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Langer Abgang
Sie kamen zu zweit, an einem Samstagmorgen um halb zehn, sieben Stunden vor der Geburt meines ersten Kindes. Ich hatte eben meinen auf Tomatengröße zusammengedrückten Magen mit Gulasch vom Vortag beruhigt, und wollte wieder zu Adam unter die Decke kriechen, als sie klingelten. Zwei dunkelblau uniformierte Schatten vor dem Milchglaseinsatz der Haustür, die nicht den Eindruck machten, als ließen sie sich abwimmeln, wenn man sie ignorierte.
Also schlurfte ich zur Tür, ohne eine Jacke über den Pyjama zu ziehen. Sollte wer auch immer ruhig sehen, dass er störte.
Auf dem Tritt vor dem Eingang standen eine Frau wie ein Berg, hinter ihrem Rücken halb versteckt ihr junger Kollege, der mit den Schuhen den Schnee von der Treppe schob und die Hände in den Taschen zu Fäusten geballt hatte. Der erste Luftschwung senkte sich hinter meinen nackten Füßen auf die Fliesen, und umklammerte meine Fesseln mit Eishänden. Danilo schnaufte unwillig im Hundekorb.
„Frau Mareike Seliger?“
Ich nickte wortlos, während die Frau ein paar Lederhandschuhe von einer in die andere Hand weiterreichte, und, wohl ein unbewusster Tick, die zu kurzen Ärmel der Uniformjacke über den Handgelenken zurecht zupfte. Polizei am frühen Morgen, das konnte nichts Gutes bedeuten.
Als ahnte das Kind etwas, begann es, Milz und Leber mit Tritten zu traktieren. Die Polizistin bewegte den Mund, doch ich hörte nichts mehr. Das Wasser schoss mir in die Augen, ich musste mich am Türrahmen festhalten.
„Alles in Ordnung? Vielleicht wäre es besser, wenn Ihr Mann …“
Ich legte die Linke knapp über den Nabel, das Kind schien sich ihr entgegenzudrehen und verharrte, den Rücken gegen die Bauchdecke gepresst, in meine Hand gebettet. Es ist alles gut. Bald bist du ganz bei uns.
„Mir geht es gut. Warum sind Sie hier?“
„Es geht um Ihren Vater, Jürgen Roth. Können wir kurz hereinkommen?“
So beginnen sie immer, die schlechten und die guten Nachrichten. Mit etwas Banalem wie Schmelzwasserlachen von fremden Schuhen in der Diele, und dem Geruch von Hundefutter in einer unaufgeräumten Küche.
„Kaffee?“ Beide verneinten, und die Polizistin, deren Namen ich nicht verstanden hatte, drang nochmals darauf, dass ich mich setzen und Adam kommen solle.
Der schläft noch, wollte ich sagen, als seine Schritte die Treppe herunter tapsten, während die Fingerkuppen der Rechten sacht übers Geländer strichen.
„Schatz, wir haben Besuch!“, rief ich völlig unnötig, er hatte es längst gehört.
Im Vorbeigehen tastete er auf der Telefonkonsole am zusammengeklappten Blindenstock vorbei nach dem Brillenetui, im nächsten Augenblick stand er in Schlafanzughose, Norwegerpulli und Sonnenbrille in der Küche und nickte kaum merklich zum Fenster, wo niemand stand.
„Morgen.“ Er erriet mich neben der Anrichte und drückte seine Stirn an meine, unser Morgenritual seit Jahren. Dabei strichen seine Hände über meinen Bauch, als würde er mich durch das Kind ein zweites Mal berühren, glückselig anders.
„Die Polizei ist da.“
„Weswegen?“
„Es geht um den Vater von Frau Seliger, Jürgen Roth“, ergriff die Polizistin wieder das Wort. „Er wurde heute Morgen tot in seiner Wohnung aufgefunden. Es tut uns leid.“
Die Stille sackte in die Küche wie der Geruch eines verwesenden Tieres. Adam legte einen Arm um meine Schulter, doch ich wand mich zur Seite und schob mich auf einen Stuhl, der unter der Last ächzte.
Endlich ist es vorbei. Keiner mehr, der nachts anruft und ins Telefon schweigt. Keine weinschweren Umarmungen, in denen er Trost sucht. Die Erleichterung wollte sich nicht einstellen, stattdessen eine graue Leere, Gefühlsasthma.
