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Landkarten
Die Kerzenflammen flackerten im Luftzug der sich schließenden Tür. „Guten Abend, mein Engel“, flötete es durch den Flur.
Lisa saß auf dem Sofa, die Fotos in der Hand.
Sie fühlte sich, als wären auf ihrer inneren Landkarte all die Figuren für eine strategische Schlachtbesprechung aufgestellt worden. Dieses rote Klötzchen ist eine Einheit Kavallerie, das grüne symbolisiert einhundert Infanteristen …
Lisas Haltung war sehr gerade, sie spürte die Kante des Sofas unter ihren Schenkeln. Die Teekanne auf dem Stövchen, die Tassen, der Teller mit Plätzchen und einem Rest Apfelkuchen, all das zeugte vom angestrengten Aufrechterhalten einer Normalität, die sie nicht mehr empfand. Ihr Inneres war wie betäubt, seit sie den Umschlag geöffnet hatte.
Keine Absenderadresse, kein Anschreiben, nur die Fotos von Stefan mit dieser vollbusigen Blondine im Arm, leicht bekleidet und die klaren Blicke alles andere als alkoholisiert. Seine Linke ruhte mal auf ihrer nackten Brust, deren Nippel aus dem Foto zu stechen schien, mal zwischen ihren Beinen, wo sie den Rand des langen Rockes bis weit über das Knie hinaufgeschoben hatte. Der Lippenstift, der, von leidenschaftlichen Küssen zeugend, auf beiden Gesichtern verschmiert war, glich in der Farbe dem Fleck, den sie mühsam von Stefans Unterhosen entfernt hatte. Natürlich hatte der Fleck keine Lippenform gehabt, saß aber an der Stelle, unter der normalerweise Stefans Eichel verpackt war.
Das hatte Lisa zunächst stutzig gemacht, aber sie hatte sich nichts dabei denken wollen.
Im Kreis ihrer Freundinnen lachte sie manchmal völlig unbeschwert über die verzweifelten Versuche der anderen Damen, das Fremdgehen ihrer Männer so weit es irgend ging zu vertuschen, und ebenso über die Drohungen. „Stefan sucht sich bestimmt auch eine andere, warte nur die Zeit ab“, ätzte Melanie eines Tages, das Gesicht tränennass. Sie hatte gerade vor den Freundinnen eingestehen müssen, dass ihre Scheidung unumgänglich war. Lisa quittierte das mit einem mitleidigen Lächeln. Ihr konnte so etwas doch nicht passieren!
Lisa und Stefan Bauer, beide Architekten und erfolgreich genug, sich das eigene und mittlerweile schuldenfreie Haus nach ihren Wünschen gebaut und eingerichtet haben zu können. Das absolute Traumpaar, zwar kinderlos, aber schon seit fast zwanzig Jahren glücklich verheiratet. Eine Sandkastenliebe, die sich mit der Ehe in einen stillen, tiefen See voll gegenseitigen Vertrauens und Geborgenheit verwandelt hatte.
Und nun sollte ausgerechnet ihr Stefan eine Geliebte haben?
Voller Elan betrat der gerade das halbdunkle Zimmer und stutzte. „Kerzen? Und Plätzchen? Womit habe ich denn so etwas verdient?“ fragte er fröhlich. Lisa stand auf und ging gemessenen Schrittes zu ihm hinüber. Sie hätte schreien mögen, blieb aber stumm und hielt ihm nur den Fotostapel entgegen. Er nahm die Bilder und sah eins nach dem anderen an, dann blickte er wieder zu ihr hoch.
Das Lächeln war von seinem Gesicht gerutscht wie Butter von einer heißen Kartoffel.
„Bianca …“
„Also kennst du sie?“ Lisas Stimme klang angestrengt. Sie wollte ihm keine Szene machen und hielt ihren inneren Feldzug gegen dieses blonde Unwesen unter eiserner Kontrolle. Die ersten Klötzchen verrückten sich trotzdem gegen seine Front.
