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Langeweile und Verzweiflung

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05.01.2014
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Langeweile und Verzweiflung

Warum sie zu mir kommt? Weiß ich nicht, kann es beim besten Willen nicht sagen. Doch sie kommt - immer wieder. Viel hartnäckiger als all die anderen vor ihr. Doch deren Geheimnisse konnte ich irgendwann erkennen, konnte verstehen, was die getrieben hat, was die gesucht haben, was die loswerden wollten. Manche haben sich mir offenbart, sich mir unter Tränen anvertraut. Ich hoffe, ich habe ihnen helfen können. Aber sie?

Wenn sie zu mir kommt, sehe ich nicht auf, denn ich weiß, wie es laufen wird: Sie tritt ein - verlegen aber gehetzt - und presst ihr "Hallo" hervor. Sobald ihr klar wird, dass ich nichts erwidern werde, durchschneidet sie den Raum mit ihren forschen Schritten. Ich drehe den Kopf nicht, beobachte Sie stattdessen aus dem Augenwinkel und erahne ihr Parfum. Sie tritt ans Fenster, so nah, dass die Scheibe von ihrem Atem beschlägt. Sie sieht hinaus. Nach zwei, drei Atemzügen lässt sie ihr ratloses "Hm" hören und fährt hastig herum, als wolle sie einen verwirrenden Gedanken abschütteln. Diesmal folge ich ihr nicht mit dem Blick, denn ich weiß, wie es weitergeht: sie lässt sich geräuschvoll in den Eames mir gegenüber fallen - nie auf die Couch, immer in den Eames! Wenn sie endlich bequem sitzt, herrscht wieder Stille. Ich spüre die Spannung, ihre Erwartung, kann fühlen, dass sie bereit ist, ganz im Hier und Jetzt und sich mir anvertrauen will.

Ich zähle bis vier, atme tief durch und sehe auf, sehe ohne Umschweife direkt in ihre wartenden Augen - sehe ihr fest, aber so distanziert und ausdruckslos wie möglich in die Augen, ganz professionell. Und warte auf die Wirkung. Sie hält meinem Blick stand, schmilzt jedoch augenblicklich, berührt sich mit ihrer Hand im Gesicht, rutscht tiefer ins Lederpolster und streift endlich ihre hohen Hacken ab, die laut aber unbeachtet zu Boden fallen.

Warum kommt sie zu mir? Ich weiß es nicht, kann es beim besten Willen nicht sagen. Natürlich bringe ich sie auf und bringe sie durcheinander, wie all die anderen vor ihr auch, ich kenne das: Die Erregung, die Erleichterung und später die Befreiung. Natürlich helfe ich ihr, in die Ferne zu schweifen, zu empfinden, sich selbst zu fühlen. Und natürlich musste ich mich erst an ihre Ticks gewöhnen und wundere mich noch immer über sie. Denn sie ist ausdauernd. Ausdauernd und fordernd, viel fordernder als alle vor ihr. Und schamlos, vor allem schamlos. Gnadenlos schamlos. Jedes Mal bin ich aufs Neue erstaunt darüber, schließlich ist sie nicht mehr so jung, wie sie vielleicht aussehen mag.Trotzdem: Bei ihrer Reife - möchte man meinen - sollten sich Langeweile und Verzweiflung nicht mehr zu einer solch gefährlichen Mischung gegen sie verbünden können.
Aber auch das ist es nicht.
Um nichts zu verpassen, halte ich währenddessen meinen professionellen Blick stets auf sie gerichtet und instruiere sie mit knappen Gesten. Sie lässt sich erneut forttragen, lässt sich fallen. Ihre Gesichtszüge spiegeln ihre emotionale Reise mit sämtlichen Höhen und Tiefen, trotzdem kann ich es nicht erkennen, bekomme ich das zentrale Thema nicht zu fassen. Ich bedeute ihr, das Tempo etwas herauszunehmen - denn das braucht sie bisweilen - doch sie lässt sich gleich wieder fortreißen, um dann ganz unvermittelt und überraschend für uns beide zu erstarren und zu verstummen.
Sie scheint das "Danach" zu genießen, diesen sentimentalen Schwebezustand. Ich schäme ich mich ein wenig, denn für mich war es ja nur Arbeit - ihre Gefühle hingegen waren echt. Doch ich bin genauso außer Atem, sinke ermattet zurück und starre ins Leere. Sie kennt das schon von mir und stört sich nicht daran.

Wenn sie dann wieder bei sich ist, steht sie auf, ordnet ihre Kleider, schlüpft in ihre Schuhe und wendet sich zum Gehen - sie weiß, dass ich ihr nicht in den Mantel helfen werde. Bevor sie die Tür von außen schließt, flötet sie in meine Richtung: "Dann bis zum nächsten Mal, Doktor Freud."