„Es tut uns leid“, sagte die Polizistin noch einmal. „Sehen Sie sich denn in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?“
„Wie ist das passiert? Ich meine, weiß man schon, woran er…“ Adam nestelte an einem lose vom Ärmelbund hängenden Wollfaden, stieß mit dem Ellenbogen gegen die halbvolle Teekanne vom Vorabend, die in die Spüle stürzte und auslief.
„Im Augenblick ist alles offen. Ihr Vater wird von einem Rechtsmediziner untersucht werden. Danach wissen wir mehr. Es kann sein, dass sich die Kriminalpolizei bei Ihnen melden wird, im Fall einer … eines nicht natürlichen Todes.“
„Sie meinen Selbstmord.“
„Wie kommen Sie darauf, Frau Seliger?“, mischte sich nun auch der junge Beamte ein. Er hatte eine weiche Stimme und näselte. Die Finger hielt er unter den Achseln, wie um sie zu wärmen, dabei war die Küche gut geheizt. Vielleicht schämte er sich für seine kleinen Hände.
Ich warf einen raschen Blick zu Adam, der sich inzwischen den letzten freien Stuhl genommen hatte. Danilo drückte sich zwischen unseren Beinen hindurch zum Fressnapf, als die Polizistin ihn streicheln wollte, wich er aus.
„Er lässt sich ungern von Fremden anfassen“, entschuldigte ich, doch sie winkte ab.
„Warum denken Sie, Ihr Vater könnte sich umgebracht haben?“, hakte der Beamte nach.
„Er hat es immer wieder gesagt. Ich habe es nicht ernst genommen. Er kam andauernd mit solchen Sprüchen, es würde mir noch leidtun, wenn er mal tot ist und so … wenn er seinen Kopf durchsetzen wollte.“
Die Locken seiner Kollegin wippten, als sie bedächtig nickte. Ich wollte nicht wissen, was sie dachte.
„Wann haben Sie ihn zuletzt gesprochen?“ Ihre Blicke scheuchten meine in die Ecke. Adam würde es sofort hören, wenn ich log.
„Vorgestern. Ich war kurz bei ihm, bevor ich meinen Mann von der Arbeit abgeholt habe.“
„Wie wirkte er da auf Sie?“
„Wie immer. Er war betrunken.“
„Gibt es noch andere Angehörige, die man benachrichtigen müsste, Frau Seliger? Weitere Kinder, oder eine Partnerin?“
„Meine Mutter. Aber die lebt seit Jahren in Italien.“ Zumindest war der letzte Brief vor einem halben Jahr aus Rimini gekommen, von der Adresse eines Claudio Macarella. Vielleicht ihr Lebensgefährte oder eine weitere platonische Liebe, vielleicht auch nur irgendjemand, der ihr auf der Reise zur Selbstfindung für ein paar Wochen einen Schlafplatz bot. „Ich kümmere mich selbst darum. Danke, dass Sie gekommen sind.“ Damit erhob ich mich, eigenartig, wie schnell man sich alt fühlen konnte, der Rücken schmerzte und die Gelenke knackten, als habe mich die Nachricht siebzig Jahre gekostet. Dabei dachte ich immer, nun müsse das Leben erst anfangen.
„Keine Umstände, wir finden allein hinaus.“
Adam begleitete die Beamten bis zur Tür, sie redeten noch lange miteinander; leise, als müsste man mich vor dem Leben schützen. So war er immer. Ein Ritter, soviel reifer und stärker als ich, dabei war er drei Jahre jünger.
„Gehen wir eine Runde führfrei?“, fragte Adam, nachdem er die Polizisten verabschiedet hatte.
Ich drehte noch immer die Karte in den Händen, die Polizeiobermeisterin Bachmann dagelassen hatte. Die Einladung war unmissverständlich. Er würde sich bei mir einhaken, während Danilo an der langen Leine lief. Anfangs würde ich schweigen, ihn nur auf überfrorene Pfützen und tief hängende Äste hinweisen, doch spätestens an der Pferdekoppel, wenn keine Hindernisse mehr zu erwarten waren, würde ich reden. Adam hatte eine Art zu schweigen, die dazu einlud. Doch heute wusste ich nicht, ob ich das wollte.
