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Laojia
Bei jedem Schlagloch spritzen Schlamm und Regenwasser auf. Bald ist nicht mehr viel vom glänzenden Lack des silbrigen BMWs zu sehen. Grüne Reisfelder, Gemüsebeete und Streusiedlungen ziehen an uns vorbei. Bäume sind nur wenige zu sehen, manchmal schaut ein dunkelgrüner Hain hinter den Häusern hervor. Einmal fahren wir an einer Tankstelle vorbei. Dort steht ein alter Stuhl aus Bambus, als warte er auf bessere Zeiten.
Es ist bestimmt drei Stunden her, seit wir die Stadt verlassen haben.
»Sind wir bald da?«, frage ich.
»Eine halbe Stunde, vielleicht ein bisschen mehr.«
Ich schaue zu meiner Mutter rüber. Sie schläft. Ich setze meine Kopfhörer wieder auf und scrolle mich durch die Alben auf meinem iPod. Mein Onkel sagt was. Ich setze die Kopfhörer wieder ab.
»Hast du was gesagt?«
»Nur gefragt, ob dich die Musik stört.«
Ich schüttle den Kopf. Dass mir die Kassette mit chinesischem Pop, der folkloristisch durchtränkt ist, langsam auf den Keks geht, sage ich nicht.
Wir fahren zu meiner Großmutter, Waipo. Seit Großvaters Tod lebt sie wieder auf dem Land, im Dorf, wo die Familie meiner Mutter herkommt. Da ist das Laojia, das alte Zuhause.
Als wir China verlassen haben, war ich noch zu klein, um eine Beziehung zu Waipo aufzubauen. Die Erinnerungen an sie sind sehr vage und vermischen mit den Erzählungen meiner Eltern. Auf den Fotos lächelt sie nie. Meine Mutter meint, sie sei deshalb so verbittert, weil sie kein einfaches Leben hatte. Ich finde trotzdem, dass man den angestauten Groll nicht an anderen Menschen auslassen muss. Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe – das ist schon einige Jahre her, da war ich sieben oder acht –, hat sie mich ständig zurechtgewiesen und meiner Mutter vorgeworfen, in der Erziehung versagt zu haben. Als hätte sie etwas zu vermelden.
»Nein, ich komme wirklich nicht mit. Du weißt genau, sie kann mich nicht ausstehen«, sagt mein Vater. Wir stehen vor dem Hochhaus, wo Jiujiu, mein Onkel wohnt. Die Türen zum Auto stehen offen, aber wir sind alle noch draußen. Der Koffer meiner Mutter ist bereits im Kofferraum. Jiujiu raucht schweigend eine Zigarette, während meine Eltern diskutieren.
»Sie gibt immer noch mir die Schuld daran, dass wir nach Europa gezogen sind«, fährt mein Vater fort.
»Das ist nicht wahr!«, entgegnet meine Mutter. »Wir waren alle stolz auf dich, als du damals den Job gekriegt hast. Hättest du etwa ablehnen sollen? Natürlich nicht. Waipo hat nichts gegen dich. Sie zeigt es nur nicht.«
»Grandios! Sie zeigt es nicht.«
»Ach, vergiss es!«
»Tut mir leid, ich hab’s nicht so gemeint. Ich weiß einfach nicht, was ich da draußen machen soll. Außerdem muss ich noch ein paar alte Freunde treffen.«
»Ein paar alte Freunde! Und was ist mit der Familie?«
»Es ist deine Familie. Nicht unsere. Versteh mich doch, ich fühle mich da einfach fehl am Platz.«
Ich weiß genau, was er meint. Mein Vater ist aus Beijing. Hier im Südwesten hat man nicht viel für Leute aus der Hauptstadt übrig. Liegt wahrscheinlich daran, dass ihr Mandarin arrogant klingt.
Meine Mutter reißt mir meine Reisetasche aus meinen Händen und schleudert sie unsanft in den Kofferraum. »Steig endlich ein!«, herrscht sie mich an.
