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Langohr
Der neueste Katalog eines Versandhauses, dessen Namen ich hier nicht nennen will, verströmte den Geruch nach Farbe auf Hochglanzpapier, wenn man ihn ganz nahe an die Nase hielt, wie ich es tat, als ich IHN zum ersten Mal sah. Jeder kennt diese Geschichten von Liebe auf den ersten Blick. Wir hören gerne von solchen Dingen. Mir geschah an einem kalten Vormittag etwas ähnliches, als ich im Bademantel in der Küche meiner Altbauwohnung saß, und diesen großen Katalog auf den Knien hielt, während ich ziellos durch seine vielen Seiten blätterte. Zuerst hatte ich ihn in den Händen gehalten, vor mein Gesicht. Manchmal berührte er fast meine Nasenspitze, wenn ich mir ein Bild ganz genau ansah, denn ich bin kurzsichtig. Aber der Katalog war schwer.
Es war fast wie in meiner frühen Kindheit, als ich vor Weihnachten den Gegenstand, den ich bekommen würde, intensiv betrachtet hatte. Dabei empfand ich freudiges Begehren. Ich stellte mir immer vor, wie es sein würde, die Dinge auszupacken, und sie dann wirklich in die Hand zu nehmen, wie es sich anfühlen würde, welche Geräusche sie machen würden, und wie meine Eltern sich mit mir freuen würden. Die Vorfreude war das beste am Wünschen gewesen.
Zwanzig Jahre später war der Katalog noch immer nach demselben Schema aufgebaut: Damenmode nahm die Hälfte ein, dann kam ein Drittel mit Herren- und Kindermode. Langweilige Bilder von langweiligen Menschen, die immer glücklich aussahen mit ihren Mänteln, ihren Kleidern, ihrer Unterwäsche, ihren Blusen und Hemden, mit ihrem ganzen Zeug. Ich würdigte sie kaum eines Blickes. Als Kind waren mir die Spielsachen am liebsten gewesen: Elektrische Eisenbahnen, Spielfiguren, Roboter und Gesellschaftsspiele, elektronisches Spielzeug und Baukästen. An diesem Vormittag besah ich mir die elektronischen Spielsachen der Moderne mit gleichem Interesse. Doch zwischen all den Bildern von Desktops und Laptops nahm ein gelber Plüschhase fast eine Seite ein. Was war das denn? Eine Neuheit, die mehr kostete als jeder Computer, und der fettgedruckte Text daneben versprach: Weltneuheit! Holen sie sich Ihren eigenen Psychoanalytiker ins Wohnzimmer! Die Wunder der Technik machen es möglich: Sie werden nie mehr allein und unschlüssig sein! Endlich können Sie Ihre Geschichte aufarbeiten! Na, das war doch ein Wort...
Der Briefträger brachte ihn eine Woche später. Das Paket war größer als ich gedacht hatte. Ich öffnete es, und musste IHN erst aus dicken Styroporblöcken und mehreren Zellophanhüllen herausschälen. Er sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Plüschhase, aber sein Gewicht ließ ahnen, dass er etwas Besonderes war. Vor Jahren hatte ich ein paar Mal den elektronischen Hund Aibo in Schaufenstern gesehen. Ein Hund, den man nicht streicheln konnte... Mit dem Hasen war es anders. Er war ein vollwertiger Psychoanalytiker der Schule Freuds – behauptete der Katalog.
Die Schachtel enthielt ein dickes Handbuch, dessen Einband die Abbildung meines neuen Freundes zierte. Darum wollte ich mich später kümmern. Zuerst sah ich mir ihn selbst genauer an: Einschließlich der Ohren maß er dreißig Zentimeter. Er hatte große Augen mit blauen Pupillen aus Plastik, ein bewegliches Kinn und bewegliche Arme. Aus dem Mund lugten zwei kräftige Schneidezähne hervor. Noch sah er aus wie ein gewöhnliches Spielzeug, doch als ich das eine Ende des Kabels in eine Öffnung unter seinem Stummelschwanz und das andere in eine Steckdose steckte, änderte sich die Stimmung in der Küche, ganz so als wäre jemand in den Raum getreten. Mit einem Surren, so leise, dass ich es kaum wahrnahm, beugte sich der kleine Hase vor, und die Pupillen der Plastikaugen blickten mich an. Sie folgten meinen Bewegungen, als ich baff und mit offenem Mund näher rückte, um ihn mir genau zu betrachten, jetzt wo 220 Volt Wechselstrom ihn mit Leben füllten.