„Geh mal allein. Ich glaube, ich will lieber für mich sein.“
„Mareike … es tut mir leid.“
Nicht er auch noch!
„Ich weiß, es war nie einfach mit deinem Vater …“
„Adam, ich will nicht darüber reden, ja? Später vielleicht.“, setzte ich nach, als ich sein betretenes Gesicht sah.
Er strich mir sacht über die Schulter, als er die Küche verließ, und ich zwang mich, es zuzulassen, ohne auszuweichen. Dankbar dafür, dass er nicht fragte, was ich bei Jürgen gewollt hatte, nachdem ich den Kontakt doch angeblich abgebrochen hatte.
Alte Nachbarn erzählten seit langem, er saufe sich zu Tode. Er sei krank, frühverrentet, schlurfe Sonntagmorgens in Badeschlappen und einem dreckigen Mantel zur Tankstelle, und kaufe Schnaps. Er rief nachts an und atmete in den Hörer, morgens, wenn Adam in der Praxis war, und fragte, warum ich ihn nicht besuchte. Sein einziges Kind, dass er zudem noch allein großgezogen habe, und es kümmere sich nicht um ihn.
Adam kehrte in Jeans und Daunenjacke in die Diele zurück, er tastete neben dem Führgeschirr nach dem Blindenstock und pfiff nach Danilo. „In einer halben Stunde bin ich wieder da.“
Er meinte immer noch, Jürgen nie begegnet zu sein. Ich hatte nur so viel angedeutet, dass er nicht nach meiner Familie fragte.
Ich wartete, bis die beiden am Sportplatz angekommen sein mussten, dann suchte ich im Schlafzimmer die verstreuten Kleider zusammen, nahm von der Garderobe die letzte Jacke, die noch passte, und schlüpfte in die Turnschuhe, die ich längst nicht mehr aufknotete.
Vor drei Tagen dachte ich, es endlich an der Zeit, über meinen Schatten zu springen. Meine Lust auf Adam war so groß wie schon lang nicht mehr, groß genug, die Übelkeit zu überwinden, die mich immer anfiel, wenn er Wein trank. Er hätte mir zuliebe auch ganz darauf verzichtet, doch das wollte ich nicht. So setzte er sich an diesen Abenden ans andere Ende des Tisches, verkorkte die Flasche wieder sorgfältig, nachdem er sich eingegossen hatte, drehte mir später den Rücken zu und atmete an die Wand.
Vor drei Tagen wollte ich mehr. Adam hatte über dem Wein eine neue Wirtschaftsordnung entworfen, abgeleitet aus der Psychologie in Andersens Märchen und den Regeln der Sternenbewegung. Ich hatte ihn einen Spinner genannt, er sagte, ich sei zu fantasielos für die Realität.
Er hatte meinen Verstand gevögelt, ich wollte unbedingt noch seinen Körper spüren. Nackt schlüpfte ich unter die Decke, umfasste seine Hüften, roch Burgunder, griff dennoch tiefer, er knurrte ins Kissen und schob mich mit dem Hintern zurück.
„Das ist unfair.“
Sein Haar gerade lang genug, um es voll zu fassen, zog ich seinen Kopf zu mir, hauchte warm in sein Ohr. "Ich brauch dich jetzt, unbedingt."
"Morgen früh?"
"Jetzt."
Mit der Handkante fuhr ich durch die Leistenbeuge, drückte sein Geschlecht, er ließ sich mit erstauntem Seufzen auf den Rücken gleiten. Süßer Weinatem wölkte über seinem Gesicht, doch als ich ihn tief küsste, schmeckte ich nur Adam. Wie so oft suchte er neue Umwege über meine Haut, ich fasste seine Hände, zwang sie über längst einstudiertes Terrain, in dieser Nacht wollte ich wissen, was mich erwartete.
Während ich mich über ihn schob, schaltete ich die Nachttischlampe an, sah ihm beim Vögeln unverwandt in die Augen, die Iris dunkelbraun, fast schwarz, noch immer zu ahnen unter den Hornhautnarben. Die Lider flatterten, als habe sie etwas Unerwartetes berührt, und während unsere Körper sich wanden, schwamm sein Blick unsicher hinter der undurchdringlichen Wand. Dann zuckte er jäh nach hinten weg, Adam bäumte sich auf und drückte mir die Kehle entgegen, während er kam.