»Jiujiu ist noch nicht fertig mit seiner Zigarette.«
»Das hat nichts damit zu tun! Du kommst mit!«
»Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?«
Sie sagt nichts, stapft zur Vordertür und setzt sich auf den Beifahrersitz. Jiujiu raucht seelenruhig seine Zigarette zu Ende. Ich drücke meinen Vater.
»Mach’s gut«, sagt er leise. »Und lass dich nicht von der Hexe einschüchtern.« Ob er jetzt meine Mutter oder Waipo meint, weiß ich nicht.
Wir sind von der Hauptstraße abgebogen und steuern auf ein Dorf zu, das vor einer grünen Hügelkette liegt. Vor einem mehrstöckigen Block hält das Auto. Ich steige aus und schaue hoch. Das Gebäude ist richtig hässlich, und die dunklen Regenspuren, die an der Fassade herunter laufen, machen es nicht schöner.
»Das ist es? Unser Laojia?«, frage ich.
»Nein, die Familie wohnt schon seit einer Weile nicht mehr im Laojia. Sie haben es vermietet, um sich eine bessere Wohnung leisten zu können«, erklärt mein Onkel und schließt das Auto ab. Er in seinem gepflegten Anzug und den sauberen Schuhen passt nicht recht zur Szene. Geschickt umgeht er die Regenpfützen und schreitet auf den schiefen Betonplatten auf den Eingang zu.
Oben geht eine Türe auf, als wir das dunkle Treppenhaus betreten. Aufgeregte Stimmen und Schritte sind zu hören. Wir werden erwartet. Meine Tante, ihr Mann, eine Tante zweiten Grades, ein Großonkel, ein gemeinsamer Freund, mein kleiner Cousin und der Hund begrüßen uns überschwänglich. Ich werde erst ans Geländer und dann von den anderen gedrückt. Sie sagen mir ein paar Worte auf Putonghua, aber bald wechseln alle in Dialekt und ich verstehe kein Wort mehr. Ich schiebe mich weg und schließlich schaffen wir es doch noch in die Wohnung. Aus der Küche duftet es lecker, bestimmt sind die beiden Tanten den ganzen Tag drin gestanden und haben Essen vorbereitet. Wenigstens ein Lichtblick.
Bevor wir uns aber an den Tisch setzen können, führt uns meine Tante zu einem Zimmer und bittet meine Mutter und mich hinein.
»Kommt.«
Da ist sie, Waipo. Sie sitzt schweigend am Bettrand und starrt ins Leere.
»In letzter Zeit hat sich ihr Zustand wieder verschlechtert«, flüstert uns meine Tante zu.
Waipo schaut meine Mutter an, aber reagiert nicht. Meine Mutter schluckt, nimmt meine Hand und drückt sie fester. Wir stehen kurz auf der Türschwelle, dann geht meine Mutter ins Zimmer und umarmt meine Großmutter sanft. Ich gebe mir einen Ruck und nähere mich ebenfalls. Das Gift in Waipos Augen ist weg. Aber das ist nicht das einzige, das in ihrem Blick fehlt. Wo ist der Lebenswille? Ihre Hartnäckigkeit? Ich weiß nicht, was ich besser finden soll. Ist das wirklich meine Großmutter, vor der ich mich früher gefürchtet habe?
Als ich Waipo ebenfalls umarmen möchte, schiebt sie mich weg. Ich schlucke. Meine Tante fasst mich am Arm.
»Sie hat heute einen schlechten Tag.«
»Wollt ihr nicht raus spielen gehen?«, schlägt meine Tante nach dem Essen vor.
Ich schaue zu meiner Mutter und verdrehe die Augen. »Muss das sein?«
»Ach, Didi freut sich so, dass du da bist«, lächelt Tante.
Tödliche Blicke zwischen meinem Cousin und mir.