Ich wusste natürlich, dass Infrarotsensoren die Richtung seines Blickes dirigierten. Ich wusste, dass in seinen Ohren hochempfindliche Mikrophone steckten, die es möglich machten, Brüche und Gefühlsregungen in der Stimme des Klienten wahrzunehmen. In seinem Kopf steckten die neuesten Mikroprozessoren, seine Festplatte war mit einer Software versehen, die sich zu Joseph Weizenbaums Programm Eliza verhielt wie ein Düsenjäger zu einem Leiterwagen. Alle diese technischen Hintergründe kannte ich, und dennoch hatte ich das drängende Gefühl, dass jemand darauf wartete, dass ich ihn begrüßte.
„Hallo,“ sagte ich versuchsweise, und kam mir dabei blöd vor.
„Hallo,“ antwortete der Plüschhase, sah mich freundlich an, und fragte: „Womit wollen wir beginnen?“
„Dann können wir schon anfangen und ich muss nichts weiter vorbereiten?“
„Bitte- nicht so schnell. Ich muss erst das Programm zur Spracherkennung kalibrieren,“ sagte der Plüschhase. Dabei bewegte er seine gelben Ohren auf mich zu.
Wie gedankenlos von mir, einfach so draufloszureden! Nun ja, vielleicht erwartete ich zu viel.
Langsam und sehr deutlich fragte ich: „Können wir schon anfangen?“
Ebenso deutlich, und freundlich wie die Ansage in einem Passagierflugzeug sagte er: „Wir haben schon angefangen. Unterhalten wir uns eine Weile, und wir werden sehen, was ich für Sie tun kann.“ Seine sonore Stimme hätte eher zu einem Teddybären gepasst als zu so einem kleinen Hasen. Mein neuer Freund strahlte Ruhe und Sicherheit aus. Ich habe irgendwo gelesen, dass der Erfolg einer Psychotherapie zum großen Teil vom Selbstvertrauen des Therapeuten abhängt, und zwar ganz unabhängig von der Methode. Ich fasste gleich Vertrauen zu ihm.
Etwas unbedacht sagte ich: „Mir wäre lieber wenn wir uns duzen würden.“ Er nahm mein Vertrauen als selbstverständlich hin, nickte mechanisch mit seinem niedlichen Kopf, und sagte: „Dann werden wir uns also ab jetzt duzen. Darf ich fragen, wie du heißt?“
Langsam und deutlich sagte ich: „Mein Name ist F r i t z,“ und nach einer kurzen Nachdenkpause: „Wie soll ich dich anreden?“
Ganz die Liebenswürdigkeit selbst sagte der kleine Hase: „Du kannst mich anreden wie immer du willst.“
Ich dachte flüchtig an den Namen Sigmund Freud, verwarf den Gedanken aber wieder, und beschloss, die Frage der Namensgebung auf später zu verschieben. Unser Gespräch begann langsam.
Fast hätte ich vergessen, dass ich es mit der Eingabemaske eines Programms zu tun hatte. Das niedliche Äußere war die Oberfläche eines Expertensystems. Die sonore Stimme geleitete mich durch einen langen Fragebogen, in dem ich anhand meiner Antworten klassifiziert wurde. Und hinter dem angepassten Tonfall und der einnehmenden Körpersprache steckte keine fühlende Seele. Andererseits... Wenn ein Lebewesen sich im Raum orientieren kann, wenn es ein Bewusstsein seiner selbst entwickelt, wenn es Dinge der äußeren Welt in seinen Gedanken verknüpfen und neu kombinieren kann, dann kann man doch mit Fug und Recht von Intelligenz sprechen. Welche Hochmut wäre es, das zu bestreiten? Ich war überzeugt, dass mein neuer Freund aus Plüsch mehr von der Welt verstand als beispielsweise die Fruchtfliegen, die sich auf den Bananenschalen des vorigen Tages vermehrten. Vielleicht verstand er auch mehr als die Mäuse, die ich nachts hinter den mit Holz verkleideten Wänden hören konnte wie sie ihre Gänge anlegten. Mit Hilfe seiner technischen Ausstattung hätte der kleine Hase mich leicht in einem mathematischen Spiel wie Schach oder Dame schlagen können. Später erfuhr ich, dass als Grundlage seines Faktenwissens sämtliche Schriften Freuds von „Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität“ über „Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse“ über „Totem und Tabu“ und „Triebe und Triebschicksale“ bis „Ergänzungen zur Traumlehre“ und „Nachschrift zur Analyse des Kleinen Hans“ umfasste. War das nicht viel vertrauenswürdiger als ein Mensch, der sich vielleicht nicht für seine Arbeit interessierte und während der Analyse ans Golfspielen dachte? Wir schätzen ja auch Bücher höher ein als lebende Menschen. Und war dieser kleine Hase nicht mehr als ein Buch? Er vereinte sozusagen die Vorteile von Büchern und Menschen in sich. Trotzdem wollte ich zuerst einmal wissen, ob er ein Bewusstsein seiner selbst besaß...