Mein Höhepunkt pulste kurz und flach zwischen den Beinen, erreichte kaum die Schenkel, dennoch schob ich Adam weg, als er mich mit den Fingern weitertreiben wollte. Aufgewühlt und verwirrt, dass ich es trotz des Alkoholgeruchs so sehr genossen hatte, hielt ich es kaum aus, dass er zärtliche Worte in meine Halskuhle flüsterte.
Wir drehten uns zum Schlafen ineinander, als lägen wir das erste Mal beisammen.
Im Wegdämmern träumte ich, die alten Gefühle scharrten an einer türlosen Mauer entlang, ich hörte ihre Nägel im Putz brechen, und war doch auf der anderen Seite unerreichbar, sicher.
Am nächsten Morgen gegen vier rief mein Vater an, sein schwerer Atem blies Eis in meine Magengrube bis ich auflegte, seine Präsenz wie einen Widerhaken im Nacken.
Wäre mir beim Einkaufen nicht die Taube in die Quere gekommen, wäre ich trotzdem nicht zu Jürgen gefahren.
Sie hüpfte mit Schlagseite vor mir her, mitten auf dem Gehsteig, zwang mich, in den Schneematsch auszuweichen oder auf die Straße. Ich hätte am liebsten nach ihr getreten. Als hätte sie es gespürt, wandte sie sich um, und kauerte sich zusammen. Das Gefieder pfludrig wie eine alte Zahnbürste, die rotgrünen Spiegel auf den Schwingen vom Dreck erblindet, blinzelte sie mich trübe aus einem Auge an, während sie einen verstümmelten Fuß dicht unter den Bauch zog. Ich warf die Einkäufe in den Kombi und schämte mich mit einemmal, dass er so neu roch.
Jürgen war betrunken, wieder einmal, hatte mich weinend umarmt und all seine Fehler bereut. Seine Arme konnten mich längst nicht mehr umfassen.
„Warum hast du angerufen?“
„Darf ich nicht einmal meine Tochter sehen? Komm doch rein – setz dich, Kind, wärm dich auf!“
Es war wie immer kalt im Wohnzimmer, obwohl Jürgen sich meist dort aufhielt, sogar in einen Teppich eingewickelt auf der Couch schlief. Andere Räume zu heizen lohnte nicht. Er räumte hastig Flaschen beiseite, wischte mit dem Ärmel Tabakkrümel und Asche auf den Boden. „Ist halt alles nicht mehr wie früher, seit deine Mutter nicht mehr da ist.“
„Papa, das ist zwanzig Jahre her.“
Zwanzigeinhalb, im Juli nächsten Jahres würden es einundzwanzig Jahre. Das Foto vom Amalfiurlaub hing immer noch überdimensional vergrößert und fest hinter Glas verklebt über dem Fernseher. Eine Strandbar, flaschenweise Wein des Hauses, den Jürgen und Maria ein letztes Mal gemeinsam tranken. Das wusste er damals aber noch nicht.
„Ich fahre nicht mit zurück. Ich bleibe hier.“
Er verstand nicht.
„Das ist einfach nicht mehr mein Leben. Ich komme kaum noch vor. Ich will kein Automat sein, ich will mich wieder fühlen können.“
Als er begriff, war es zu spät, wie immer, wenn Mutter sich einmal entschlossen hatte, zu reden. Sie stritten, zum Schluss flogen Flaschen auf den Boden, Kellner mussten eingreifen. Süßherber Weingeruch dampfte aus den Ritzen im Pflaster und legte sich wie ein Tuch über den letzten Streit.
Jürgen goss sich Sprudel ein, eine seit langem angebrochene Flasche, in der längst keine Kohlensäure mehr perlte.