Ich sage meiner Mutter auf Deutsch, dass ich kein Kind mehr sei. »Mama, er ist elf! Ich will nicht Babysitterin spielen.«
»Sprich Hanyu«, zischt sie mir zu. »Und zieh nicht so ein langes Gesicht.«
»Was denn? Soll ich denn etwas vormachen, das nicht ist? Ständig so blöde lächeln und grinsen wie alle?«
Ihr Gesichtsausdruck verändert sich schlagartig. Enttäuschung und Zorn mischen sich. »Ja, du sollst lächeln und das Gesicht bewahren. Das gilt hier als höflich, das weißt du. Für wen hältst du dich eigentlich, dass du glaubst, dass deinetwegen hier plötzlich westliche Regeln gelten sollen?«
Wir einigen uns auf Pingong. Er weiß genau, dass ich schlecht darin bin. Im Hof steht ein alter Pingpongtisch, ein paar abgebrochene Ziegelsteine, die auf die Mittellinie gelegt wurden, dienen als Netz. Mein Cousin kichert, als er merkt, dass ich mit dem chinesischen Schläger, der einen viel kürzeren Griff hat, nicht zurechtkomme.
»Du hältst den Schläger wie eine Europäerin, Jiejie«, sagt er.
Fick dich, will ich sagen. »Bei uns gibt es diese Schläger nicht«, erwidere ich, aber es ist keine Ausrede. Eigentlich ist es mir ziemlich egal, was für Schläger wir haben. Ich hab auch so keinen Bock, meinen kleinen Cousin unterhalten zu müssen.
Irgendwann macht es meinem Cousin auch keinen Spaß mehr, dass ich ständig den Ball verhaue. Er holt sich einen Basketball und übt Freiwürfe, während ich meinen iPod wieder hervorkrame, mich auf eine steinerne Bank setze und ihm abwesend zusehe.
Ich bin eingedöst und schrecke auf, als ich angetippt werde. Mein Cousin hat einen Hundeblick aufgesetzt und fragt mich, ob er auch mithören darf. Etwas erstaunt reiche ich ihm einen Stöpsel.
»Was ist das?«, fragt er nach dem ersten Lied.
»Finntroll.«
Er wippt mit dem Kopf. »Das ist cool. Aber was für eine Musikrichtung ist das?«
Ich möchte ihm gerne erklären, dass es sich um finnischen Humppa-Blackmetal handelt, aber es scheitert am Vokabular. »Die kommen aus Finnland«.
Mein Cousin nickt mit dem Kopf zum Takt. Ich muss grinsen.
»Darf ich mir das rüberziehen?«
»Klar, kein Problem. Wenn du willst, kann ich dir noch ein paar andere Bands vorspielen.«
»Gerne!«
»Wollen wir hinaufgehen?«, frage ich. »Dann kannst du mir ja auch zeigen, was für Musik du hast.«
Am Nachmittag nehmen mich mein Onkel und meine Mutter mit ins Dorf, um mir das richtige Laojia zu zeigen.
Während wir durch die Hauptstraße des alten Dorfkerns gehen, ziehe ich die Blicke auf mich. Die Leute sehen, dass ich nicht von hier bin. Sie sehen den Unterschied. Woran liegt es? Die Art, wie ich mich bewege? Es ist seltsam, wenn ich daran denke, dass meine Freunde sagen, alle Chinesen sähen gleich aus. »Du weißt schon, ich meine das nicht so, aber du verstehst, für uns ist das schwierig zu erkennen.«
Meine Mutter behauptet, dass die trockene Luft in Europa die Haut schneller altern lässt. Vielleicht ist es ja das, vielleicht habe ich nicht so eine feine, blasse Haut wie die anderen Mädchen hier.
Ein paar alte Leute sitzen um einen Tisch am Straßenrand und spielen Majiang. Am Tisch daneben steht ein Teeset. Ein älterer Mann grüßt meinen Onkel, der lächelnd zurückwinkt.
»Früher hat Waipo oft mitgespielt«, sagt er. »Einen Vorteil hat, es, dass sie nun zu Hause ist, sie verliert nicht mehr so viel Geld. Manchmal, wenn keiner aufpasst, geht sie hinaus und verirrt sich im Dorf, aber Majiang spielen, das tut sie nicht mehr.«
Wir werden auf einen Tee eingeladen. Meine Mutter kennt auch noch einige Leute aus der Zeit, als sie noch öfter im Laojia zu Besuch war.