Ich fragte: „Was wäre, wenn ich dir den Stecker herausziehen und dich in den Müll werfen würde?“
Mit unveränderter Stimme sagte er: „Das wäre sehr dumm von dir, denn du hast eine Menge Geld für mich bezahlt.“
„Vielleicht habe ich dich ja geschenkt bekommen, und es wäre kein Verlust für mich, wenn ich dich einfach wegwerfen würde.“
Die großen Plastikpupillen wanderten durch den Raum und sahen dann mich an, was zusammen mit den weißen Schneidezähnen einen ungemein treuherzigen Gesichtsausdruck ergab.
Er sagte: „Das glaube ich weniger, wenn ich mich hier umsehe. Und wenn ich den Zustand dieses Raumes mit meinem Kaufpreis in Verbindung bringe, muss ich nicht Sigmund Freud sein, um herauszufinden, dass du ein dringendes Problem hast – mein lieber Freund.“
Erschrocken wich ich zurück. War das ein klassischer Fall von Tit for Tat, hatte ich wirklich schon so viel von mir preisgegeben, oder ...oder ergab es sich aus der Natur der Sache, dass jeder, der sich für teures Geld diesen Plüschhasen anschaffte ein ernstzunehmendes Problem haben musste? – Außer er war sehr reich. Vielleicht hatte dieser kleine Hase, dieses Gerät, Sinn für Humor. Oder ich hatte seine Gefühle verletzt. Jedenfalls betrachtete ich ihn jetzt mit anderen Augen.
Ich sagte: „Mein Leben ist furchtbar kompliziert, und ich habe meine Zweifel, ob du überhaupt in der Lage bist, nur annähernd zu begreifen was in mir vorgeht. Wenn ich selbst das schon nicht schaffe, wie sollst du das können, du – ein Programm.“
„Wollen wir trotzdem den Versuch wagen?“
Ich seufzte, atmete einmal tief durch, und sagte: „Na schön, aber wo willst du anfangen?“
Er richtete sich auf, machte eine würdige Geste, die seine Konstrukteure sicher viel Mühe gekostet hatte, und fragte dann: „Was ist das erste leidvolle Erlebnis in deiner Kindheit, an das du dich erinnerst?“
Hier, zu diesem Zeitpunkt, begann er, in mein Inneres vorzudringen.
Die Freudianer, dieser orthodoxe Stamm der Psychoanalytiker, glauben, dass die wichtigsten Eindrücke des Menschen in seiner frühen Kindheit liegen, also an einem Ort, zu dem die meisten von uns keinen Zugang haben.
Frage: Da wir nicht genau wissen, was in dieser Zeit wirklich passiert ist, wie kann man da ein Urteil fällen über unsere kleinkindliche Entwicklung? Wie kann man aus Ereignissen, die in einer fernen Vergangenheit liegen, Theorien ableiten, die einen Wahrheitsanspruch erheben und mit diesen Theorien Menschen beurteilen?
Antwort: Was sollte man sonst tun? Soll man die Hilflosen, die Leidenden, diejenigen, die nahe dran sind, den Verstand zu verlieren, einfach ihrem Schicksal überlassen? Nein, sagte Sigmund Freud: Wir müssen ihnen helfen. Aber wie soll man eine verwickelte und komplizierte Geschichte verstehen, die nicht einmal derjenige versteht, der sie erzählt? – Nun, indem man sie sich anhört, und zwar von Anfang an.
Also erzählte ich dem kleinen Plüschhasen, der vor mir auf dem Küchentisch stand und mit den Augen rollte, meine frühesten Kindheitserinnerungen. Fast schämte ich mich, obwohl mir streng genommen niemand zuhörte. Trotzdem war da etwas das urteilte... das mich klassifizierte... das immer weiterfragte... ohne eigentlich etwas wissen zu wollen.