„Ich brauche nicht viel zum Leben, weißt du. Das bisschen Essen, die zwei, drei Klamotten. Das wichtigste sind doch Freunde. Menschen, auf die man sich verlassen kann. Die nicht einfach weggehen, nachdem man sich für sie krummgelegt hat. Das alles hier“, er deutete mit fahriger Geste im Raum herum, „weißt du, wie viele Überstunden da drinstecken? Aber Madam war das ja nicht genug.“
Er verbarg sein Gesicht in den Händen, die Wangen zu den Jochbögen hochschiebend, die Augen versanken hinter rotgeäderten Hautfalten. Er kippte seitlich gegen mich, ließ einen Arm schwer auf meine Schulter sacken, ich versteifte unter der Last, die mich wie eine Krabbenschere an seine breite Brust zog. "Sag mir, was hab ich falsch gemacht? War ich so ein schlechter Vater? So ein schlechter Mann?"
Mir wurde unbehaglich, ich rutschte ab. „Ich muss gehen, Papa. Adam wartet.“
Er schnaubte vor sich hin, zitterte nach dem Glas und warf es um. „Wir hatten es doch schön miteinander. Komm, trink noch einen Schluck mit mir!“
Ich quälte mich aus dem durchgesessenen Kunstleder hoch und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen. Er griff nach den Haarsträhnen, die vor seinem Gesicht schaukelten, und ich bereute, die Mütze abgenommen zu haben.
„Wie deine Mutter.“ Er zog das Haarbüschel vor seine Nase und sog tief ein. „Du bist so schön, genau wie deine Mutter.“
Im Korridor stolperte ich über Mülltüten, die Wohnungstür schlug ich so hastig zu, dass das Namensschild abfiel.
Der bemalte Salzteigwulst, den ich Maria vor Amalfi zum Muttertag geschenkt hatte, lag noch immer zwischen den Schuhen auf der Matte. Ich kratzte mit zwei Fingern am Polizeisiegel, pellte es am Rand ab, es löste sich in weißen Streifen wie das Etikett eines Marmeladenglases. Im rechten weißen Turnschuh, vorgerutscht in die Spitze, lag der Zweitschlüssel, den ich vorgestern hineingeworfen hatte. Ich hatte mir geschworen, nie mehr wieder zu kommen. Sollte er doch in seinem Dreck verrecken!
Ich musste tief in den Schuh fassen, der Schlüssel hatte sich durch ein Loch im Innenfutter gemogelt und am Ballen, wo die Zwischensohle fast vollständig durchgetreten war, in den Gummi gebohrt. Ich wühlte und würgte, in der Hoffnung, in Jürgens Bad Seife zu finden. Endlich hielt ich den Schlüssel zwischen spitzen Fingern.
In der Wohnung roch es genauso nach altem Schweiß und verstopften Abflüssen wie eh und je. Auf der Anrichte in der Küche lag ein Zettel, der die jährliche Heizungsablesung ankündigte. Im Falle von Nichtanwesenheit solle man eine Nachricht hinterlassen, bei welchem Nachbar ein Schlüssel hinterlegt sei, ansonsten werde der Hausmeister die Tür öffnen. Der Termin war an diesem Samstag, ab acht. So also hatten sie ihn gefunden. Beckmann tat mir leid. Der Hausmeister war großes Kind, das ständig einen Blaumann trug, stotterte und Kaugummi aufblies. Er hatte das nicht verdient.
Ich suchte nach einem sauberen Platz um meine Handtasche abzustellen, fand keinen, bereute, sie, ein Geschenk Adams, überhaupt mitgenommen zu haben. Als könnte sie von den Ausdünstungen dieser Wohnung infiziert werden.
Ich drückte und schob am Fernsehtisch, doch er hatte sich zu tief in den Teppich gefressen, dicke Staubfinger waren wie Schweißnähte zwischen seine Beine und den Schlingenflor eingefugt. Ich zog einen Stuhl heran, trat auf den Sitz ohne die nassen Schuhe auszuziehen, aufgeschreckte Krümel spritzten vom Polster.
Amalfi war breit und schwer, fast stolperte ich mit dem Rahmen vom Stuhl, das Bild entglitt mir und schlug auf dem Boden auf. Das Glas brach, doch es splitterte nicht. Ich streckte die Sperrholzplatte übers Knie, lehnte mich mit dem Oberkörper darüber, doch sie bog sich nur, kleine Glasstücke platzten heraus. Ich presste und keuchte, der Geruch nach abgestandener Kälte und ungewaschenem altem Mann durchseuchte meine Lungen und versumpfte den Kopf, ich würgte, Speichel stieg in unkontrollierten Mengen aus dem Rachen hoch, mein Magen eine Quelle von Übelkeit, der Bauch krampfte unkontrolliert. Ich schleppte mich zum Fenster, vier Stockwerke tiefer versanken die leeren Fahrradständer in einer vereisten Pfütze, aus einem offenen Kellerfenster dampfte Waschmaschinenluft.
