Erde würde sich unter ihm auftun.
Thera, wenn du eine Zauberin bist, dann hilf mir!
Ich bin hungrig.
Die Vorräte hier drinnen werden knapp.
Das Wesen ist immer noch nicht verschwunden.
Ich will nach Hause.
Liebe Thera,
ich habe dein Bild gefunden. Drei Tage hat es gedauert, den ganzen Turm zu durchsuchen. Ich brauche eine Waffe, wenn ich mich dem Biest da draußen stellen möchte. Statt dessen habe ich eine Truhe voller Magierroben gefunden und Bücher mit Zaubersprüchen, die mir nicht helfen werden. Du hast sie geschrieben, denn sie sind alle in einer Handschrift, und du hast deinen Namen auf die erste Seite gesetzt. Ein Bild hast du auch von dir gezeichnet. Jetzt sitze ich hier, versuche, nicht auf meinen knurrenden Magen zu achten und nicht auf das Heulen des Biestes, und betrachte dich.
Du bist überhaupt nicht meine verlorene Zwillingsschwester. Ganz anders siehst du aus. Viel hübscher, als ich. Dein Haar ist blond und lockig, deine Züge, obwohl traurig und verzweifelt, zierlich und ebenmäßig. Deine Augen sind tiefblau. Sehr schön bist du, Thera, aber nun weiß ich, dass auch du hier gefangen warst, so wie ich. Auch du siehst hilflos aus, auf dem Bild, so hilflos, wie ich mich fühle. Vielleicht noch etwas mehr, zart, wie du bist. Auch du konntest zaubern und auch dir hat es nicht geholfen. Schade, dass du kein Tagebuch geführt hast, ich hätte gerne gewusst, wie es dir ergangen ist.
Du hast in eines der Bücher geschrieben: „Thera, Schülerin des Ulandrius“. Also hat er auch dich hier eingesperrt. Ich glaube, mich an dich zu erinnern. Man erzählte im Dorf von dir, eine Schönheit nannte man dich. Dann warst du eines Tages verschwunden. Wie ich.
Der Turm erbebt, das Monster wirft sich wieder und wieder gegen die Tür. Hat es auch dich geholt? Tut es weh, zu sterben? Oder ist es nicht so schlimm, wenn deine Seele schon zuvor gestorben ist?
Ich glaube, ich würde gerne sterben.
Das Monster ist tot, doch es ist nicht mein Verdienst.
Mein linkes Handgelenk schmerzt sehr, ich glaube, ich habe es mir beim Sturz gebrochen. Theras Turm steht nicht mehr. Ich wollte dem Biest gegenübertreten. Bewaffnet mit einem Küchenmesser, es muss sehr pathetisch ausgesehen haben. Gerade, als ich die Treppe herunterlief, wurde es dunkel. Und die Tür splitterte endlich unter dem Ansturm des Wesens. Mit einem Brüllen wie ein hungriger Löwe stürmte es durch die Vorhalle und die Treppe herauf. Ich machte mich auf alles Mögliche gefasst, aber leider nicht auf das, was wirklich passierte.
Die Erde bebte.
Der ganze Turm schwankte und große Steine brachen aus den Mauern. Einer davon traf das Wesen auf den Rücken und es jaulte so schrill, dass es mir in den Ohren schmerzte. Dann brach die Treppe unter uns weg. Ich stürzte auf meine Hände und Knie. Es tat furchtbar weh, aber ich hatte noch genug Geistesgegenwart, wieder aufzustehen und zur Tür zu rennen.
Wie sich herausstellte, eine gute Idee. Kaum war ich draußen, brach der Turm endgültig zusammen. In einer Lawine aus Schutt und Stein begrub er das Wesen unter sich. Dann bebte die Erde wieder, und dort, wo der Turm stand, tat sich ein großes Loch auf. Alles, wirklich alles, stürzte in die Tiefe. Ich saß nur dabei, starrte auf die Stelle, wo gerade noch der Turm gestanden hatte und hielt mir mein schmerzendes Handgelenk.
Das Seltsame daran ist, dass nur der Turm eingestürzt ist. Alle anderen Häuser sind ganz geblieben. Es scheint, als habe die Erde nur unter mir gebebt.
Wer sagt mir, was das zu bedeuten hat?
Liebe Thera,
es tut mir leid, dass ich so lange nicht geschrieben habe. Meine Hand schmerzte so sehr, dass ich oft nur wie betäubt dalag. Jetzt habe ich sie notdürftig bandagiert und es geht etwas besser.
Liebe Thera, du wirst es nicht glauben, aber ich habe noch ein Buch wie deines gefunden. Es lag in einem kleinen Häuschen, auf einem Schreibtisch, mit Schreibfedern daneben, genau wie dieses. Selbst der Einband ist der Gleiche. Aber es war zugeschlagen, und es steht ein anderer Name drin: Für Lanillus steht da. Jemand hat herein geschrieben. Die Tinte ist schwarz und auf manchen Seiten dunkelbraun. Ich werde mich jetzt hinsetzen, und darin lesen.
Deswegen mach’s gut für heute, liebe Thera.
Puh, was für eine gruselige Lektüre.