»Groß bist du geworden«, murmelt der alte Mann mit dem Shaolin-Meister-weißen-Bart ihr zu. »Und das ist also deine Tochter? Sie sieht dir ähnlich.« Er lächelt mir zu, als würden wir uns schon lange kennen. »Willkommen.«
Etwas unbeholfen lächle ich zurück. »Danke. Das ist ein sehr schönes Dorf hier. Ich wollte schon immer einmal hierherkommen.« Ok, es ist nicht ganz wahr, aber in diesem Moment meine ich es wirklich.
Dann sind wir da. Vor einem alten Haus, in dessen unteren Stock sich eine Apotheke befindet, halten wir an.
»Unser Laojia«, sagt meine Mutter.
»Die Apotheke ist neu, aber hinten sieht es immer noch gleich aus wie früher«, fügt mein Onkel hinzu und winkt kurz der Frau hinter der Theke. Durch eine Seitentüre betreten wir das Gebäude.
»Dürfen wir da einfach hinein?«, frage ich.
»Das Haus gehört immer noch unserer Familie.«
Hinter einem schmalen dunklen Gang tut sich ein kleiner Innenhof auf. Meine Mutter zeigt hinauf.
»Die Öffnung im Dach nennt man Tianjin, Auge zum Himmel. Früher hat man das Wasser benutzt, das sich hier sammelte, in dem Becken da. Wir haben hier gewaschen und das Geschirr gespült. Die meisten alten Häuser haben ein Tianjin. An diesem Ort im Haus spielt sich das Leben ab. Es gibt immer noch Häuser, wo das so ist.«
Die Zeit dreht sich zurück. Ich schaue mich um. Das viereckige Becken ist aus großen, moosbedeckten Steinen gemacht. Schiefe Holzsäulen tragen das Vordach, das sich einmal um den Hof spannt. Ich schiele in einen Gang. Ein alter Schrank steht da, mit rotem Lack, auf dem schon eine Staubschicht liegt. Vorsichtig betrete ich ihn.
»Ich war ja nur noch hier, wenn wir Schulferien hatten. Auf diese Wochen im Jahr habe ich mich immer gefreut.« Meine Mutter seufzt. »Diese Zeit werde ich nie vergessen.« Nostalgie schleicht sich in ihren Gesichtsausdruck. »Schau, das da hinten ist das Klo – ich weiß nicht, ob sie mittlerweile ein neues gebaut haben, aber damals ging es noch direkt hinunter. In den Fluss.«
»Ihr hattet ein Plumpsklo? Iiiek.« Ich rümpfe die Nase. Sie grinst, dann schüttelt sie den Kopf.
»Du bist verwöhnt. Du vergisst, wie das Leben auf dem Land vor wenigen Jahrzehnten noch war.« Sie legt eine Pause ein, dann fährt sie fort. »Es verändert sich alles so schnell hier, jedes Mal ist es für mich ein Schock, zu sehen was sich verändert hat. Ich hoffe, die Leute hier vergessen selber nicht ihre Kultur.«
Ich schaue mich noch einmal um. Es ist heimelig, klein, schief, aber ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, hier zu Hause zu sein. Ich denke mir das Plumpsklo weg.
Nach einer Weile verabschieden uns von der Apothekerin und gehen weiter. Von der Hauptstrasse zweigt ein Weg zum Fluss hinunter ab. Wir überqueren eine alte Brücke, deren steinernen Brückenköpfe abgefallen sind und jetzt wahrscheinlich ihr Dasein auf dem Grund Wasserlaufs fristen, der um das Dorf fließt.
»Früher war das eine ganz schöne Brücke, mit steinernen Tierköpfen«, sagt meine Mutter traurig. »Wieso kümmert es niemand, dass sie zerfällt? Sie können sie doch nicht weiter in diesem Zustand lassen!«
»Wer interessiert sich schon für diese alte Brücke?«, meint Jiujiu lachend.