Das Bild taumelte in die Tiefe wie ein gefrorener Schmetterling, gleichzeitig wallte Schmerz unter dem Nabel auf. Die Wände rückten näher, die Tür unerreichbar fern. Ich tastete mich den Korridor entlang, erreichte das Treppenhaus wie einen Luftschacht. Der Schmerz ließ nach, nur um wieder heranzurollen wie eine träge Welle.
Zehn Minuten später hockte ich auf einem Pflanzkübel zwischen den Splittern von Amalfi, zwischen meinen Beinen Wasser und Blut, und über allem schwebte wie ein guter Geist Weichspüler der Duftnote Aprilfrische.
Drei Tage ließ Frau Bachmann von der Polizei mir Zeit, um mich von der Geburt zu erholen, dann suchte sie mich im Krankenhaus auf.
Adam war erst kurz zuvor dagewesen. Er brachte Grüße von den Nachbarn, Selbstgehäkeltes von seiner Mutter und die neueste GEO. Außerdem hatte er eine Spur von Maria ausfindig gemacht, wie er das angestellt hatte, blieb mir schleierhaft. Adam hatte Mittel und Wege, die mir immer verborgen bleiben würden.
Über das Bild und den Bruch des Polizeisiegels schwiegen wir, auch über das, was er von der Bachmann und ihrem Kollegen an der Haustür erfahren hatte. Mit Sicherheit alles, oder das, was die Polizei für alles hielt.
Schließlich sagte ich nur: „Ich habe mich für ihn geschämt.“ Ich dachte, danach müsste ich in Tränen ausbrechen, und mich anschließend leichter fühlen. Stattdessen blieb der Satz im Raum stehen wie eine dritte Person, die sich lange hinterm Vorhang verborgen hatte, und endlich ins Zimmer getreten war. Es hörte hier nicht auf, es fing gerade erst an.
„Können wir irgendwann einmal darüber reden?“ Es war das erste Mal, dass ich Adam darum bat, er nickte nur, dann legte er sein Gesicht auf meine Knie und weinte.
Die Bachmann kam, fünf Minuten, nachdem Adam gegangen war. Sie war höflich; sie fragte, ob sie sich den Besucherstuhl nehmen könne, wartete, bis ich Yella fertig gestillt und sie ihren Milchrülpser ins Spucktuch gehickst hatte. Bewunderte gebührend die Blumen der Nachbarn und das selbstgemalte Bild von Adams Nichte.
„Meine erster Enkel ist auch in diesem Alter: Mama, Papa, die Katze und ich vor unserem Haus, der Himmel ein blauer Strich oben, die Wiese ein grüner Strich unten, und die Sonne ein gelbes Dreieck mit Gesicht in der Ecke.“
„Sie sehen gar nicht nach Enkelkindern aus.“
„Meine Tochter hat früh angefangen. Aber was soll’s, sie sind glücklich.“ Endlich setzte sie sich zu mir an den Tisch.
„Wir haben das Obduktionsergebnis erhalten. Ihr Vater war schwer krebskrank.“
„Das wusste ich nicht.“ Er hatte es wohl selbst nicht geahnt. Er war seit Jahren bei keinem Arzt mehr, egal, was ich sagte. Er traute keinem dieser aufgeblasenen Idioten, wie er sie nannte. Irgendwann ging alles von allein vorbei.
„Eine Metastase hat die Aorta infiltriert. Das Gefäß hätte jederzeit und überall durchbrechen können. Er ist wohl im Schlaf gestorben, ohne lange zu leiden.“
Ich fragte mich, ob ich mich schuldig fühlen müsste, wenn es anders gewesen wäre. Der Kopf sagte nein, doch richtet er meist wenig gegen das schlechte Gewissen aus.