"Mysteriöse Dame, seltsame Geschichte!" murmele ich und schüttle den Kopf.

 

Hey, Agent, ich glaube du kannst schreiben. Also schreiben im Sinne von sehr bewusst und sicher mit Worten umgehen. Ich mochte diesen lakonischen Stil, der ließ mich sehr angenehm in diesen Text hineintreiben, in diese Geschichte, in der im Grunde gar nichts geschieht, die ja eigentlich nur auf eine (kleine?) Pointe hinausläuft. Und davor halt auf eine sehr charmante Art rätselhaft ist. Ob das jetzt, abgesehen von der Kürze, als Kurzgeschichte durchgeht, ist mir eigentlich egal, als Debüttext macht es mich auf jeden Fall neugierig auf weitere Sachen von dir. (Die drei Flüchtigkeitsfehlerchen lass ich dich selbst raussuchen.)

offshore

 

Hallo offshore,

danke für Dein warmes Willkommen und Deine lobenden Zeilen - bedeutet mir viel der Kommentar von einem so "eingefuchsten, alten Hasen" wie Dir. Werde mich in Zukunft also anstrengen, um Dich nicht zu enttäuschen.

Hast natürlich recht, ist eigentlich gar keine (Kurz-) Geschichte im eigentlichen Sinne - hat sich so ergeben, mir drängte sich einfach nicht mehr Handlung in diesem Zusammenhang auf.

Gruß, Agent

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Agent

Hübsche Episode über ein arrangiertes Treffen, obwohl der Text bis zum Schluss nicht viel über den Mann, und noch weniger über die Frau preis gibt. Es wird eine Szene in einem (Leser denkt: Hotel) Zimmer dargeboten, aus Sicht des Mannes, der einerseits proffessionell auftreten möchte, andererseit ambivalente Gefühle zu seiner Tätigkeit hat. (Leser denkt: hm, Callboy?)
Die Frau, sie erscheint zur vereinbarten Ausszeit, nimmt die Dienste des Mannes in Anspruch (Leser denkt: sie lässt es sich besorgen), und verschwindet mit einem ironischen "Dann bis zum nächsten Mal, Doktor Freud."

Leser denkt nach: war das wirklich nur ironisch hingeworfen? Handelt es sich gar wirklich um den Doktor Freud?
Aha, neue Lesart und schon wird die absichtliche Irreführung erkennbar, die auf die Pointe abziehlt. Das finde ich übrigens immer eines der schwierigsten Elemente in solchen Twist-of-Tail Storys, den Leser nicht zu verärgern (- Ätsch, war ja nur ein Hund, der da spricht - ) und trotzdem das Geheimnis zu bewahren. Daran scheitern viele Neulinge.

Bei dir dürfen aber mE beide Lesarten nebeneinander stehen bleiben, Callboy vs. Psychiater, passt beides, die Irreführung ist nicht ganz so erzwungen, sondern spielt mit der Doppeldeutigkeit. Möglicherweise ist damit das Prädikat "Experiment" zu erklären, denn wirklich experimentell ist dein Text mE nicht.[Edit: Ich könnte schwören, da stand mal der Tag "Experimente" :hmm:]

Sobald ihr klar wird, dass ich nichts erwidern werde, durchschneidet sie den Raum mit ihren forschen Schritten.
Auch nach mehrmaligem Lesen stolpere ich jedesmal bei diesem Verb. Meinem Empfinden nach kann man einen Raum durchschreiten, durchqueren oder auch durchmessen. Durchschneiden sehe ich eher für Stimmen, oder Wind.
Mir würde hier am besten gefallen: "..., durchquert sie mit forschem Schritt den Raum."

Überhaupt wirkt dein Schreibstil verspielt, ist aber angenehm flüssig zu lesen.
Auch ich freue mich auf die nächste (richtige) Geschichte von dir.
;)

Gruss dot

 

Hallo Agent

In Deine Kurze bin ich über den Kommentar von dotslash hineingerutscht, also vorbelastet. :shy:

Die Handlung klingt sehr verspielt, lässt bis zum Schluss offen, was die beiden zusammenführte. Mit dem ironischen Adieu nimmt es dann suggestiv die Form einer Sitzung an, die rückspiegelnd eine therapeutische Behandlung nahelegt.
Durch meine erwähnte Vorbelastung war ich in diesem Aspekt jedoch aufmerksam, nahm jede Verhaltensweise, Handlung und Reaktion kritisch wahr und wog es mit der Realität ab. Durch die dabei auftretenden Unstimmigkeiten fiel für mich eine psychoanalytische Sitzung bald mal ins Wasser. Dem falschen Doktor Freud hielt ich innerlich vor, die Psychohygiene nicht zu beherrschen. Doch auch bei andern Sitzungsformen, die Methodenwahl ist ja vielfältig, erschien mir der Ablauf vage und doch fatal. So hatte ich mir als Leser ein Handicap eingehandelt, das statt vorab unbefangenen Aufnehmens des Textes, parallel zu deuten versuchte.

