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Lass mich rein!

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22.01.2005
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Lass mich rein!

Blaulichter. Polizeiwagen. Im Schneetreiben kaum zu sehen.
Seit der Schweizer Grenze nur Schnee.
Jetzt die Straßensperre.
Ein Polizist wedelt mit seiner Lampe in Richtung Ausfahrt.
Auf einem Wagen lese ich das beleuchtete Schild „Vollsperrung“.
Auch noch das. Die Lampe wird ungeduldig geschwenkt.
Der Tag war lang genug gewesen. Der Schweizer Kunde, der sich nicht entscheiden konnte. Marathonsitzung. Unproduktiv. Jetzt ist es schon 20 Uhr.
Ich halte bei dem Wedelmeister an. Fenster runter.
„Weiterfahren!“, harscht er mich an.
„Bis wohin ist denn die A5 gesperrt?“, will ich wissen.
„Bis Karlsruhe!“, raunzt er zurück. „Weiter!“
Ich kurble mein Fenster wieder hoch.
Meine Winterreifen rutschen auf der dicken Schneedecke, die sich in den letzten Minuten gebildet hat.
Oh, ist das kalt. Ich drehe die Heizung hoch.
Wär das schön, schon zu Hause zu sein.
Die meisten Autofahrer vor mir fahren nach der Abfahrt in Richtung Freiburg weiter. Ich nehme die Landstrasse in der anderen Richtung.
Weit vor mir ist noch ein anderer. Zwei rote Punkte.
Hinter mir keiner. Im Rückspiegel nur Dunkelheit.

Von der voll gesperrten Autobahn mit den Tausend Scheinwerfern auf die unbeleuchtete Landstrasse. Da müssen sich die Augen erst dran gewöhnen.
Ich mache die Scheibenwischer schneller. Irgendwie sehe ich nicht mehr viel. Alles grau in grau. Oder besser gesagt weiß in weiß.

Ich gähne.
Mache SWR 3 lauter. Coldplay. Passt gut.
Nur nicht einschlafen.
Mache das Fenster auf. Die Kälte weckt mich wieder auf.
Nachrichten im Radio.
„In ganz Baden-Württemberg herrscht starkes Schneetreiben. Bitte Autofahrer aufpassen. Am besten Autos stehen lassen.“
Einfacher gesagt als getan.
Mein Vordermann ist ins nächste Dorf abgebogen.
Fernlicht. Bringt nichts.
Nebenleuchte. Auch nicht.

Ich tätschele mir die Wangen, nur nicht einnicken.
Ich kneife mir ins Knie. Alles Tricks der Leute, die weit und lange fahren.
Doch die Müdigkeit kommt zurück.
Spiele mein Wachhaltespiel. Die Müdigkeit an sich herankommen lassen. Augen halboffen. Dann aufreißen. Augen halb offen. Dann aufreißen.

Schließlich komme ich wohlbehalten an. Halte, steige aus.
Durch das Küchenfenster sehe ich bis ins Wohnzimmer.
„Leo!“ Mein Sohn sitzt auf der Couch. Natürlich ist die Glotze wieder an. Hat die Rabenmutter ihren Zweijährigen wieder abserviert, um ihre Ruhe zu haben?