„Was haben Sie eigentlich in der Wohnung gemacht, nachdem Sie das Dienstsiegel aufgebrochen haben?“
„Aufgeräumt.“
„Ihnen war doch sicher klar, dass Sie nichts verändern durften, solange die Ermittlungen liefen. Nun werden Sie mit einem Strafverfahren rechnen müssen.“
Ich zuckte mit den Achseln. Ich hatte geahnt, dass sie nicht verstehen würde.
„Es war wichtig.“
„Frau Seliger, Sie haben ein Kind und einen behinderten Mann. Sie sollten keine solchen Dummheiten machen, Sie werden gebraucht.“
„Adam kommt sehr gut allein zurecht. Weit besser als …“, ich brach ab. Was ging das eine Fremde an.
Im August unseres ersten Jahres waren wir bei Neumond in die Pampa gefahren, weitab jeder Siedlung, wo es so dunkel war, dass ich die Hand auf Adams Schulter gelegt hatte, und wir beide uns von seiner damaligen Hündin hatten führen lassen.
Ich hatte unbedingt einmal den Perseidenregen sehen wollen, während über uns die Sternschnuppen durch den Orbit huschten, erzählte er mir von Laurentius, dem Schutzpatron der Studenten, dessen Tränen auf uns herabregneten.
„Als Kaiser Valerian verlangte, er solle den Kirchenschatz aushändigen, verschenkte Laurentius ihn an die Menschen, und präsentierte sie als wahren Reichtum der Kirche.“
Später rollten wir uns durch die Wiese, bis der Dunst sich kalt ins Gras setzte. Schliefen dann ein paar Stunden, und hielten auf dem Weg zur Uni an einer Bäckerei, um Kaffee und Croissants zu kaufen.
Den Transporter von Jürgens Malerfirma sah ich erst kommen, als es zu spät war. Es muss nichts bedeuten, redete ich mir ein, es konnte jeder seiner Kollegen sein.
„Ist was?“, fragte Adam während das Glöckchen über der Tür im Luftzug zappelte, ich log, ich sei bloß müde. Jürgen starrte uns an, Adams Hand auf meinem Rücken, mein in seinen Hosenbund eingehakter Daumen, sekundenlang stand Entsetzen in sein Gesicht geschrieben, als hätte ich ihn gegen Ramsch eingetauscht.
Dann waren wir an der Reihe, und ich wandte mich von Jürgen ab, ohne ihn gegrüßt zu haben.
Trotz Filzsohlen in den Stiefeln und langer Unterhose kroch die Kälte wie eine Zecke unter die Kleidung und saugte sich in den Kniekehlen fest. Der aufgeworfene Erdhaufen unter dem grünen Netz war über Nacht zusammengebacken, ein paar Klumpen mit Grasnarbe waren auf den Weg gerollt.
Wir begleiteten den Sarg vom Aufbahrungsraum bis zum Grab; keine Rede, keine Kränze, so hatte Jürgen es schon vor Jahren verfügt. Adams Vater hatte den Zettel beim Ausräumen in einem Ordner mit Dokumenten gefunden. Gespenstisch, wie er jedes Detail nach seinem Tod akribisch festgelegt hatte.
Seine Schwester war aus Bamberg angereist, ihre Familie hatte sie dort gelassen. Ein paar Nachbarn kondolierten verhalten, während Adam sich zu mir beugte und flüsterte: „Deine Mutter hat sich nicht mehr gemeldet.“
Als wir zum Parkplatz zurückgingen, kam uns von weitem eine Frau entgegen, lange graue Haare, die bis auf die Hüften wallten, ein orangefarbenes Kleid, das sie mit einer Hand vor den Knien raffte und das hinter ihr schwer durch den Schnee schlappte.
„Lass uns gehen, mir ist kalt, und Yella wird Hunger haben.“
„Einen Moment noch.“ Einen Fuß bereits im Wagen, den Ellenbogen auf das Autodach gestützt, suchte ich in dünnen Erinnerungen nach Merkmalen, die sich in zwanzig Jahren nicht verändert haben konnten, während die Frau sich näherte. Sie rutschte halb in die Grätsche, fluchte und stieß an der Bordsteinkante Schnee von der Schuhspitze. Unsere Blicke verfingen sich kurz, dann ging sie vorbei und drückte mit der Schulter das schmiedeeiserne Tor zum Friedhof auf, eine Fremde, nicht Maria.