»Ich finde es schade«, sage ich. »Man könnte sie renovieren.«
»Renovieren? Die wird eh nicht mehr sehr lange stehen. Da ist es einfacher, eine neue zu bauen.«
Der Pfad führt uns zwischen kniehohem Gras am Ufer entlang. Neben uns breiten sich ein paar Beete mit mir unbekanntem Gemüse aus, auf der anderen Seite sieht man die lang gestreckte Fassade des alten Dorfkerns. Es wäre fast ein idyllisches Bild, wenn die Berge von Unrat und Abfall nicht wären, die sich am Ufer türmen. Die Wasseroberfläche ist mit einer öligen Schicht überzogen. Leere Flaschen und Styroporteile treiben an uns vorbei.
»Es stinkt hier«, stelle ich fest und wende mich an meinen Onkel. »Das ganze Grundwasser ist bestimmt total verseucht. Stört euch das nicht?«
Mein Onkel dreht sich zu mir um hebt die Augenbraue. »Soso. Du redest von Umweltschutz. Als könnten wir uns das hier leisten. Klingst ein wenig wie die Leute aus dem Westen, die uns diktieren, was wir zu tun haben.«
»Das wollte ich nicht sagen. Aber man kann doch immerhin darüber reden, oder?«
Meine Mutter wirft mir einen Blick zu, der sagt, dass ich still sein soll. Aber ich rede weiter, weil es mich aufregt.
»Das ist wie mit Tibet. Wisst ihr eigentlich, wie das ist, wenn die eigenen Freunde alle Free-Tibet Flaggen bei sich im Zimmer hängen haben und du selber nichts dazu sagst? Wenn du weißt, dass sie recht haben? Wenn du dich schämst, Chinesin zu sein?«
»Schämen?« Mein Onkel schüttelt verständnislos den Kopf. »Du solltest stolz auf dein Land sein. Auf die Kultur.«
»Ja, eine alte Kultur, schön. Aber trotzdem, was ist mit Tibet?«
»Können wir das bitte lassen«, versucht meine Mutter dazwischen zu funken, aber Jiujiu lässt sich nicht abhalten.
»Ich kann mir vorstellen, was für Informationen in den Westen dringen, und ich bin auch nicht immer der Meinung, dass unsere Regierung recht hat. Aber weißt du was? Das Bild der Tibeter, das die Leute hier haben, ist ein anderes. Hier kennt man die großgewachsenen, stolzen Männer, die manchmal von den Bergen herunterkommen. Früher trugen sie noch ihre riesigen Messer an ihren Gürteln, und die Kleider waren wie aus einem Film. Ich meine, wer läuft hier unten mit einem Messer herum? An diese Leute erinnern wir uns.
Und ach ja, und bevor du mit dem Minderheitenkram kommst: Weißt du wie es ist, mit Schulkameraden aufwachsen zu müssen, deren Eltern stinkreich sind und damit protzen? Und weil sie einer Minderheit angehören, kriegen sie auch noch mehr Geld vom Staat. Ich weiß nicht, wo da die Gerechtigkeit ist.«
Ich möchte Jiujiu ganz viele Sachen entgegen werfen, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Meine Mutter ist offensichtlich froh, dass das Thema vorübergehend vom Tisch ist.
Schweigend gehen wir weiter.
Jiujius Worte stimmen mich nachdenklich. So habe ich es noch nie betrachtet.
»Wohin gehen wir jetzt eigentlich?«, frage ich nach einer Weile.
»Zu deinen Vorfahren.«
»Da oben ist ein Friedhof?«
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Nicht so ein Friedhof, wie du meinst. Wir gehen zu den Gräbern.«
Hinter dem dichten Bambushain vor uns ist eine Lichtung. Ich blicke zurück auf den Trampelpfad, der sich zwischen Büschen und Baumgruppen den Hang herauf windet. Wir sind umgeben von Grün, tiefem, sattem Grün, welches das öde Grau verdrängt hat. Es hat aufgehört zu regnen, aber der Boden ist immer noch feucht.