Unbesehen der inhaltlichen Kritik, sofern Du das Thema wirklich mehr als ironisch auf dieser Ebene haben wolltest, war es vergnüglich und gewandt dargelegt. Eine Kurze, die Spass machte. :D

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Anakreon schrieb:
In Deine Kurze bin ich über den Kommentar von dotslash hineingerutscht, also vorbelastet.
Dabei habe ich peinlichst darauf geachtet, dass ich in meinem Com bis zu "Weiterlesen ..." nichts verrate. :D

 

Moin dot & Anakreon,

ich dank Euch beiden sehr für Eure Kommentare, wie Ihr meine kurze Nicht-Geschichte so empfandet.
Ihr haut da ja beide in fast dieselbe Kerbe - und nach mehrmaligem Lesen mit nun etwas mehr Abstand, kann ich eure Punkte nachvollziehen: Vielleicht hätte es ein bisschen weniger eindeutige Zweideutigkeit auch getan und stattdessen ein paar mehr Hinweise darauf bedurft, dass die mysteriöse Patientin verbal in Extase "rutscht" - wären sicher leicht integrierbar gewesen, ohne dass die Poente ernsthaft in Gefahr geriet (wollt halt auf Nummer Sicher gehen - Anfängerfehler, oder?)

@dot: Hast richtig geschwört: war tatsächlich anfangs auch als Experiment getagt.

@Anakreon: Weiß nicht so ganz, wie Du das mit der Psychohygiene genau meinst, geb Dir aber Recht, dass der eigentliche Ablauf der Sitzung recht unkonkret bleibt. Ich habe mich bewusst nur auf etwas beobachtendes Gefasel beschränkt, um mich wirr und wie in einem Strudel "rein" steigern und dann abrupt enden zu können.

Um den Figuren in der Kürze mehr Tiefe verpassen zu können, muss ich wohl noch bisschen üben.
Die Poente mit dem "Doktor Freud" sollte eigentlich auch nur die Situation umdeuten und dem schlimmen Leser einen Haken schlagen. Da war mir gleich, ob's dann tatsächlich der echte Freud ist, oder ob die Patientin das nur als ironisch, liebevollen Spitznamen bringt - die Deutung bleibt euch überlassen, nur das Metier sollte klar werden.

Grüße,

Agent

 

Hallo Agent

Weiß nicht so ganz, wie Du das mit der Psychohygiene genau meinst, geb Dir aber Recht, dass der eigentliche Ablauf der Sitzung recht unkonkret bleibt.

Mit dem Begriff «Psychohygiene» deutete ich ein Internum an, das den im klinisch-psychologischen Kontext tätigen Personen eine methodische Aufarbeitung der Übertragungen durch Patienten erlauben soll. Also psychische Belastungen, welche sich bei Therapeuten persönlich absetzen, zu beheben.

Aus meiner Sicht war die Sitzung sowie die Gedanken des Mannes nicht einzig unkonkret, sondern mehr noch unkonventionell und unprofessionell. Dies jedoch nur(!), wenn der Leser die Abschiedsworte der Frau dahingehend interpretieren kann, sie sei in fachlicher Behandlung. Wenn sich am Schluss ergibt, die Handlung spiele z. B. bei einem Seher oder dergleichen, was ihren Abschiedsworten eindeutig ironischen Wert gäbe, wäre es m. E. anders zu gewichten. Ihre verbale Ekstase, mit der sie ihn scherzhaft als Doktor Freud betitelt, wäre dann schon eine kleine Pointe.

Dass es nicht bei Freud spielen konnte, ergab sich von Beginn an aus der Handlung, da seine Sitzungen für Patienten strikt auf der Couch verliefen. Übrigens, Freud hätte die Dame bei ihrem Verhalten hochkant rausgeschmissen, er war ein sehr grantiger Mann und sein Frauenbild war dem Zeitgeist entsprechend. :D

Anfängerfehler, oder?

Vielleicht, aber auch erfahrene Autoren können in solche Fallen tappen. Wichtig ist beim Schreiben von Geschichten, dass man über die Materie die man sich auslässt, möglichst gründlich informiert ist und es inhaltlich plausibel wiedergeben kann.

Hier im Forum kann ein Autor über den Bearbeitungsmodus an seiner Geschichte auch weiterarbeiten, ihr den letzten Schliff geben, wenn ihm ernsthaft daran liegt. ;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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