Dieser Lanillus war wohl ein Zauberschüler, gerade wie Thera, und ich. Auch er wurde von Ulandrius hierher gebracht. Zumindest vermutete er das. Auch er konnte hier nicht zaubern. Er hat eine Art Tagebuch geführt, allerdings viel ordentlicher als ich. Er scheint sehr mächtig und besonnen gewesen zu sein. Doch ich denke nicht, dass er einen Ausweg gefunden hat.
Etwas ist seltsam. In der ersten Zeit war Lanillus hier alleine, gerade so wie ich. Auch er wanderte über die Ebenen, zog von Dorf zu Dorf und sammelte das Essen ein. Bis er das Buch fand.
Beinahe seit Beginn seiner Aufzeichung schwebte er in Lebensgefahr. Ich habe das Buch nur zur Hälfte gelesen, bevor mich die Angst übermannte. Lanillus schreibt von Monstern, fremden Menschen, Armee, die ihn angriffen. Er war immer auf der Flucht, immer in Angst. Jetzt fürchte ich mich. Ein Monster habe ich ja überlebt, aber was ist, wenn noch mehr kommen? Was ist, wenn ich sie durch meine Schreiberei anlocke? Vielleicht treibe ich mich gerade selber in den Tod. Ich sollte aufhören, zu schreiben.
Ich kann nicht mit dem Schreiben aufhören. Es ist das Einzige, was mich daran hindert, verrückt zu werden. So war es schon immer. Wenn ich nur meine Gedanken an etwas festhalten kann, geht es mir schon besser. Magister Ulandrius hat mich früher oft dafür gelobt. Er sagte, es wäre eine nützliche Eigenschaft, für einen Magier. Manchmal sagte er auch, er wünschte, er hätte meine Selbstbeherrschung. Dann habe ich mich immer geschmeichelt gefühlt. Aber was nutzt mir hier alle Selbstbeherrschung?
Vielleicht sollte ich auch Fluchen und Schimpfen, so wie Lanillus es in seinem Buch tut. Aber dazu fühle ich mich zu betäubt. Ist das Selbstbeherrschung?
Ich werde Lanillus' Buch weiter lesen. Vielleicht erfahre ich, was mit ihm geschehen ist.
Eines ist klar: Lanillus besaß jedenfalls keine Selbstbeherrschung. Ich weiß nicht genau, was aus ihm geworden ist. Wahrscheinlich ist ihm etwas Schlimmes zugestoßen.
Immer öfter wurde er angegriffen, von fremden Menschen, draußen auf den Ebenen. Manchmal wünschte er sich eine Armee herbei, um gegen die stetig wachsenden Scharen der Gegner zu kämpfen. Einmal wäre er beinahe gestorben, weil ein ganzes Dorf einstürzte und er von Trümmern getroffen wurde. Selbst, wenn ich seine Aufzeichnungen nur lese, spüre ich seine Wut, seinen Hass. Ich glaube, er hätte gerne die ganze Welt in Trümmer geschlagen, wenn er es gekonnt hätte. Das Tagebuch spricht dauernd von Tod und Zerstörung. Die scheint er hier bekommen zu haben.
Was schreibe ich da?
Thera! Lanillus! Die Magie!
Ich muss das überprüfen!
Ich bin an den Grenzen der Welt. Das Land ohne Morgen endet hier. Zu sehen ist nichts. Oder besser gesagt: die Wand, die dieses Land abschließt, ist wie ein Spiegel, in dem man sich selber nicht sehen kann. Die Ebenen und Hügel scheinen endlos weiter zu gehen, bis an den Horizont, doch meine tastenden Hände stoßen auf eine massive Wand. Wie Glas.
Ich habe aufgehört, mit Thera zu reden. Sie muss ziemlich naiv gewesen sein. Vielleicht war sie sogar zufrieden, hier so zu leben. Ich erinnere mich schwach, dass mal jemand gesagt hat, sie sei zwar hübsch, aber schwach. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ain, weil ich sie mir jetzt so vorstelle. Auf jeden Fall hat sie zu schnell aufgegeben. Jetzt preise ich meinen Dickschädel, der mich immer weiter vorangetrieben hat.
Lanillus hat wenigstens sein Buch gefunden. Auch wenn er nicht erkannte, was es bedeutet.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich mein Buch fand. Mein schlichtes, kleines in Leder gebundenes Buch. Ein paar Seiten habe ich beschrieben. Auf manchen Seiten wird die Tinte grün. Ein tiefes, gelbgesprenkeltes Grün, genau wie meine Augen.
Und wenn die Tinte grün wird, kann ich mir etwas wünschen. Es funktioniert. Es ist viel stärker als meine Wünsche hier in Theras Buch. Und es wirkt gleich, nicht erst nach ein paar Tagen. Aber warum sollte ich auch mit der Magie einer Anderen zaubern?
Ich hatte doch recht, es ist die letzte Prüfung.
Und ich bin diejenige, die verstanden hat.
Mein Buch hat mich hierher gebracht, an die Grenzen der Welt. Es hat mir auch gezeigt, wie es aussieht, das Land ohne Morgen. Und ich habe mich immer gefragt, wozu die große Kristallkugel auf dem Regal von Meister Ulandrius gut sei. Und warum eine Lampe über ihr hing. Und warum der Meister sie immer so sorgenvoll betrachtete.
Ich stehe hier und fühle die kühle Glaswand unter meinen Fingern. Gleich werde ich mein Buch aufschlagen und auf die nächste grüne Seite schreiben:
ES SOLL ENDEN!
Dann werde ich frei sein.