Langeweile und Verzweiflung
Warum sie zu mir kommt? Weiß ich nicht, kann es beim besten Willen nicht sagen. Doch sie kommt - immer wieder. Viel hartnäckiger als all die anderen vor ihr. Doch deren Geheimnisse konnte ich irgendwann erkennen, konnte verstehen, was die getrieben hat, was die gesucht haben, was die loswerden wollten. Manche haben sich mir offenbart, sich mir unter Tränen anvertraut. Ich hoffe, ich habe ihnen helfen können. Aber sie?
Wenn sie zu mir kommt, sehe ich nicht auf, denn ich weiß, wie es laufen wird: Sie tritt ein - verlegen aber gehetzt - und presst ihr "Hallo" hervor. Sobald ihr klar wird, dass ich nichts erwidern werde, durchschneidet sie den Raum mit ihren forschen Schritten. Ich drehe den Kopf nicht, beobachte Sie stattdessen aus dem Augenwinkel und erahne ihr Parfum. Sie tritt ans Fenster, so nah, dass die Scheibe von ihrem Atem beschlägt. Sie sieht hinaus. Nach zwei, drei Atemzügen lässt sie ihr ratloses "Hm" hören und fährt hastig herum, als wolle sie einen verwirrenden Gedanken abschütteln. Diesmal folge ich ihr nicht mit dem Blick, denn ich weiß, wie es weitergeht: sie lässt sich geräuschvoll in den Eames mir gegenüber fallen - nie auf die Couch, immer in den Eames! Wenn sie endlich bequem sitzt, herrscht wieder Stille. Ich spüre die Spannung, ihre Erwartung, kann fühlen, dass sie bereit ist, ganz im Hier und Jetzt und sich mir anvertrauen will.
Ich zähle bis vier, atme tief durch und sehe auf, sehe ohne Umschweife direkt in ihre wartenden Augen - sehe ihr fest, aber so distanziert und ausdruckslos wie möglich in die Augen, ganz professionell. Und warte auf die Wirkung. Sie hält meinem Blick stand, schmilzt jedoch augenblicklich, berührt sich mit ihrer Hand im Gesicht, rutscht tiefer ins Lederpolster und streift endlich ihre hohen Hacken ab, die laut aber unbeachtet zu Boden fallen.
Warum kommt sie zu mir? Ich weiß es nicht, kann es beim besten Willen nicht sagen. Natürlich bringe ich sie auf und bringe sie durcheinander, wie all die anderen vor ihr auch, ich kenne das: Die Erregung, die Erleichterung und später die Befreiung. Natürlich helfe ich ihr, in die Ferne zu schweifen, zu empfinden, sich selbst zu fühlen. Und natürlich musste ich mich erst an ihre Ticks gewöhnen und wundere mich noch immer über sie. Denn sie ist ausdauernd. Ausdauernd und fordernd, viel fordernder als alle vor ihr. Und schamlos, vor allem schamlos. Gnadenlos schamlos. Jedes Mal bin ich aufs Neue erstaunt darüber, schließlich ist sie nicht mehr so jung, wie sie vielleicht aussehen mag.Trotzdem: Bei ihrer Reife - möchte man meinen - sollten sich Langeweile und Verzweiflung nicht mehr zu einer solch gefährlichen Mischung gegen sie verbünden können.
Aber auch das ist es nicht.
Um nichts zu verpassen, halte ich währenddessen meinen professionellen Blick stets auf sie gerichtet und instruiere sie mit knappen Gesten. Sie lässt sich erneut forttragen, lässt sich fallen. Ihre Gesichtszüge spiegeln ihre emotionale Reise mit sämtlichen Höhen und Tiefen, trotzdem kann ich es nicht erkennen, bekomme ich das zentrale Thema nicht zu fassen. Ich bedeute ihr, das Tempo etwas herauszunehmen - denn das braucht sie bisweilen - doch sie lässt sich gleich wieder fortreißen, um dann ganz unvermittelt und überraschend für uns beide zu erstarren und zu verstummen.
Sie scheint das "Danach" zu genießen, diesen sentimentalen Schwebezustand. Ich schäme ich mich ein wenig, denn für mich war es ja nur Arbeit - ihre Gefühle hingegen waren echt. Doch ich bin genauso außer Atem, sinke ermattet zurück und starre ins Leere. Sie kennt das schon von mir und stört sich nicht daran.
Wenn sie dann wieder bei sich ist, steht sie auf, ordnet ihre Kleider, schlüpft in ihre Schuhe und wendet sich zum Gehen - sie weiß, dass ich ihr nicht in den Mantel helfen werde. Bevor sie die Tür von außen schließt, flötet sie in meine Richtung: "Dann bis zum nächsten Mal, Doktor Freud."
"Mysteriöse Dame, seltsame Geschichte!" murmele ich und schüttle den Kopf.