Er murmelte betreten etwas von „Firmenfeier … zuviel Alkohol …“, und wollte mit der dampfenden Tasse Tee aus dem Zimmer gehen doch sie hielt ihn am Ärmel zurück. Die Klötzchen auf der Landkarte rannten im Sturm vorwärts. „Willst du mich belügen? Wie oft? Und wann? Hast du mit ihr geschlafen? Wirst du sie wiedersehen?“, spuckte sie ihm ihre Fragen geschossgleich um die Ohren. „Zu oft, ja, und ja“, antwortete er nur leise und zog sich, unerreichbar für sie, hinter seine Verteidigungslinie zurück.
Die Trennung verlief ebenso still wie ihre Ehe gewesen war. Kein Krieg um Finanzen, kein Krieg um den Hausrat. Lisa stellte ihn nicht mehr zur Rede, weil sie seine Begründungen nicht ertragen hätte. Stefan zog aus dem Haus und ließ ihr sogar den Großteil der Möbel, weil Biancas Wohnung nicht halb so groß und obendrein komplett eingerichtet war.
Lisa verbrachte das erste Jahr allein wie paralysiert, sie funktionierte nur für ihre Kunden und versuchte, die Erinnerung an die gemeinsame Zeit aus ihren Gedanken zu vertreiben. Sie hängte sämtliche Fotos ab, verstaute sie ebenso wie ihr Hochzeitskleid und den Schleier in einem düsteren Winkel im Keller und hängte sonnige Kunstdrucke von Monet und van Gogh über die leeren Flecken, als könne sie Stefan mit dieser aus Punkten zusammengesetzten Poesie aus dem Haus treiben. Doch sein Geist blieb.
Zwei Jahre später sahen sie sich an ihrem Scheidungstag zum ersten Mal wieder. So lange hatte Lisa es geschafft, wichtige Geschäftstermine vorzuschieben, um sich das neue Lebensglück ihres Mannes nicht ansehen zu müssen. Stefan, jetzt mit deutlich angegrauten Schläfen, geschwollenen Augen und unrasiert, hatte Bianca im Arm. Drückte und küsste sie zu häufig, ging zu federnd, sah in seinem karierten Sakko mit dem knallrosa Oberhemd und der schwarzen Cordhose einem alternden Papageien zum Verwechseln ähnlich. Der Sorte Papagei, die kurz vor Toresschluss noch mal das Gefieder sträubt, um mühsam und kräftezehrend einem jüngeren Weibchen zu gefallen.
Die sehnsüchtigen Blicke auf ihre elegante, taubengrau kostümierte Erscheinung bemerkte Lisa nicht.
Die Blondine, gepflegt und hübsch und so gar nicht in die Schublade der männermordenden, ehebrecherischen Sexbombe passend, raubte mit ihrer Ruhe Lisa die Geduld.
Das Lächeln auf Biancas Gesicht schien sanft und mitleidig, Entschuldigung erbittend dafür, dass sie diese so perfekt scheinende Ehe gesprengt hatte.
Lisa aber wollte nur Gehässigkeit sehen. Die Schlacht dauerte kaum eine Viertelstunde.
Wieder zuhause kramte sie die Fotos hervor, nahm jedes einzelne in die Hand und weinte haltlos. So viele schöne Erinnerungen, so viele Scherben, die lautlos auf dem Boden der Tatsachen zerschellten.
Vier Jahre waren seit dem Abend vergangen, der mit unruhigem Kerzenflackern Lisas bisher unruhigsten Lebensabschnitt eingeleitet hatte. Das silberne Klassentreffen streckte seine Fühler aus, im Sommer würden sich all die so genannten Freunde aus Kinder- und Jugendtagen wieder treffen. Auch Stefan.
Lisa überlegte lange, ob sie überhaupt an diesem Klassentreffen teilnehmen sollte, allein wie sie war und bleiben wollte.
Sie erinnerte sich an die Geschichtsstunden in der Oberstufe. An Herrn Häuser, der immer so sehr darauf erpicht war, ihnen die Linienbewegungen der verschiedenen Kriege anhand von Landkarten klarzumachen. „Die farbigen Holzklötzchen stehen für verschiedene Einheiten“, hörte Lisa die näselnde Stimme des Lehrers in Gedanken. Stefan und sie hatten ihn immer mit Theo Lingen verglichen und sich köstlich über seinen militärisch anmutenden Stechschritt amüsiert. „Dieses rote Klötzchen ist eine Einheit Kavallerie, das grüne symbolisiert einhundert Infanteristen …“
Ob Stefan auch noch daran dachte?