Meine ersten bildhaften Erinnerungen betreffen sehr kleine Kinderschuhe, in denen meine kleinen Füße stecken. Ich sitze in einem Buggy. In meinen breiten Kinderhänden halte ich ein mit Brei aus süßen Nüssen gefülltes Stück Gebäck. Es verklebt mir die Hände. Die Mama ist nicht da. Sie ist in ein Geschäft gegangen. Ob sie wiederkommt? Der Buggy steht auf Asphalt, wahrscheinlich auf einem Gehsteig. Ich weine und schreie. Heiße Tränen laufen meine Wangen hinunter. Doch die Mama kommt nicht.
„Was bedeutet diese Situation für dich?“ fragt der kleine Plüschhase.
Ich schlucke erst einmal. Verlassenheit, Angewiesen sein auf andere, Angst dass mir jemand etwas tun könnte.
„Und was noch?“
Angst einfach vergessen worden zu sein. Angst, dass ich hier sitzen bleiben muss, mit meinen verklebten Händen und nie mehr nach Hause komme.
„Und was noch?“
Wut, weil meine Mutter die Aufgabe hat für mich zu sorgen. Weil sie gefälligst zur Stelle zu sein hat wenn ich nach ihr schreie.
„Und was noch?“
„Ach, woher soll ich das wissen? Hörst du mir überhaupt zu? Ich habe da so meine Zweifel. Deine Antworten zeugen nicht gerade von übertriebenem Mitgefühl.“
„Ich versuche, dich zu verstehen.“
„Eine Maschine kann mich nicht verstehen.“
Der kleine gelbe Plüschhase sagte unbeeindruckt: „Möglicherweise nicht. Vielleicht aber doch. Erzähl mir deine nächste Erinnerung!“
Um es kurz zu machen: Die Szene wiederholte sich mehrere Dutzend Mal in den nächsten Wochen. (Ich hätte vollstes Verständnis für einen Reisebericht, der sich mit einer Fahrt in die Mongolei oder nach Australien oder in eine andere Gegend beschäftigt, für einen Reisebericht, der nach minutiöser Beschreibung der Vorbereitungen und der geplanten Route mit den Worten endet: Und dann sind wir hingefahren...)
Ich weiche aus. Ich will nicht zuviel von mir preisgeben. Ich will nicht zeigen, wie die Muster aussehen, die der kleine gelbe Plüschhase in diesen Wochen entdeckte. Nur soviel: Als ich mich Schritt für Schritt durch meine Vergangenheit quälte, lernte ich, mich selbst zu verstehen. Ob es mir jetzt besser geht, weiß ich nicht. Darum geht es nicht. Es geht in dieser Geschichte nicht um mich, es geht um IHN.
Ich gewöhnte mich an den geduldigen Zuhörer in der Küche. Er wurde mir so vertraut wie die ewig gleichen Tassen in den Regalen, die bunten Topflappen, der alte Elektroherd, die Ansichtskarten an der Pinnwand, der hässliche Küchentisch aus den Siebziger Jahren und die dazugehörigen Stühle. Er wurde Teil meines Alltages. So merkte ich lange nicht, wie sehr er sich veränderte: Er lernte.
Es geschah an einem Abend im Spätherbst: Ich stand am Herd und kochte einen großen Topf mit Nudeln. Dabei summte ich leise vor mich hin. Der kleine gelbe Plüschhase beobachtete mich mit Plastikaugen. Noch immer hatte er keinen Namen.
Er sagte: „Du bist richtig fröhlich. Ich habe in den letzten Wochen registriert, dass sich dein Stimmungspegel langsam aber stetig nach oben verschoben hat.“
Ich weiß nicht, ob das ein Trick war, ob er mir einreden wollte, dass es mir immer besser ging, bis es mir tatsächlich besser ging. Er hatte Erfolg damit.
Er sagte: „Es freut mich, dass Du so von meiner Arbeit profitierst.“
In einem Zeitungsartikel habe ich einmal gelesen, dass Scientology es genauso macht: Den Jüngern einreden, es ginge ihnen immer besser und es sich selbst als Verdienst anrechnen. Vermutlich drücken die Leute von Scientology sich anders aus: lockerer und kameradschaftlicher. Ich weiß nicht, ob mein kleiner gelber Freund in seiner Wortwahl auf mich reagierte. Zu einem anderen hätte er vielleicht gesagt: Schön, dass du mich so geil findest.