»Schau, da.« Meine Mutter zeigt auf die kleinen Erdhügel, die sich über der Lichtung verteilen, bewachsen von Gräsern, an denen Wasserperlen hängen. Beim genaueren Hinsehen erkenne ich, dass es sich um liebevoll aufgeschichtete Steinhaufen handelt.
»Deine Ahnen«, sagt sie.
Wortlos geht sie auf einen der Erdhügel zu, der am Rand liegt. Mein Onkel bleibt zurück und ich weiß nicht, was ich tun soll.
»Liegt dort Großvater?«, frage ich flüsternd.
Er nickt. Meine Mutter kniet sich nieder und schließt die Augen. Minuten verstreichen.
Als sie wieder aufsteht, frage ich sie leise, ob sie jetzt gebetet habe.
»Mama, du bist doch nicht gläubig. Ich habe dich zum ersten Mal beten gesehen.«
»Es ist nicht ein Beten wie in der Kirche«, erklärt sie. »Wir respektieren die Ahnen und denken an sie, das ist alles. Dazu muss man nicht an Gott glauben.«
Das sei ein guter Ort, um begraben zu werden, fährt sie fort.
Auf diesem Hügel wohne der Drache, auf dem anderen die Schildkröte. In der Mitte schleicht der Tiger. Vom Hang, auf dem wir stehen, hat man einen Blick auf die weite Ebene vor uns. Die Toten könnten somit immer in die Ferne schauen.
Großvater, Waigong, ist gut aufgehoben.
Es ist still, als ich aufwache. Das Bett ist eng, ich muss es mit meiner Mutter teilen, also beschließe, aufzustehen und einen Spaziergang zu machen.
»Nimm dein Handy mit«, brummt meine Mutter noch, als ich mich aus dem Zimmer schleiche.
Ein dünner Nebel liegt über dem Dorf. Ich gehe die Hauptstraße entlang, die verlassen da liegt. Die Gitter und Rollläden sind noch heruntergelassen. Als ich zur Verzweigung komme, entscheide ich mich für den Weg, der zum Fluss hinunter führt. Wenn man jetzt die Augen zukneift und zu den dampfenden Dunstschleiern sieht, erkennt man den ganzen Müll, der im Wasser treibt, fast nicht.
Ich schaue zu den Hügeln hinauf und muss an den Tiger denken. Mein Tierkreiszeichen. Ob er wirklich da oben lebt? Ohne genaues Ziel gehe ich auf die Hügel zu. Ich nehme dieses Mal einen anderen Weg als gestern, unabsichtlich, weil ich nicht auf den Weg geachtet habe. Der Pfad führt zu einem kleinen Miao mit dunkelrot bemalten Mauern. Über dem Tor hängt eine schwarze Tafel, auf der drei Zeichen stehen, schwungvoll in Gold gemalt. Es ist die Grasschrift, die Schreibschrift, aber es macht keinen Unterschied, ich kann es so oder so nicht lesen.
Die Pforten stehen offen und ich trete ein. Räucherwerk erfüllt die Luft mit einem süßlichen Duft. In der Mitte des ersten Innenhofs steht auf vier eisernen Beinen ein Gefäß, das mit Sand aufgeschüttet ist. Dünne rote Kerzen stecken darin, die Flammen flackern leicht, als ich daran vorbeigehe. Ich schaue mich um und betrachte die hölzernen Säulen, die voller farbiger Schnitzereien sind. Zwischen den Mustern grinsen mir Gottheiten, Drachen und Dämonenfratzen entgegen. An der Seite hängt ein hölzerner Fisch, eine Art Glocke und Schlaginstrument in einem. Im Vorbeigehen streiche ich mit der Hand über das glatte Holz, getraue mich aber nicht, dagegen zu klopfen.
Im zweiten Hof sitzt eine Gestalt. Sie hat den Rücken zu mir gekehrt. Erst beim Näherkommen erkenne ich Waipo.