„Stark sein“, sagte sie sich, nahm all ihren Mut zusammen und packte die Koffer mit taubengrauen Kostümen und einem Ballkleid. Sie ging zum Friseur und zur Maniküre, ehe sie sich zum Flughafen fahren ließ. Wenigstens gut aussehen und die Normalität zeigen, die sich nach der Trennung langsam und widerspenstig wieder eingestellt hatte. Die Klötzchen in ihrem Inneren stellten sich während des einstündigen Fluges von allein wieder in Verteidigungsstellung auf.
Er war nicht erschienen. Müde lehnte sich Lisa in der Nacht nach dem Ball in den Sessel des hübschen Hotelzimmers und nahm ihr Buch zur Hand, aber ihre Gedanken schweiften zu sehr ab. Stefan hatte wegen gesundheitlicher Schwierigkeiten abgesagt, so lautete wenigstens die offizielle Begründung. Lisa glaubte eher, dass es vorgezogen hatte, mit Bianca in den Urlaub zu fahren, statt ihr ins Gesicht zu sehen und die mitleidigen Kommentare der ehemaligen Klassenkameraden und Lehrer anzuhören. Sie konnte es nachvollziehen. Und doch …
In der Lobby war eine Karte des Ortes und seiner Umgebung als Mosaik in den Boden eingelassen. Lisa wanderte am nächsten Morgen sinnierend um die Karte herum, als ihr ein rotes und ein grünes Klötzchen auffielen, die einander gegenüber an einer der Flurmarken aufgestellt waren.
Eines der Kinder hatte sie sicher beim Spielen vergessen, schob sie energisch die aufkeimende Hoffnung beiseite. Doch da hörte sie hinter sich eine Stimme, sanft und leise und warm. Ein leichtes Näseln, die Geräusche eines Stechschrittes, wenn auch weit langsamer als noch vor fünfundzwanzig Jahren.
„Dieses rote Klötzchen ist eine Einheit Kavallerie, das grüne symbolisiert einhundert Infanteristen …“
Lisa drehte sich um und sah ihren ehemaligen Lehrer hinter sich stehen. „Nein, nicht wahr, das rote Klötzchen sind Sie und das Grüne ist der Rest der Welt. Lisa, wieso sind Sie so verbittert?“ fragte er und hakte sie unter. „Lassen Sie uns ein Stück weit gehen.“ Er war gemütlicher geworden, strahlte nicht mehr diese militärische Ordnung aus, sondern Zufriedenheit und ruhiges Vertrauen. Lisa ließ sich von ihm führen und erzählte zum ersten Mal seit der Trennung jemandem von dem Wust an Gefühlen, der sich in ihr aufgestaut hatte. Schleppend und mühsam zuerst, dann riss die Flut ihrer eigenen Worte die Dämme ein. Die Wut, die Traurigkeit, das Gefühl von Minderwertigkeit, wenn sie an diese neue Frau dachte.
Herr Häuser lauschte stumm, bis sie, keuchend vor Rage und zurückgehaltenen Tränen, geendet hatte. „Wie alt sind Sie? Dreiundvierzig, oder? Und da geben Sie sich schon verloren?“
Der Lehrer lächelte. „Denken Sie an die Feldherren von früher. Was glauben Sie, warum hat ein General Blücher Erfolge feiern können? Warum hat man ihm den Namen Marschall Vorwärts gegeben? Weil er bei der ersten Niederlage umgekehrt ist? Glauben Sie mir, Sie sind eine attraktive Frau und gestern Abend haben Sie gestrahlt. Voran wie Blücher!“
Es dauerte noch ein paar Monate, bis Herrn Häusers Ratschlag in ihr Denken gesunken war. Lisa tauschte das Taubengrau gegen Gelb, Orange, Blau und Rot und hängte einige der Fotos wieder neben „Le pont d’Argenteuil“ von Monet. Das Leben konnte weitergehen.