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Lass mich in Ruhe
Lass mich in Ruhe
Nur eine Atombombe konnte die Stadt von dem Moloch befreien. Tommy verließ den Fahrstuhl im zwölften Stock. Die Luft roch abgestanden und das Licht der verstaubten Neonlampen kroch mühsam in die Ecken. Irgendwo hinter den Betonwänden hörte er einen Fernseher. Ein Hund bellte und der Geruch von Essen spähte auf den Flur. Jemand kochte, nicht für Ihn.
Die Schreie einer Frau rissen ihn aus seinen Gedanken. „Lass mich in Ruhe. Ich will das nicht.“ Tommy ahnte woher die Schreie kamen. Er tat es schon wieder. Im Gedanken sah er ihn vor sich. Den speckigen Kerl im schmutzigen T-Shirt mit Schweißflecken unter den Armen, die Hose bis auf die Knöchel herunter gelassen, die abgetragene Boxershort mit einer Beule im Schritt und Flecken von getrocknetem Sperma. Diesmal nicht. Tommy drückte die Klingel mit der Aufschrift „Steuerberater“. Es dauerte eine Weile, dann öffnete ein Mann mit Hochwasserhose die Tür, um seinen dicken Bauch spannte sich eine Gürteltasche, die Füße steckten in Sandalen mit Tennissocken. Er schaute durch eine dicke Brille und schob den fettigen Scheitel zur Seite.
„Was wollen Sie?“, schnaubte der Dicke.
„Jemand hat geschrien. Ich will wissen was los ist.“, sagte Tommy.
„Das geht Sie nichts an.“
„Ich glaube schon, es klang nicht nach einer Steuerrückerstattung.“
„Wir brauchen Ihre Mitarbeit nicht. Verschwinden Sie.“
„Vielleicht sollte ich die Polizei rufen.“
„Tun Sie, was sie nicht lassen können.“, sagte der Dicke, drehte sich weg und machte die Tür zu. Tommy war wieder alleine im Flur. Eine Neonröhre flackerte und strahlte für einen Atemzug auf, um kurz darauf wieder zu erlöschen. Er ging in seine Wohnung. Sie wirkte leerer als sonst, der Papierkorb im Flur quellte über, es roch nach frisch gewaschener Wäsche und durch einen Spalt im Vorhang schien Sonne auf das Laminat. Er ging in die Küche und füllte ein Glas mit Wasser. Durch das Küchenfenster sah er geschäftiges Treiben auf der Kreuzung, Autos verstopften die Straße und eine Bahn schlängelte sich durch den Verkehr, Menschen kamen mit Tüten beladen aus dem Supermarkt und an der Ampel wartete Fußgänger.
Aus dem Flur hörte Tommy etwas, dass sich anhörte als ob Jemand eine Tür abschloss, er schaute durch den Türspion und sah eine junge Frau. Sie trug Jeanshose und Jeansjacke, die Haare zu dünnen Zöpfen geflochten und ihre Haut war dunkelbraun. Sie weinte. Tommy ging ein paar Schritte auf den Flur und lies die Tür offen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Wir hatten nur einen Streit.“, sagte sie und zog die Nase hoch. Er schaute in ihre feuchten Augen, konnte aber keine Angst entdecken, ihr Mund formte ein schwaches Lächeln.
Als er das Gespräch hörte, spiegelte sich das Gesicht des Dicken gerade in der Fahrstuhltür. Er war dabei einem Pickel den Garaus zu machen; mit beiden Zeigefingern quetschte er die Haut am Kinn, bis der Klumpen platzte, und Blut und Eiter gegen das Metall spritzten. Tommy dachte nicht dass er noch in der Nähe war, ihm blieb kurz das Herz stehen, als er um die Ecke bog.
„Ich hab Ihnen doch gesagt, sie sollen sich da raushalten!“, schnaubte der Dicke.
„Ich unterhalte mich nur mit Jemandem“, erwiderte Tommy.
„Unterhalten sie sich mit Anderen“, sagte der Dicke. Seine Augen waren weit geöffnet, sein Körper zitterte, der Scheitel baumelte vor der Brille und Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er wischte sich einen Bluttropfen von Kinn und schaute auf Tommy runter, wie auf eine Fliege, die im nächsten Moment von einer Zeitung zerquetscht wird.
In den Augen konnte Tommy den sadistischen Spaß sehen, den der Dicke früher hatte. Im Sommer stand er wahrscheinlich mit einer Lupe im Garten, richtete die gebündelten Sonnenstrahlen auf vorbeitrippelnde Ameisen und sah ihnen dabei zu, wie sie sich krümmten, schwarz wurden und eine Rauchsäule aus den kleinen Körpern aufstieg.
Tommy überlegte ob er irgendwo einen Gegenstand hatte, den er als Waffe benutzen konnte. Sein Blick fiel auf sein Skateboard in der Ecke. Zu lang. Der Wischeimer daneben. Unbrauchbar. Ein faustgroßer Stein auf der Kommode. Bingo. Tommy streckte die Hand nach dem Stein aus und behielt dabei den Dicken im Blick. Der Dicke wollte gerade losstürmen, als sich die Frau mit ausgestreckten Armen gegen Ihn stemmte, ihre Füße rutschten über den Boden, als sie wieder halt hatte, stemmte sie sich mit voller Kraft gegen den Dicken und stoppte ihn. Er blickte auf sie herab und lies sich weiter von ihr zurückdrücken. Sie schob Ihn bis zur Ecke, wie man einen Kohlewagen vor sich her ins Bergwerk schieben würde, dann drehte er sich um und ging von alleine weiter. Tommy hörte wie sie den Fahrstuhl betraten, die Tür ging zu und die Kabine fuhr nach unten. Tommy war wieder alleine im Flur und starrte auf die Wand, wo eben noch sein Nachbar stand. Irgendwo im Haus hörte er eine Tür knallen.