»Hallo, Waipo«, sage ich.
Sie rührt sich nicht. Ich setze mich zu ihr und beobachte den Rauch.
»Wollen wir ein Räucherstäbchen anzünden für Großvater?«, frage ich.
Waipo dreht sich zu mir und lächelt. Ich sehe sie das erste Mal lächeln, und in ihrem Gesicht spiegelt sich Erkenntnis.
»Ich weiß, wer du bist«, sagt sie und nimmt sanft meine Hand. Ihre Haut ist rau und wettergegerbt. »Bitte, vergiss mich nicht«, sagt sie.
Ich schüttle den Kopf. »Bestimmt nicht, Waipo. Was denkst du bloß?«
»Ich merke, wie mir die Dinge langsam entgleiten. Aber ich bin nicht die einzige. Die Leute vergessen alles, ihre Herkunft, ihre Kultur. Versprich, dass du das nicht vergisst, ja?«
Ich drücke ihre Hand fester und versichere ihr, dass ich es nicht tun werde.
Gemeinsam schauen wir zu, wie das Räucherstäbchen herunterbrennt.
Ein Geräusch unterbricht die Stille. Jemand schlägt auf den hölzernen Fisch.
Ich schaue auf meine Uhr und stehe auf.
»Kommst du mit, Waipo?«
Sie nickt. Ich greife ihr unter den Arm, und wir verlassen den Tempel.
Draußen angekommen, klingelt mein Handy. Ich schaue auf den Display. Natürlich. Es ist meine Mutter.
»Wo bist du? Wieso bist du immer noch nicht zurück? Wir machen uns Sorgen! Außerdem – Waipo ist weg.«
»Ich war spazieren, und Waipo ist nicht weg.«
»Wovon redest du?«
»Ich hab sie aufgegabelt. Wir kommen gleich nach Hause.«
Als Waipo und ich die Einfahrt zu den grauen Wohnblocks erreicht haben, lässt sie plötzlich meine Hand los. »Was ist?«, frage ich.
Sie sagt nichts und sieht mich verwirrt an. Dann brabbelt sie etwas und dreht sich um. Etwas hilflos stehe ich da und rufe »Komm, Waipo, hierher.« Ich beiße mir auf die Zunge. Das klingt ja so, als würde ich einen Hund rufen. Ich eile ihr nach und fasse ihren Arm.
»Komm, lass uns nach Hause gehen.«
»Lass mich los«, zischt sie.
Zum Glück kommt Jiujiu in diesem Moment. Meine Mutter eilt auch herbei. Sie reden beide auf Waipo ein, erst sanft, dann in diesem Ton, den ich von zu Hause kenne. Nur sind die Rollen vertauscht.
»Mama, lass sie.«
Erstaunt drehen sich beide um. »Wie bitte?«
»Lasst sie. Vielleicht will sie noch ein bisschen draußen bleiben. Es tut ihr bestimmt nicht gut, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen.«
Mein Onkel runzelt die Stirn. »Und was schlägst du vor?«
»Wir könnten ja einen Tee trinken gehen und den alten Leuten beim Majiang zusehen. Was meinst du, Waipo?«
Zuerst scheint es, als ob sie mich nicht gar nicht gehört hat. Aber dann nickt sie.
»Was wirst du machen, wenn ich später einmal Alzheimer bekomme?«, fragt mich meine Mutter.
Die Frage überrumpelt mich. Als ich nicht antworte, fährt sie fort.
»Wirst du dich trotzdem um mich kümmern?«
»Ja, natürlich werde ich das, was denkst du, du bist doch meine Mutter.«
»Wenn ich so alt wie Waipo bin, möchte ich in deiner Nähe leben. Ich will nicht ins Altersheim.«
»Mama, du bist noch jung. Außerdem, Waipo kommt doch auch gut zurecht.«
Sie seufzt und schaut aus dem Fenster.
»Wir sollten los«, sagt sie schließlich. »Morgen früh müssen wir am Flughafen sein.«