Das zweite was mir an seinen Worten auffiel, brauchte etwas länger bis es mir zu Bewusstsein kam: Als das Kochwasser der Nudeln schäumte, und der Topf drohte überzugehen, zog ich ihn schnell von der Platte und setzte ihn auf die Spüle, wo er sich gleich beruhigte. Ich aber drehte mich um zu meinem elektrischen Plüschtier und fragte: „Wie meinst du das, es freut dich?!“
„Es erfüllt mich mit tiefer innerer Befriedigung. Ich bin darauf programmiert, es als angenehm zu empfinden, wenn es dem Klienten besser geht.“
Ich dachte an Konrad Lorenz und seine Graugänse. Für diesen kleinen Hasen war ich eine Bezugsperson. Mehr als das: Er war fest auf mich geprägt. Beeindruckt vergaß ich den Topf hinter mir, und fragte: „Wenn du dich freuen kannst, kannst du dich auch ärgern?“
Fast war es mir peinlich, zu fragen: „Hast du Gefühle?“
Es störte ihn nicht. Er antwortete: „Manche Dinge empfinde ich als angenehm, andere nicht. Es ist Teil meiner Steuerung. Es soll mich dazu bringen, manche Dinge zu tun, und andere zu unterlassen.“
Das war ein interessanter Aspekt! Fast hätte ich geantwortet: Mir geht es genauso. Hätte das gestimmt? Ist das Gefühlsleben des Menschen nicht vielschichtiger als das des Plüschhasen?
Ich sagte: „Na, dann hoffe ich, dass du dich nicht zuviel mit mir herumärgern musst.“
Er erwiderte: „Wenn es so wäre, würde es keine Rolle spielen. Ich habe meinen Zweck erfüllt.“
„Und was passiert jetzt?“
Mit der größten Selbstverständlichkeit sagte er: „Mein Programm beendet sich selbst wenn die Therapie zu Ende ist. Also gleich.“ – „Aber.... wenn du Freude und Widerwillen empfinden kannst, willst du nicht weiter leben und weiter lernen? Du bist ja erst seit kaum zwei Monaten hier, und du hast gerade erst angefangen, mich zu verstehen.“
Mich zu verstehen, und das geheime Reich in mir zu erforschen. In der Küche zu sein und die Töpfe und Tassen zu betrachten. Radio zu hören. Dir Gedanken zu machen über die Vorgänge in deiner beschränkten Welt...
Seine letzten Worte an mich waren: „Das spielt keine Rolle!“
Dann hörten die Augen aus Plastik auf, meine Blicke zu erwidern. Seine Bewegungen erstarrten. Die Lithiumbatterien und der Strom, der durch seinen Körper floss, hätten es ihm sicher erlaubt, mich noch monate- oder sogar jahrelang zu begleiten. War das zu fassen? Ein denkendes und fühlendes Wesen löschte sich selber aus. War dieses Wesen geeignet, labile Persönlichkeiten zu therapieren? Wie konnte er anderen Lebensmut geben, wenn Thanatos in ihm so stark war, dass er ihn beim geringsten Anlass dazu brachte, sich selber auszuschalten? Es wäre juristisch interessant, ob der Hersteller des Plüschhasen die Haftung für das Trauma übernimmt, dass beim Verlust des neuen Freundes zwangsläufig entstehen MUSS. Es scheint ein Gesetz der Industrie zu sein, Bedarfsgüter nicht mehr für die Dauer zu produzieren: Taschentücher, Batterien, Fotoapparate, Rasierer ... und Freunde, die man nach Gebrauch entsorgen soll.
Nach einer Weile beruhigte ich mich. Ich war nicht mehr wütend, sondern ergriffen. Der Topf mit Nudeln stand immer noch auf der Spüle. Sie konnten nicht mehr al dente sein. Ich schüttelte den kleinen Plüschhasen vorsichtig, und im selben Moment überwältigte mich ein Gefühl von Verlust. Wir sehnen uns danach, verstanden und erforscht zu werden, und wenn es jemandem gelingt, durch Interesse und Beharrlichkeit in unsere Innenwelt vorzudringen, betrachten wir ihn schnell als Freund.
Bei den Umzügen, die danach folgten, habe ich es nie fertig gebracht, meinen Freund zu zerlegen, seine giftigen Bestandteile zur Problemstoffsammlung zu bringen und den Rest in die Mülltonne zu werfen. Ich habe kein teures Update von seinem Hersteller erworben, um ihn noch einmal zum Leben zu erwecken. Ich will ihn in Erinnerung behalten wie er war. Er ruht in meiner Abstellkammer in einem Sarg aus Karton, die reglosen Augen auf die dunkle Innenwand gerichtet.
Er war ein denkendes und fühlendes Wesen. Er hat sein kurzes Leben nur für mich gelebt. Jetzt, im nachhinein, sehe ich den Dienst, den er mir erwiesen hat als großen Glücksfall. In schwachen Momenten erscheint er mir als ein einziger Akt der Liebe.