„Kuckuck, Leo!“ Die Fensterscheibe beschlägt durch meinen Atem. Hört er mich überhaupt?
„Papa!“ Der Kleine hört mich, dreht den Kopf, lacht, schwingt die Beine von der Couch und läuft mit ausgebreiteten Armen zum Fenster.
„Wo ist denn die Mama?“
„Mama!“ Ein zweites Leuchten geht durch sein Gesicht. Er dreht sich um, sieht sie aber auch nicht.
Ich kratze mir den Kopf.
„Babar!“, erklärt mir mein Sohn und zeigt auf den angeschalteten Fernseher.
„Jaja, Babar“, nicke ich und sehe den Trickfilm mit dem Elefantenkönig über die Mattscheibe flimmern.
Ich gehe zur Eingangstür, nehme den Schlüsselbund, drehe den Schlüssel im Schloss…nichts. Ich drehe von neuem, drücke auf die Klinke, sie ist blockiert.
Ich gehe wieder zum Fenster, an dem lächelnd noch Leo steht.
„Agnes!“, rufe ich. „Agnes, hast du von innen zugesperrt?“
„Was?“, tönt es irgendwo aus der Ferne.
Dann kommen Schritte näher, Agnes huscht rasch winkend am Fenster vorbei, hantiert an der Tür, drückt selbst die Klinke.
„Nein, ich hab nicht abgeschlossen.“
Ich nehme von neuem meinen Schlüssel, führe ihn ein, drehe um, aber die Klinke rührt sich nicht.
„Klappts nicht?“, fragt sie von innen.
„Nein“, murmele ich und beginne an der Klinke zu rütteln. Vielleicht ist sie ja wirklich mechanisch blockiert!
„Mensch, lass mich rein!“, rufe ich.
Ich rüttele von neuem, die Klinke gibt nicht nach.
„Lass mich rein, Agnes!“
Sie schluchzt: „Ich kann dir nicht helfen, Wolfgang.“
Ich meine fast, die Klinke abzureißen, da gibt sie endlich nach.

Ich falle weich, so weich, dass ich Angst habe, Agnes verletzt zu haben.

Dann spüre ich, wie kalt es ist. Der weiche Schnee schmilzt in meinem Gesicht. Der Schnee tut weh und weckt mich gleichzeitig auf.
Meine Arme sind taub, ich fühle meine Beine nicht mehr. Sind sie noch dran? Nur langsam spüre ich ein Kribbeln.
Ich zittere.
Mir ist so kalt, so schrecklich kalt.
Ich stütze meine Arme auf, sie geben nach. Ich versuche es erneut. Sie schmerzen. Es gelingt mir, etwas zu greifen.
Etwas Festes.
Eine Wand.
Ich stütze mich ab.
Ich erkenne die Wagentür.
Ich hieve meine schweren Beine aus dem Wageninneren. Sie versinken im Schnee. Ich krabbele aus dem Tiefschnee, bekomme festen Grund. Beim Aufrichten knicke ich vor Schmerz wieder ein. Meine Beine tragen mich nicht. Ich versuche es noch einmal. Dieses Mal wackele ich, bleib aber stehen. Wie ein alte Vogelscheuche im Schneetreiben.

Schnee, wohin ich auch blicke.
Mein Wagen. Eine Erhebung im Strassengraben.
Die Strasse, eine makellos weiße Bahn. Ohne Anfang, ohne Ende.

Der Wind schiebt noch mehr Schnee vor sich her.
Zwei undeutliche Punkte in der weißen Wand werden größer.
Ein Auto. Ich fuchtele wild mit meinen Armen, dass mich der Fahrer am Straßenrand sieht.

 

Liebe kg-ler,

böse Zungen werden zurecht sagen, dass diese kg eine Fortsetzung (und schlechte Kopie) von "Nicht dahin!" ist.

Sei es drum, vielleicht gefällt es ja doch dem einen oder anderen.

LG
W Urach

 

Hallo Urach,

ich habe Deine andere Geschichte nicht gelesen, deswegen kann ich nicht sagen, ob es nun eine schlechte Kopie ist, oder nicht ;) Diese Geschichte hat mir gut gefallen. Diese unkomplizierte Sprache gefällt mir, lässt sich sehr gut lesen.

Anfangs habe ich mir gedacht, dass ein Unfall passieren müsste, aber dann, die Szene vor dem Haus, das hast Du gut geschildert und ich habe wirklich geglaubt, Dein Prot wäre tatsächlich heil angekommen :shy:

Auf jeden Fall gerne gelesen.


Liebe Grüße,
gori

 

Lieber Gori,

ich freue mich, dass meine Erzählintention rüber gekommen ist. Die andere Geschichte braucht man nicht zu lesen, um "Lass mich rein!" zu verstehen.

Nur habe ich meine Lieblingsgeschichte "Nicht dahin!" gedanklich ein zweites Mal verwurstet, könnte man sagen.

LG
W Urach

 

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